Alte Sorten und neue Perspektiven

Ewald Arenz’ „Alte Sorten“ war für mich ein Zufallsfund und Spontankauf in der örtlichen Buchhandlung und entpuppte sich als wahrer Glücksgriff. Der Titel, die Umschlaggestaltung, all das hat mich sofort angesprochen und ließ mich nach diesem Roman greifen, der mir aus unerfindlichen Gründen bisher nicht aufgefallen war.

Arenz – geboren 1965 in Nürnberg – arbeitet in seiner Geburtsstadt als Lehrer am Gymnasium. Ohne dass je ein Ortsname fällt oder eine konkrete räumliche Einordnung geschieht, würde ich den Roman ebenfalls in seiner fränkischen Heimat in einem Wein- und Obstanbaugebiet verorten.

Sally, ein junges Mädchen – noch keine 18 Jahre alt – läuft durch die hügelige Landschaft und die Weinberge: Gehetzt, wütend, auf der Flucht. Zufällig begegnet sie einer Frau – altersmäßig könnte sie ihre Mutter sein – die bei der Arbeit im Weinberg mit dem Anhänger ihres Traktors in einem Graben hängengeblieben ist. Sally hilft Liss, sich aus der misslichen Lage zu befreien und bekommt dafür ein Quartier für die Nacht. Beide sprechen nicht viel, sind in sich gekehrt, mit sich selbst beschäftigt und Sally ist froh, einmal nicht mit Fragen bombardiert zu werden.

Liss lässt sie in Ruhe und kann doch auf dem Hof, den sie offenbar alleine bewirtschaftet, hin und wieder Sally’s Hilfe gut gebrauchen. Die junge Frau packt immer häufiger mit an. Die frische Luft, die körperliche Arbeit und das Gebrauchtwerden tun ihr gut. Sie lernt ursprüngliche Lebensmittel, selbstgeerntetes Obst, selbst gebackenes Brot und Liss’ selbst geimkerten Honig kennen und schätzen – die einfachen Dinge des Lebens: Der Geschmack einer saftigen Birne frisch vom Baum, der Hahn, der am morgen das Wecken übernimmt.

Und da ist dieser große Hof und das Anwesen, das Sally mehr und mehr rätseln lässt – warum lebt Liss allein dort? Und wem gehört das Fahrrad, das Liss ihr überlässt, um die Umgebung erkunden zu können? Auch Liss scheint Gespenster der Vergangenheit mit sich herumzutragen, über die sie nicht sprechen will. Sie isoliert sich weitestgehend von der Dorfgemeinschaft, lebt zurückgezogen und werkelt von früh bis spät. Ihr Leben besteht aus harter, körperlicher Arbeit im Obstgarten mit den alten Birnensorten, im Weinberg und im Stall, die sie abends müde und erschöpft in den Schlaf sinken lässt.

Zögerlich und zaghaft kommen sich die beiden näher, beginnen sich zu öffnen. Die Gespräche werden intensiver. Sally, die Narben aufweist, welche auf eine Borderline-Störung hindeuten, und nicht mehr weg will von diesem Ort, an dem sie zur Ruhe kommen kann und der ihr besser zu helfen scheint als jede Therapie, beginnt sich mehr und mehr wohlzufühlen.

Zwei verschlossene Außenseiter und Einzelgängerinnen ohne Vertrauen zu anderen, die sich gefunden haben ohne sich zu suchen. Doch natürlich hat Sally Eltern, die nach ihr suchen und der vermeintliche Frieden kann nicht ewig währen…

„So kann man nicht leben. Es ist, als wäre ich unsichtbar. Ich denke, ich rede mit Leuten, und dabei gefrieren die Wörter in der Luft und werden von niemandem gehört.“

(S.189)

„Alte Sorten“ ist ein ruhiges, behutsames und sehr zärtliches Buch. Ein Roman, der einen runterholt, zur Ruhe kommen lässt und dem Leser wieder einmal verdeutlicht, was wirklich wichtig ist im Leben. Arenz arbeitet mit vielen Bildern aus der Natur und hat ein sehr bodenständiges und geerdetes Buch ohne großes Brimborium geschrieben. Die Schilderungen der Natur und der Arbeit auf dem Hof, die Beschreibungen des Imkerns, des Schnapsbrennens und der Weinlese – das ist wunderbar zu lesen. Die Lektüre ist Balsam für die Seele und entschleunigt. Es ist schön mitzuverfolgen, wie sich Sally und Liss öffnen und gegenseitig helfen können – ein Loblied auf die Mitmenschlichkeit und auf Freundschaft über Altersgrenzen hinweg.

