Poesiealbumzauber

Pascale Hugues blätterte durch ihr Poesiealbum, in welchem sich 1968 ihre Straßburger Klassenkameradinnen verewigten und die Idee zu ihrem neuen, wunderbaren Buch „Mädchenschule – Porträt einer Frauengeneration“ war geboren. Was ist aus diesen zwölf Mädchen, die damals in Pascale’s Poesiealbum bescheidene, süße und fromme Verse schrieben sowie Blumen- und Glitzerbilder einklebten, geworden?

Anhand der Lebensgeschichten ihrer Schulkameradinnen – geboren in den Jahren 1958 bis 1960 – fächert die französische Journalistin, die seit vielen Jahren als Deutschlandkorrespondentin für das Nachrichtenmagazin Le Point in Berlin arbeitet und auch Kolumnen für den Tagesspiegel schreibt, das Bild einer ganzen Generation auf. Den Krieg kannten sie nur aus Erzählungen, für die Revolution 1968 waren sie selbst noch zu jung und so profitierten sie in hohem Maße von neuen Errungenschaften und Rechten, welche ihre Großmütter und Mütter für sie erkämpft hatten. Sie entwickelten sich vom „braven Mädchen aus dem Poesiealbum“ zu starken und selbstständigen Frauen, die mitten im Leben stehen.

„Wir ritten auf einer steilen Diagonale immer höheren Gipfeln zu. Um uns herum stieg alles an: die Geburtenrate, die Lebenserwartung, das Wirtschaftswachstum, die Industrieproduktion, die Abiturientenzahl, das Einkommen, das Kindergeld, die Renten, der gesetzlich garantierte Mindestlohn, der am ersten Juni 1968 einen Sprung von fünfunddreißig Prozent machte, der Lebensstandard, die Kaufkraft, der Konsumentenverbrauch, die Länge des bezahlten Urlaubs und die unserer Sommerferien, die zehn Wochen dauerten.“

(S.33)

Als Pascale Hugues ein Klassentreffen organisiert und die meisten ihrer Klassenkameradinnen zum ersten Mal seit der Schulzeit wieder sieht, um ihr literarisches Projekt in die Tat umzusetzen, herrscht zunächst Skepsis: Werden sie sich wieder erkennen? Was hat man sich nach all der Zeit zu sagen? Wird es mehr sein als das übliche „mein Haus, mein Auto, mein Mann, meine Kinder…“ oder das gemeinsame Schwelgen in Streichen und Anekdoten aus der Schulzeit? Und sind ihre vermeintlich alltäglichen Lebensläufe es wirklich wert und substanziell genug, um in einem Buch erzählt zu werden?

„Verändert man sich während eines Lebens? Es scheint mir, es gibt eine unwandelbare Essenz, einen inneren Wesenskern, dem weder die verflossenen Jahre noch die unterwegs angesammelten Erfahrungen etwas anhaben können.“

(S.47)

Schnell stellt sich heraus, dass es hochspannend ist, sich die Lebensgeschichten der Frauen anzuhören und aufzuschreiben – und für den Leser, diese zu verfolgen. Die Frauen öffnen sich gegenüber der Autorin und sie merkt, dass viele Eigenschaften und Anlagen, die bereits in der Kindheit vorhanden waren, sich wie ein roter Faden durch ihre Lebensläufe ziehen. Manches überrascht, manches nicht und doch zeichnen diese Erzählungen der Frauen über ihre Kindheit, schulische Ausbildung, Berufswahl, Liebesgeschichten und Eheschließungen, Mutterschaft und das Jonglieren zwischen Familie und Beruf ein umfassendes Bild einer ganzen Generation.

„Wir sind Zeugen der wiederkehrenden Moden und Epochen. Amüsiert beobachten wir, wie all diese Gesten aus unserer Kindheit wie ein Bumerang zurückkehren. Ein eigentümlicher Eindruck von Déjà-vu. Recycling, Kompostierung, eingekochtes Obst und hausgemachte Marmelade, Tausch, Do-it-yourself, die Kunst des Umgangs mit Resten, Servietten und Taschentücher aus Stoff, waschbare Windeln und weißer Essig zum Putzen des Waschbeckens. Sogar das Stricken ist zurück. Unsere Mütter und Großmütter waren Pionierinnen, ohne es zu wissen.“

(S.287/288)

Doch das Buch ist noch so viel mehr als lediglich eine Geschichte der Frau seit den 60er oder 70er Jahren: es erzählt auch die wechselvolle Entwicklung des Elsass – das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland. So durfte ich zum Beispiel lernen, dass ein Poesiealbum als deutsches Kulturgut galt und in Frankreich eher verpönt war – ein Geschenk der deutschen Großmutter in Erinnerung ihrer Wurzeln an die kleine Pascale, die sich damals der Tragweite dieser Geste noch gar nicht bewusst war.

