Schwesterglocken

Lars Myttings „Die Glocke im See“ ist großartige, skandinavische Literatur und schickt den Leser auf eine Reise ins norwegische Gudbrandsdal des Jahres 1880. Im abgelegenen, einsamen und den Naturgewalten ausgesetzten Tal träumt eine junge Frau namens Astrid davon, mehr aus ihrem Leben zu machen. Sie ist wissbegierig, rastlos und lechzt nach Bildung – jede Zeitung, die sie in die Hände bekommt, liest sie hingebungsvoll und sie will mehr als die harte körperliche Arbeit und das entbehrungsreiche und in der Regel vorgezeichnete Schicksal, das sie als Frau im stillen Bergtal erwartet. Kinder, Küche, Kirche und Kälte an der Seite eines für sie gewählten Mannes ist nicht das, was sie sich erträumt.

Und doch meint es gerade der junge, ambitionierte Pastor, der vor kurzem neu ins Dorf gekommen ist, gut mit ihr, versorgt sie mit Lesestoff und schätzt ihre Meinung. Vielmehr ist er, der aus der Stadt in die raue Welt der Bergbauern gelangt ist, dankbar für ihre Hilfe und ihre Ratschläge. Denn sie vermittelt und erklärt ihm immer wieder auf ihre einfache, direkte und offene Art und Weise, wie die Menschen im Tal denken und leben – ihre Bräuche und Eigenheiten – und bewahrt ihn damit vor einigen Fehlern und Missverständnissen im Umgang mit seinen Gemeindemitgliedern.

Norwegen ist ein Land der Sagen und Mythen und so ist der christliche Glaube im 19. Jahrhundert in der Abgeschiedenheit des Tals noch tief durchzogen von Aberglauben und anderen Aspekten der Naturreligionen und überlieferten Bräuchen. Und Astrid macht dem Pastor Kai schnell klar: „Gottesfurcht ist gut und schön, (…) aber Hunger und gesunder Menschenverstand werden immer stärker bleiben.“ (Zitat, S. 56).

So prallen durch die neuen Ideen des jungen, progressiven Pastors deutlich spürbar Tradition und Fortschritt aufeinander. Und als er dann auch noch plant, die alte Stabkirche durch einen Neubau zu ersetzen, bringt er das Dorf und das Schicksal gegen sich auf. Astrid findet sich plötzlich im Zwiespalt der Gefühle und zwischen zwei Männern wieder: dem norwegischen Pastor Kai Schweigaard und dem aufstrebenden Architekturstudenten Gerhard Schönauer aus Dresden, der gekommen ist, um die Stabkirche des Dorfes zu dokumentieren, abzubauen und im fernen Deutschland wieder neu zu errichten. Wofür wird Astrid sich entscheiden? Bleibt sie der Heimat treu und sucht die Nähe des Pfarrers oder bricht sie auf in ein neues Leben in Deutschland und folgt Gerhard nach Dresden?
Und wird es ihr gelingen, die Schwesterglocken der alten Kirche – eine Stiftung ihrer Familie und tief verwurzelt in der Familiengeschichte – im Ort zu halten? Denn eine alte Sage besagt, dass die Glocken das Dorf durch ihr Läuten vor Unglück bewahren können.

Wer sich auf den Roman einlässt, kann sehr viel darin entdecken, denn er ist reich an Ideen und Themen. So kann man in den Aktionen des Pastors durchaus den Aufklärungsgedanken erkennen, denn er kämpft gegen das Dunkel und die Macht des Aberglaubens in seiner Gemeinde an. Dass er dabei nicht immer das richtige Fingerspitzengefühl beweist, zeugt von der Schwierigkeit dieses Unterfangens. Der Konflikt zwischen Tradition und Aufbruch ist für mich ein Hauptthema des Romans. Damit verbunden auch die Rolle der Frau und der innere Konflikt, den Astrid mit sich selbst austrägt: in wie weit kann und darf sie als Frau mehr vom Leben erwarten und selbstbestimmt entscheiden, mit wem und wie sie lebt? Kann sie sich den Zugang zu Bildung und Emanzipation erkämpfen?

Zentral war für mich aber auch der Gedanke, wie man mit kulturellem Erbe umgeht. So blutet einem das Herz, wenn man lesen muss, wie die jahrhundertealte Stabkirche zerlegt, abgebaut, aus ihrer angestammten Umgebung herausgerissen und versetzt wird. Und wenn man heute das Glück hat, selbst in Norwegen eines der wenigen verbliebenen Exemplare besichtigen zu können, spürt man, wie sehr diese architektonischen Meisterstücke in der norwegischen Landschaft und gelebten Tradition verwurzelt sind und welcher Zauber von ihnen ausgeht.

Sprachlich hat mich das Buch und vor allem auch die hervorragende Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel begeistert. Mytting nimmt sich Zeit für seine Geschichte, erzählt behutsam und in Ruhe. Man fühlt als Leser die Stille und Abgeschiedenheit im Tal fernab der städtischen Hektik gleichsam auch in der Sprache und dem erzählerischen Aufbau des Romans. Ein Buch der leisen Töne mit großem Tiefgang, starken Gefühlen und herausragenden Figuren, die lange in Erinnerung bleiben.

Buchinformation:
Lars Mytting, Die Glocke im See
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Insel Taschenbuch
ISBN: 978-3458364757

***

Welche weiteren sinnlichen Genüsse passen zu „Die Glocke im See“:

Für den Gaumen:
Eine kulinarische Besonderheit Norwegens und zudem traditionell auch noch aus Gudbrandsdalen stammend ist der braune Karamellkäse (Gudbrandsdalsost), der aus Molke hergestellt wird. Ein Geschmack, der mich unweigerlich immer an meine erste, wunderschöne Reise nach Norwegen erinnern wird.

Für die Ohren:
Mit Norwegen verbinde ich musikalisch vor allem Edvard Grieg und seine berühmtesten Werke – die „Peer Gynt-Suiten“.

Im Kopf hatte ich beim Lesen aber auch häufig – vor allem bei den Stellen, die in der Kirche spielen – das wunderschöne „Abendlied“ von Josef Gabriel Rheinberger („Bleib bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget.“)
Eines der schönsten und bewegendsten sakralen Chorstücke, das ich kenne.

Für weiteren literarischen Genuss:
Aufgrund der rauen, einsamen Bergwelt und thematisch hat mich das Buch immer wieder an Paolo Cognettis wunderbaren Roman „Acht Berge“ erinnert, den ich sehr empfehlen kann und der mit dem renommierten Premio Strega ausgezeichnet wurde. Auch in diesem Roman geht es um den Konflikt zwischen Gehen und Bleiben und die Kraft der Natur:

Paolo Cognetti, Acht Berge
DVA
ISBN: 978-3-421-04778-6

4 Kommentare zu „Schwesterglocken

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