Herzbowle – 84, Charing Cross Road

Heute möchte ich den zweiten Beitrag meiner Herzbowle mit Euch teilen. Es geht also wieder um ein ganz besonderes Herzensbuch in meiner Lesebiografie:
Und auch in diesem Fall war das erneute Lesen ein wahrer Genuss – Seelenbalsam der besten Sorte.

Entdeckt und zum ersten Mal gelesen habe ich Helene Hanff’s „84, Charing Cross Road“ – ihren Briefwechsel mit dem Londoner Antiquar Frank Doel und seinen BuchhändlerkollegInnen aus den Jahren 1949 bis 1969 – im Februar 2004.
Da war gerade eine Taschenbuchausgabe neu erschienen und lachte mich in der Bahnhofsbuchhandlung an, bevor ich mich nach einem schönen Abend mit Bekannten allein auf die nächtliche Zugfahrt nach Hause machte. Bis ich in Landshut spät nachts aus dem Zug stieg, hatte ich das Buch in einem Rutsch gelesen und es hatte mein Herz im Sturm erobert.

Helene Hanff – geboren 1917 in Philadelphia – war Theater- und Drehbuchautorin und lebte während der Nachkriegszeit in New York in einfachen Verhältnissen. Bücher waren ihre große Leidenschaft, doch die schlichten, amerikanischen Ausgaben auf minderwertigem Papier sagten ihr meist nicht zu und schön aufgemachte, handwerklich gut gestaltete Bücher waren schwer zu bekommen. Als sie daher 1949 in einer Zeitungsannonce auf ein Londoner Antiquariat in der Charing Cross Road aufmerksam wurde, begann einer der schönsten Briefverkehre, die ihren Weg in die Literatur gefunden haben.

Was mit einer einfachen Anfrage und Buchbestellungen einer Kundin an ein Antiquariat beginnt, entwickelt sich über 20 Jahre zu einem charmanten und liebevollen Austausch zwischen Freunden – zwischen der leidenschaftlichen und selbstbewussten Helene, die Sätze so präzise, scharf und geschliffen wie Samuraischwerter zu formulieren versteht und dem schüchternen, zurückhaltenden und ruhigen Buchhändler Frank Doel, der von London aus stets versucht, ihre teils ausgefallenen Wünsche im Bezug auf Buchraritäten zu erfüllen.

„Alles, was er mochte, mag ich auch, außer es handelt sich um Romane. Ich kann mich nicht für Dinge interessieren, die Leuten, die nie gelebt haben, nicht zugestoßen sind.“

(S.73)

So reisen über 20 Jahre hinweg viele Briefe und Pakete über den Atlantik hin und zurück und Menschen, die sich nie gesehen haben, lernen sich immer besser kennen. Man teilt neben der Begeisterung für schöne und gute Bücher auch Alltagssorgen, gute und schlechte Nachrichten. Schnell entsteht der Wunsch, sich einmal im Laden in London persönlich kennenzulernen, doch irgendwas kommt immer dazwischen…

„Wenn das bis Juni anhält, gehe ich vielleicht nach England und werde selbst in meinem Buchladen herumstöbern. Wenn ich mich traue… ich schreibe denen aus der sicheren Entfernung von 5000 Kilometer die unverschämtesten Briefe. Wahrscheinlich werde ich eines Tages dort hineinmarschieren und wieder hinausgehen, ohne ihnen gesagt zu haben, wer ich bin.“

(S.70)

Zwischen all den Buchbestellungen blitzt in der Korrespondenz auch immer das zeitliche Geschehen und die damaligen Lebensumstände im Alltag auf: die Mangelwirtschaft nach dem Krieg, die ärmlichen Umstände und die Schwierigkeiten, gute oder besondere Lebensmittel aufzutreiben. Es geht zum Beispiel aber auch um die Krönung Elizabeth II. – das 70-jährige Thronjubiläum, das gerade vor kurzem groß gefeiert wurde, haben wir vermutlich alle noch im Kopf.

„Habe ich Ihnen erzählt, dass er mir letztes Frühjahr sagte, ich müsse alle meine Zähne überkronen oder ziehen lassen? Ich entschied mich für die Kronen, da ich mich an Zähne gewöhnt habe. Aber die Kosten sind einfach astronomisch. Deshalb wird Elisabeth den Thron ohne mich besteigen müssen. Zähne sind das Einzige, was ich in den nächsten Jahren gekrönt sehen werde. Ich gedenke NICHT, mit dem Bücherkaufen aufzuhören (…)“

(S.88)

Das Buch lebt von der unfassbar pointierten, spitzzüngigen und unglaublich amüsanten Art Hanff’s zu schreiben. Man verfällt schon nach wenigen Zeilen rettungslos dem Witz und der frechen Schreibe dieser Frau mit dem goldenen Herzen, der auch Frank Doel zweifelsohne jede Schnoddrigkeit und jedes sarkastisch-zynische „über die Stränge schlagen“ stets verziehen hat.

Es gibt nur wenige Texte, die auf ähnliche Weise die Spezies BücherliebhaberIn so liebevoll beleuchten und zum Thema machen, wie dieser Briefwechsel, der geradezu strotzt vor Huldigungen und Zuneigung zum Medium Buch. Helene Hanff ist Büchernärrin reinster Ausprägung und findet stets die richtigen und treffenden Worte und Formulierungen, ihrer Bücherliebe Ausdruck zu verleihen.