Die Sprache ist poetisch und sehr sinnlich. Ein Genuss, wie der Autor Geschmäcker, Gerüche und Klänge beschreibt – in einer solchen Intensität bekommt man das selten zu lesen und er hat mich mit diesem Stil sofort für sich eingenommen. Ein unaufgeregtes und leises Buch, das mit einem sehr gefühlvollen Finale aufwartet.

Oft sind es die unaufdringlichen, stillen Bücher, die dann sehr lange nachklingen. „Alte Sorten“ hat mich begeistert und ich freue mich sehr über diesen wunderbaren Überraschungsfund, der mir da in der Buchhandlung ins Auge gestochen und in die Hände gefallen ist. Ein Buch, das wie geschaffen ist für den Herbst und das von innen wärmt, wenn es draußen grau und kalt ist.

Buchinformation:
Ewald Arenz, Alte Sorten
Dumont
ISBN: 978-3-8321-6530-7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Alte Sorten“:

Für den Gaumen:
Jetzt im Herbst ist genau die richtige Zeit für frische, erntereife Birnen. Und wenn man sich informiert und genauer hinschaut, kann man eventuell beim Bio-Bauern oder Bio-Laden in der Nähe auch mal alte und ausgefallenere Sorten ergattern. Sally ist im Roman fasziniert von der Sortenvielfalt und genießt mit allen Sinnen Raritäten wie die „Petersbirne“, „Andenken an den Kongress“, „Herzogin Elsa“, „Madame Verté“ oder die „Schweizer Wasserbirne“.

Zum Weiterhören:
Bei diesem Buch ganz klar Herbie Hancock’s „Cantaloupe Island“, denn es spielt eine Schlüsselrolle im Roman. Der Titel sagt einem erstmal nichts? Wenn man reinhört, weiß man, dass man es doch kennt. Einer der bekanntesten Jazzstandards mit Funk-Elementen aus dem Jahre 1964 – ein weltberühmter Klassiker.

Zum Weiterlesen:
Bereits beim Titel „Alte Sorten“ musste ich unweigerlich an die Slowfood-Initiative „Arche des Geschmacks“ denken, die sich seit vielen Jahren dafür einsetzt, dass traditionelle, alte und regionale Sorten und Lebensmittel nicht in Vergessenheit geraten und weiter kultiviert werden. Wer mehr über die Motivation und die Idee des Gründers von Slowfood erfahren möchte, dem sei folgendes Buch ans Herz gelegt:

Carlo Petrini, Luis Sepúlveda, Eine Idee von Glück
Oekom
ISBN: 978-3-86581-735-8

13 Kommentare zu „Alte Sorten und neue Perspektiven

  1. Danke für die Vorstellung der „Alten Sorten“.
    Ewald Arenz hat seine Lesegemeinde und mich mit dem „Teezauberer“ und dem „Duft von Schokolade“ und anderen größeren oder kleineren Texten eingenommen.
    Schöne Grüße
    Bernd

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    1. Hallo Bernd! Die „Alten Sorten“ waren wie beschrieben mein erster (zufälliger) Kontakt mit Ewald Arenz und ich war sofort begeistert. Um so mehr freue ich mich über Deine weiterführenden Tips. Dankeschön und herzliche Grüße nach Nürnberg von der Kulturbowle!

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  2. Was für eine wunderbare Besprechung. Ich fühlte mich sofort wiederzurückversetzt, in das gemeinsame Abenteuer von Sally und Liss. Ich habe ebenfalls ein paar Zeilen verfasst, die mir nach dem Lesen deiner Rezension fast schon amateurhaft erscheint. Ohne dich hätte ich nicht gewusst, dass Arenz Franke ist, denn seine Biografie habe ich gar nicht gelesen. Ich bin ebenfalls in Würzburg geboren und deine Schlussfolgerung, dass der Roman gut in Franken spielen könnte, kann ich tatsächlich so unterschreiben.

    Herbstliche Stöbergrüße
    Steffi

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    1. Liebe Steffi! Es freut mich, wenn Dich die „Alten Sorten“ genau so begeistert haben wie mich. Viel Spaß beim Weiterstöbern (ich mache mich gleich mal auf zum Gegenbesuch) und herzliche Grüße von der Kulturbowle an die gebürtige Fränkin

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