Unheilvolle Vincinette

Im Februar 1962 verursachte Orkan Vincinette eine große Flutkatastrophe an der deutschen Nordseeküste. Vor allem die Stadt Hamburg wurde schwer getroffen und hatte viele Opfer zu beklagen. Robert Brack hat mit „Dammbruch“ nun einen Thriller verfasst, der zeitlich genau während dieser Sturmflut angesiedelt ist. Der Autor, der bereits zahlreiche Krimis verfasst hat und für frühere Bücher unter anderem mit dem Deutschen-Krimi-Preis ausgezeichnet wurde, hat mit „Dammbruch“ ein düsteres Werk geschaffen, das dem Leser menschliche Abgründe und die zerstörerische Kraft der Naturgewalten auf erschreckende Weise vor Augen führt.

Lou Rinke – Einbrecher und Kleinganove – wurde gerade aus der Haft entlassen. Ein letzter großer Coup soll ihm das nötige Kapital bescheren, um sich dann fernab von Hamburg an einem wärmeren Ort zur Ruhe setzen zu können. Lou, der in der Gefängnisbibliothek Balzac vermisst hatte und jetzt auf der Suche nach einem „partner in crime“ ist, trifft auf den jungen Piet, der noch nicht ganz 18 und noch grün hinter den Ohren zu sein scheint. Doch die Zeit drängt und ihm bleibt keine andere Möglichkeit, als sich notgedrungen mit ihm zusammen zu tun. Während sie ihre Tat vorbereiten, braut sich bereits das bedrohliche Sturmtief über Hamburg zusammen.

Auch Betty, die als Flüchtling nach Hamburg gekommen ist, wo sie jetzt einen älteren, griesgrämigen und schwierigen alten Mann gegen Kost und Logis pflegt und betreut, sieht ihre große Stunde gekommen.

„Betty eilte zur Tür, riss sie auf und verschwand in einem Malstrom aus peitschenden Windböen und wild durcheinander prasselnden Regentropfen. So dicht und brodelnd, dass sie sich fühlte, als wäre sie unter einen Wasserfall geraten oder in der Meeresbrandung versunken.“

(S.78)

Doch plötzlich wirbeln der Orkan und die steigenden Wassermassen das Leben der drei gehörig durcheinander. Die Flut spült sie zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen und der Kampf ums nackte Überleben, gegen die Polizei und gegen die Naturgewalten beginnt.

„Dreckige Wassermassen schleuderten alles durcheinander, was sie finden konnten, Balken, Bohlen, Platten, Straßenschilder, Laternenmasten, zerfetzte Zaunteile, zerrten ganze Mauerstücke mit sich, rissen tiefe Kuhlen in den Erdboden und zermalmten Gartenhäuschen und Wohnbaracken, egal, ob sie aus Holz oder Stein gebaut waren.“

(S.107)

Der Thriller beschreibt wie einige Polizisten, aber eben vor allem die Kleinkriminellen Lou, Piet und Betty aus dem Arbeiterviertel und Rotlichtmilieu die Flutkatastrophe erleben. Er lebt von stimmigen Milieuschilderungen der damaligen Zeit und der Atmosphäre zu Beginn der 60er Jahre, in welcher viele noch die Kriegsfolgen zu verarbeiten hatten. Schauplatz sind die einfachen Kneipen und Bars mit Musikboxen, Prostituierten, Petticoats und ärmlichen Gestalten, die sich im wahrsten Sinne des Wortes versuchen, über Wasser zu halten.

Brack zeigt die menschlichen Abgründe seiner oft eiskalten Charaktere und macht klar, dass Krisen und Katastrophen leider nicht immer nur die besten Seiten der Menschen ans Tageslicht bringen. Im Roman brechen nicht nur die Nordseedämme, sondern auch so manche Dämme der Mitmenschlichkeit gehen in der Sturmflut zugrunde.

Die 240 Seiten lesen sich packend und man spürt die Wucht und die Gewalt des Sturms, der Wassermassen und der großen Naturkatastrophe, die so viel Unheil, Elend und Zerstörung über Hamburg und die Nordseeküste gebracht hat.

Ein Thriller, der zweifelsohne eindrucksvoll geschrieben ist, mich aber aufgrund der überwiegend unsympathischen Figuren und der geschilderten Brutalität weitestgehend auf Distanz gehalten und fröstelnd zurückgelassen hat. Das ist schon sehr düstere, kalte und schwere Kost, die Brack hier den Lesern serviert – jedoch hat er den Schrecken dieser Flutkatastrophe sicherlich realistisch aufs Papier gebracht.

Da kann man nur hoffen, eine solche Katastrophe nicht selbst erleben zu müssen und dankbar sein, das teils verstörende Buch gleichsam im sicheren Hafen, d.h. trocken und warm eingepackt unter der Decke auf der heimischen Couch gelesen zu haben.

Im November und Dezember 2020 stand „Dammbruch“ auch auf der Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur – hier geht es zur Rezension.

© Ellert & Richter Verlag

Buchinformation:
Robert Brack, Dammbruch
Ellert & Richter Verlag
ISBN: 978-3-8319-0775-5

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Dammbruch“:

Zum Weiterschauen:
Auf der Homepage des NDR findet sich eine detaillierte Chronologie der Ereignisse und weiteres Informationsmaterial zur Sturmflut 1962, sowie einiges Fotomaterial, um sich ein Bild von der schrecklichen Katastrophe machen zu können. Wer besser verstehen möchte, warum die Flut solchen Schaden anrichtete und alleine in Hamburg 315 Todesopfer forderte bzw. mehr über das Krisenmanagement des damaligen Polizeisenators und späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt erfahren möchte, hat hier eine gute Anlaufstelle.

Zum Weiterhören:
Musikalisch kommen in Brack’s Roman die für damals typischen Musikboxen, Jukeboxes oder auch „Tonomaten“ vor, die in den Lokalen und Kneipen häufig zu finden waren. Ein Künstler, der zu dieser Zeit in keiner Jukebox fehlen durfte, war Elvis Presley zum Beispiel mit seinem Klassiker „Are you lonesome tonight“.

Zum Weiterlesen:
Ein Roman, der die Geschichte einer anderen großen Katastrophe beschreibt, die zeitlich bereits weiter zurückliegt, ist Robert Harris’ „Pompeji“. Dieser macht auf intelligente und unheimlich fesselnde Weise den Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n.Chr. für den Leser erfahrbar. Obwohl meine Lektüre dieses Buchs schon etliche Jahre zurückliegt, ist es mir nachhaltig in Erinnerung geblieben.

Robert Harris, Pompeji
Aus dem Englischen von Christel Wiemken
Heyne
ISBN: 978-3-453-47013-2

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