Spiegelnde Wirklichkeiten

Deborah Levy hat mit ihrem neuen Roman „Der Mann, der alles sah“ etwas geschafft, das außergewöhnlich ist: Sie wurde für ihr drittes Werk in Folge für den renommierten Booker Prize nominiert. Ein kunstvolles, vielschichtiges und anspruchsvolles Buch, das für aufmerksame und konzentrierte Leser, die sich darauf einlassen, eine besondere Magie entfaltet.

1988 – London, Abbey Road – es kracht. Ein junger Mann, der sich auf dem berühmtesten Zebrastreifen der Welt in Beatles-Manier von seiner Freundin fotografisch verewigen lassen möchte, wird von einem unachtsamen Autofahrer angefahren. Und als ob dies noch nicht genug wäre, eröffnet ihm die Fotografin Jennifer kurz danach, dass sie nicht auf ihn warten wird, wenn er demnächst nach Ostberlin gehen wird, um dort den Kommunismus – sein wissenschaftliches Fachgebiet an der Universität – weiter zu erforschen. Sie macht mit ihm Schluss.

Der Ich-Erzähler Saul macht sich verwirrt und verunsichert auf in die DDR und wird dort von seinem Gastgeber Walter in Empfang genommen. Dieser zeigt ihm Land und Leute und bringt ihn bei seiner Familie unter, erklärt ihm seine Sicht auf den Sozialismus. Saul Adler, der aus einer jüdischen Familie stammt und bereits früh seine Mutter verloren hat, verliebt sich in ihn.

„ „Was Sie auch tun“, sagte er, „wenn Sie Ihren Bericht über unsere Republik verfassen, schreiben Sie nicht, dass alles grau und bröckelig war, mit Ausnahme der farbenfrohen Unterbrechung durch an Gebäuden angebrachte rote Fahnen.“ “

(S.57)

Walter’s jüngere Schwester Luna, für die es bereits an eine Katastrophe grenzt, dass Saul das heiß ersehnte Gastgeschenk in Form einer Dose Ananas für ihren Geburtstagskuchen vergessen hat, ist eine ängstliche, junge Frau, die sich am liebsten aus dem System davonstehlen würde. Sie hat Sehnsüchte und Träume, die sie in der DDR nicht ausleben kann. Und auch mit ihr beginnt Saul eine Affäre, so dass er sich bald in völligem Gefühlschaos und einer komplizierten Dreiecksbeziehung wiederfindet, die keine Zukunft hat, zumal er wieder nach London zurückkehren muss.

Und wie ist er dann auf einmal wieder auf die Abbey Road und ins Krankenbett gekommen? Und was macht seine Ex-Freundin Jennifer an seinem Bett?

Nichts ist, wie es scheint und mehr als einmal hat man bei der Lektüre das Gefühl eines Déjà-vue. Traum, Wahn und Wirklichkeit zerfließen ineinander und es wird zunehmend schwer, Ordnung in die Gedankenwelt des Erzählers zu bringen. Ist all das nur eine Fieber- oder Komafantasie? Delirium oder doch Realität? Zeit und Raum lösen sich auf, verschwimmen und offenbaren unterschiedliche Schichten in der Wahrnehmung. Ein kunstvolles, literarisches Gewebe, das den Leser fordert, aber auch durch Raffinesse beeindruckt – ein kluges, intelligentes und verblüffendes Buch, das immer wieder mit einer Wendung oder Überraschung aufwartet.

Ich mochte, wie Levy atmosphärisch Sauls Zeit in Ostberlin schildert, die Beschreibung der Datsche und das Bild, das die Autorin vom Leben in der DDR vor den Augen des Lesers zum Leben erweckt. Einer Welt, die kurz vor dem Zusammenbruch steht – 1988, die Wende war nicht mehr weit und auch Saul hat Visionen, dass das Ende bereits nah ist.

Beeindruckt hat mich der sehr frisch und nahezu jugendlich anmutende Sound des Romans, mit dem die 1959 geborene Autorin sich sehr direkt und unmittelbar an ihr Lesepublikum wendet. Somit kommt man sofort in einen wunderbaren Lesefluss und fühlt mit den Figuren, die auf der Suche nach sich selbst und ihrer Identität sind. Zudem versteht Levy es gekonnt, mit sprachlichen Bildern zu arbeiten – immer wieder spielen z.B. Fotografien oder Spiegel eine zentrale Rolle, die den vielschichtigen Charakter und die verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung auch sprachlich intensivieren.

