Kunstvolles Verwirrspiel

Ein Kriminalfall im Kunstmilieu und eine Detektei, die auf diese Art von Verbrechen spezialisiert ist – seit dem Fall Gurlitt oder dem Raub im Dresdner Grünen Gewölbe war dieses Genre literarisch überfällig. Mit der Kunstdetektei von Schleewitz und dem ersten Fall „Der Turm der blauen Pferde“ hat Bernhard Jaumann diese Nische des Kunst-Krimis für sich entdeckt und einen unterhaltsamen und spannenden Auftakt mit einem Ermittlerteam geschaffen, welches das Zeug dazu hat zu beliebten Serienhelden zu werden.

Im Zentrum des Romans steht Franz Marc’s weltberühmtes Gemälde „Der Turm der blauen Pferde“ aus dem Jahr 1913, das seit 1945 als verschollen gilt, nachdem es 1937 aus der Ausstellung „Entartete Kunst“ entfernt wurde und Hermann Göring es vereinnahmte.

„Köpfe und Kruppen von vier blauen Pferden drängten sich in- und übereinander, als wären sie eins, ein zugleich kraftvolles wie scheues Wesen. Stilisiert und doch lebendig, hart in den Konturen und doch in weichen, wie vor Energie schwingenden Rundungen sich selbst beseelend. Zu einem Turm aus geballtem Leben schichteten sich die Pferde auf, zu einem tiefblauen Leben, das sich selbst genügte und alle anderen Farben an den Rand drängte.“

(S.12/13)

Berchtesgaden Mai 1945 – zwei Bauernjungen entdecken in einem einsamen Eisenbahntunnel jede Menge Kisten, die sie zunächst für ein Munitionsdepot halten. Als die Neugier sie dazu treibt, eine davon zu öffnen, stoßen sie auf etliche Gemälde und eines davon fasziniert den jungen Ludwig so sehr, dass er es unbedingt besitzen will, obwohl es nicht dem nationalsozialistischen Ideal entspricht. Eine lange, dramatische Geschichte voll dunkler und blutiger Geheimnisse beginnt.

Im Jahr 2017: Rupert von Schleewitz betreibt in München gemeinsam mit seinen Kollegen Klara und Max eine kleine Kunstdetektei. Als plötzlich das verschollene Gemälde Franz Marc’s „Der Turm der blauen Pferde“ bei einem Großindustriellen auftaucht, das dieser unter seltsamen Umständen erwerben konnte, grenzt dies an eine Sensation. Um jegliche Zweifel an der Echtheit des Kunstwerks auszuräumen, beauftragt er die Detektei, die Herkunftsgeschichte des Bildes zu klären.

Doch wie lässt sich die zeitliche Lücke zwischen dem Verschwinden während des zweiten Weltkriegs und dem Jahr 2017 schließen? Eine schwierige Spurensuche beginnt, welche die Detektive quer durch Bayern, nach Berlin, sowie vom einfachen Bergdorf nahe Berchtesgaden, über die Münchner Schickeria auch in die zeitgenössische Kunstszene führt.

Jaumann erschafft spannende Charaktere: Da ist Rupert von Schleewitz, Inhaber der Detektei und Frauenheld, der sich während der Ermittlungen von einer potenziellen Zeugin der Gemäldeübergabe den Kopf verdrehen lässt bis er sie aus den Augen verliert. Unterstützt wird er von Klara Ivanovic, der Kunstexpertin des Teams, aufgewachsen als Tochter eines exaltierten Künstlers, der ihre eigenen künstlerischen Ambitionen stets im Keim erstickte, so dass sie Kunstgeschichte studierte und um den sie sich mittlerweile aufgrund seiner fortschreitenden Parkinsonerkrankung verstärkt kümmern muss. Und da ist Max – stark geforderter Vollblutfamilienvater einer blockflötenden und einer pubertierenden Tochter – der für Detailrecherche jeglicher Art sowie Archivbesuche zuständig ist und der obwohl er ihn manchmal woanders hat, doch auch seinen eigenen Kopf durchsetzt. Ein kunterbunt zusammengewürfeltes Team, das gegensätzlicher nicht sein könnte und sich dennoch auch aufgrund der Vielseitigkeit gut ergänzt. Figuren mit Ecken, Kanten und kleinen Geheimnissen, die mit Sicherheit noch nicht auserzählt sind und so definitiv Stoff für weitere Episoden bieten.

Mir gefällt Jaumanns Tonfall, der sich flüssig und spritzig liest und mich auch mit den stellenweise satirischen Seitenhieben auf die Münchner Schickeria und die teils exzentrische Kunstszene köstlich amüsiert hat. Der Plot ist raffiniert und wartet mit einigen unerwarteten Wendungen auf, so dass man als Leser mitfiebern und -rätseln kann. Ein Leckerbissen für Hobbyschatzsucher und Krimifans der unblutigen Sorte, die idealerweise ein Faible für Geschichte, Kunst und Malerei haben und sich literarisch gerne mal wieder in die bayerische Hauptstadt und die nahegelegene Bergwelt begeben möchten.

Dieser Kunstkrimi mit seiner gelungenen Mischung aus Spannung, Lokalkolorit und geschichtlich-künstlerischem Hintergrund hat bei mir auf jeden Fall die Lust auf mehr geweckt und so freue ich mich bereits jetzt darauf, dass im Mai 2021 die Fortsetzung „Caravaggios Schatten“ erscheinen wird.

Eine weitere Besprechung des Kriminalromans findet sich bei Bücheratlas.

Buchinformation:
Bernhard Jaumann, Der Turm der blauen Pferde
Galiani Berlin
ISBN: 978-3-86971-141-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Der Turm der blauen Pferde“:

Für einen nächsten Museumsbesuch:
Bei der Lektüre ist auf jeden Fall das Münchner Lenbachhaus auf meine Wunschliste der Museen gewandert, die ich nach Normalisierung der Corona-Lage gerne besuchen würde. Die große Sammlung mit Werken der Künstler des Blauen Reiters beherbergt unter anderem auch Franz Marc’s „Blaues Pferd I“, welches dem verschollenen „Der Turm der blauen Pferde“ in der farblichen Gestaltung und in der Motivwahl sehr nahesteht.

Zum Weiterschauen:
2014 brachte George Clooney den Film „Monuments Men“ in die Kinos, in welchem er sowohl Regie führte, das Drehbuch schrieb als auch die Hauptrolle selbst übernahm. Basierend auf einer wahren Begebenheit handelt er von einer handverlesenen Gruppe von Kunstschutzsoldaten, die gegen Ende des zweiten Weltkriegs versuchten, Raubkunst sicherzustellen und Kunstschätze für die Nachwelt zu bewahren.

Zum Weiterlesen:
Kennengelernt habe ich Bernhard Jaumann bereits vor vielen Jahren durch seinen außergewöhnlichen und mit dem Glauser-Preis ausgezeichneten Krimi „Saltimbocca“. Ein Band aus seiner fünfbändigen Reihe, welche fünf Sinne und Metropolen in den Mittelpunkt stellt. Sein verblüffendes Verwirrspiel in der ewigen Stadt gespickt mit kulinarischen Leckereien der römischen Küche, das die Grenzen zwischen Fiktion und Realität immer mehr verschwimmen lässt, ließ mir damals das Wasser im Munde zusammenlaufen und das Krimiherz höher schlagen.

Bernhard Jaumann, Saltimbocca
Aufbau Taschenbuch
ISBN: 978-3-7466-3041-0

10 Kommentare zu „Kunstvolles Verwirrspiel

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