Man erfährt aber auch vieles über das Schicksal der Gastarbeiter, die fernab ihrer Heimat im Elsass ein neues Leben beginnen mussten. Es ist ein Buch über Armut und teils fehlende Chancengleichheit – ein Buch über herausragende Pädagogen und prägende Lehrerpersönlichkeiten, die rückläufige Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft, über Klassenunterschiede, über schwierige Familienverhältnisse – Scheidung der Eltern, Alkoholismus, Depression.

All das bringt die Autorin in ihrem Buch über zwölf Frauenleben, die voller Menschlichkeit, Respekt und Herzenswärme erzählt sind, auf gerade einmal 300 Seiten unter. Ein wunderschönes und kluges Stück Literatur, das mich mitten ins Herz getroffen hat und von dem ich glaube, dass viele sich darin – unabhängig von Alter oder Herkunft – mit gewissen Aspekten identifizieren oder ihre Omas, Mamas, Tanten oder gar sich selbst wiederfinden werden.

Pascale Hugues hat ein großartiges, faszinierendes und warmherziges Buch geschrieben, das zeigt, dass in jedem Menschen eine spannende Geschichte steckt, die es sich zu erzählen lohnt und wir alle Kinder unserer jeweiligen Zeit sind. Meisterhaft verknüpft sie die besondere deutsch-französische Situation des Elsass damit, wie sich die Rolle und das Bild der Frau in ihrer eigenen Generation und der ihrer Mutter gewandelt hat. All das ist so mitreißend erzählt und wunderbar mit viel Liebe zum Detail beschrieben, dass man dieses Buch einfach lieben muss. Für mich ganz klar eines der Leseglanzlichter in diesem Bücherjahr 2021!

Eine weitere Besprechung gibt es auf Deutschlandfunk Kultur.

Buchinformation:
Pascale Hugues, Mädchenschule – Porträt einer Frauengeneration
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Rowohlt
ISBN: 978-3-498-00271-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Pascal Hugues’ „Mädchenschule“:

Für den Gaumen:
Die Gerichte, an welche wir uns aus unserer Kindheit erinnern, sind oft die guten, einfachen Dinge – hier im Buch ist es zum Beispiel der französische Quatre-Quarts-Kuchen. Der Name kommt daher, dass die vier Zutaten jeweils das selbe Gewicht haben: Eier (mit Schale), Mehl, Zucker und Butter. Für Pascale’s Freundin Françoise’s Geburtstag wurde von ihrer Mutter stets ein solcher gebacken „mit elfenbeinfarbener Kirschglasur und Kerzen darauf“ (S.74).

Zum Weiterstöbern:
Was spricht gegen ein bisschen Nostalgie? Mich inspirierte der Roman, mein eigenes Poesiealbum wieder einmal zur Hand zu nehmen und darin zu blättern. Schön, wie man sich dann wieder an Freundinnen und Freunde, Wegbegleiter und Menschen erinnert, die einem etwas bedeutet haben.

Zum Weiterlesen (I):
Pascale Hugues hat mit ihrem ersten Buch „Marthe und Mathilde“ 2008 bereits ihren beiden Großmüttern ein literarisches Denkmal gesetzt. Auch hier geht es um die besondere Situation im Elsass und so ist es nicht verwunderlich, dass der Untertitel „Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland“ lautet. Nach meiner Lektüre von „Mädchenschule“ ist „Marthe und Mathilde“, das ich noch nicht kenne, gleich auf meine gedankliche Leseliste gewandert.

Pascale Hugues, Marthe und Mathilde
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-62415-5

Zum Weiterlesen (II):
Auch im November letzten Jahres war es ein Buch aus Frankreich, das mich mit seiner Herzenswärme im Sturm erobert hat: Jacky Durand’s liebenswürdiger Roman „Die Rezepte meines Vaters“, das ich damals auf der Kulturbowle vorgestellt habe.

Jacky Durand, Die Rezepte meines Vaters
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
Kindler
ISBN: 978-3-463-00008-4

5 Kommentare zu „Poesiealbumzauber

    1. Liebe Sandra! Dankeschön. Ich bin schon sehr gespannt auf Deine Meinung zum Buch. Wie man unschwer erkennen kann, hat es mich absolut begeistert. Und ich denke, Du kannst Dich wirklich auf eine interessante und schöne Lektüre freuen. Herzliche Sonntagsgrüße, Barbara

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