Das ist große Literatur über die Macht der Bilder, über das Aufeinandertreffen von Systemen, die Vielfalt und Diversität von zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch über unerfüllte Sehnsüchte und Wünsche. Verwirrend und schön zugleich. Ein Roman wie ein Rausch über die Liebe, die Endphase der DDR, sowie über die Sehnsucht nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben.

Es bleibt abzuwarten, ob Deborah Levy mit dem nächsten Werk erneut für den Booker Prize nominiert wird und ihn dann auch einmal zugesprochen bekommt. Eine interessante, spannende und außergewöhnliche Autorin ist die in Südafrika geborene Britin, die jetzt in London lebt, auf jeden Fall und ich werde ihr Schaffen sicherlich weiter verfolgen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kampa Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Deborah Levy, Der Mann, der alles sah
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Kampa
ISBN: 978 3 311 10028 7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Der Mann, der alles sah“:

Für den Gaumen:
Dosenananas sind jetzt wahrlich nicht der kulinarische Hochgenuss, den ich unbedingt empfehlen will, aber sie spielen im Roman eine zentrale Rolle und stehen unter anderem symbolisch für das Unerreichbare, Exotische und Begehrte aus dem Westen, das in der DDR nicht oder nur schwer zu bekommen war.

Zum Weiterhören:
Luna ist verrückt nach den Beatles, dem Album „Abbey Road“ und vor allem dem Song „Penny Lane“ – sie wünscht sich nichts sehnlicher, als die wahre Penny Lane in Liverpool besuchen zu können. Die Sehnsucht nach Freiheit und der Möglichkeit, reisen zu können, all das und noch viel mehr steckt für Luna in diesem Lied.

Zum Weiterlesen:
Einen Roman, den ich vor kurzem bereits ausführlicher hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe, der sich ebenfalls eindrucksvoll, aber auf ganz andere Art und Weise mit der Thematik des Zerfalls der DDR auseinandersetzt und mich sehr bewegt hat, ist „Machandel“ von Regina Scheer. Als gebürtige Ost-Berlinerin berichtet sie aus eigener Erfahrung und hat somit einen noch direkteren Zugang und Bezug zum Leben in der ehemaligen DDR als Deborah Levy.

Regina Scheer, Machandel
Penguin
ISBN: 978-3-328-10024-9

6 Kommentare zu „Spiegelnde Wirklichkeiten

  1. Dosenananas … ich muss so lachen. Wir waren erst begeistert und dann enttäuscht, dass einem unsere hochgeschätzte Delikatesse im Westen in jedem Supermarkt für wenig Geld hinterhergeschmissen wurde.
    „Machandel“ lese ich gerade, und „Gott wohnt im Wedding“ kommt danach dran, oder erstmal „Alte Sorten“ … Du siehst, ich fahre voll auf deine Empfehlungen ab.😉
    Bei diesem Roman hier bin ich mir nicht sicher, vielleicht meine Skepsis als Ostdeutsche, Angst vor Klischees, wenn eine schreibt, die es gar nicht erlebt hat? Das Konzept ist aber spannend, werde mal in eine Leseprobe schauen.
    Vielen Dank!

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    1. Liebe Anke! Das freut mich riesig, dass ich Dich für die Bücher begeistern kann, die ich hier bespreche bzw. „beschreibe“. Das ist wunderbar, denn genau diesen Wunsch hatte ich, als ich mit dem Bloggen begonnen habe – andere Menschen für Bücher und Kultur begeistern. Insofern machst Du mir mit diesem Feedback mehr Freude, als Du Dir vorstellen kannst. Bezüglich dieses Buchs: Ohne es selbst beurteilen zu können (da ich auf der anderen Seite der Mauer aufgewachsen bin), hatte ich bei diesem Roman – im Vergleich zu „Machandel“ – den Eindruck, dass die Autorin nicht so sehr die 100%ige Authentizität der Beschreibung der DDR als Ziel hatte (hier bleibt Scheer als Ostberlinerin natürlich unübertroffen), sondern vielmehr die kunstvolle, literarische Form und das Spielen mit sprachlichen Bildern und verschiedenen Perspektiven im Fokus hatte. Dir weiterhin viel Spaß beim Lesen der Bücher – und hoffentlich auch meiner „Bowle“. Herzliche Grüße nach Italien! Barbara

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      1. Ja, dein Anliegen trifft bei mir voll ins Schwarze, liebe Barbara. Schön, deinen Blog gefunden zu haben! Saluti und Salute mit ganz viel Bowle! 🥤

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