„Nicht weil es eine Erstausgabe ist – ich habe niemals zuvor ein so schönes Buch gesehen. Irgendwie fühle ich mich schuldig, es zu besitzen. Das schimmernde Leder, die Goldprägung, die schöne Schrifttype, all das gehört in die kieferngetäfelte Bibliothek eines englischen Landhauses. Gelesen werden muss es bei Kaminfeuer in einem Ledersessel – nicht auf einer Secondhand-Couch eines Einzimmerlochs in einem heruntergekommenen Sandsteinhaus.“

(S.32/33)

Da geht es nicht nur um den Zauber von Erstausgaben und edle, schön gestaltete Bücher, sondern auch darum, welches Messer am besten dazu geeignet ist, die Buchseiten aufzuschneiden oder ob es legitim ist, Bücher wegzuwerfen. Fragen und Themen, die bibliophile LeserInnen auch heute in vielem sehr gut nachvollziehen können. Beim Lesen scheint man eine Seelenverwandte gefunden zu haben.

Dieses zauberhafte Büchlein ist der eindrucksvolle Beweis, wie Bücher Brücken schlagen und Menschen über Ozeane hinweg verbinden können. Die geteilte Liebe zu Büchern kann als Gemeinsamkeit Grenzen (und Jahrzehnte) überwinden: eine wunderschöne Erkenntnis. Getragen wird das Buch jedoch nicht nur durch die Liebe zu Büchern, sondern auch durch gelebte Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit. Die menschliche Größe und Großzügigkeit der Autorin und ihrer BriefpartnerInnen ist berührend und beglückend sowie ein lebendiger, schriftlicher Beweis für das Gute im Menschen.

Schön, dass dieser Briefwechsel 1970 von Helene Hanff (1917-1997) veröffentlicht wurde und als Kultbuch zunächst in England und Amerika zum größten Erfolg ihrer Karriere wurde. Und schön, dass mir dieses bezaubernde Werk 2004 eher zufällig in die Hände gefallen ist.

Seit dieser Nacht im Zug hat das Buch nicht nur für immer einen Platz in meinem Herzen, sondern auch einen Ehrenplatz in meinem Buchregal. Eines der Bücher, das bleibt und bleiben wird – und schon damals habe ich mir in jugendlichem Überschwang dazu notiert: „wunderwunderschön“.

Meine Begeisterung für das Buch teilen unter anderem in schönen Besprechungen auch Birgit Böllinger und Bücherkaffee.

Wer meine Herzbowle noch nicht kennt oder neu auf meine Kulturbowle gestoßen ist: hier geht’s zur ersten Folge mit Astrid Lindgren’s sommerlichem Schärenroman „Ferien auf Saltkrokan“.

Buchinformation:
Helene Hanff, 84, Charing Cross Road
Aus dem Amerikanischen von Rainer Moritz
btb
ISBN: 3-442-73129-1

Meine Ausgabe ist – wie beschrieben – schon etwas älter, aber aktuell ist das Buch in einer Ausgabe des Atlantik Verlags erhältlich:

Helene Hanff, 84, Charing Cross Road
Aus dem Amerikanischen von Rainer Moritz
Atlantik Verlag
ISBN: 978-3455650747

Herzbowle

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Helene Hanff’s „84, Charing Cross Road“:

Für den Gaumen:
Helene Hanff lässt sich per Brief von einer Mitarbeiterin des Londoner Antiquariat’s das Rezept für Yorkshire Pudding erklären:

„Ich weiß nicht recht, wie ich es jemandem beschreiben soll, der das nie gesehen hat, aber ein guter Yorkshire-Pudding schwillt mächtig an und wird braun und knusprig, und wenn man hineinschneidet, sieht man, dass er innen hohl ist.“

(S.38/39)

Ein Rezept zum Nachbacken hierzu gibt es auch auf Sandra’s Blog adecentcupoftea.

Zum Weiterschauen:
Es gibt eine Verfilmung von „84, Charing Cross Road“ aus dem Jahr 1987 mit Ann Bancroft und Anthony Hopkins in den Hauptrollen. Der Film ist mir bisher noch nie in den Fernsehprogrammen aufgefallen, sonst hätte ich ihn vielleicht schon mal angesehen. Wobei er bei mir – wie meist bei Literaturverfilmungen – vermutlich einen schweren Stand hätte, da ich mir nur schwer vorstellen kann, wie der Zauber dieses Briefwechsels sich filmisch umsetzen lässt.

Zum Weiterlesen:
Die weiteren Bücher von Helene Hanff kenne ich noch nicht, aber aus gegebenem Anlass sind jetzt auch mal „Die Herzogin der Bloomsbury Street“ und „Briefe aus New York“ auf meinen Wunschzettel gewandert. Vielleicht warten mit diesen beiden ja noch weitere Herzensbücher auf mich.

Helene Hanff, Die Herzogin der Bloomsbury Street
Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel
Atlantik
ISBN: 978-3455600223

Helene Hanff, Briefe aus New York
Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel
Atlantik
ISBN: 978-3455005653

10 Kommentare zu „Herzbowle – 84, Charing Cross Road

  1. Sehr nett, das erste Zitat über Romane. Welche Art von Büchern suchte sie denn im Antiquariat?
    Das klingt nach einem sehr originellen Zeitdokument, zumal kein Roman über Leute, die nicht gelebt haben, sondern ein echter Briefwechsel von Menschen, die sich etwas zu sagen hatten.

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    1. Ihre Wünsche waren durchaus speziell – mir war vieles bzw. eigentlich das allermeiste nicht bekannt oder geläufig, z.B. eine „Oxford Gedicht-Anthologie“ oder „Sam Pepy’s Tagebücher“, Essays von Leigh Hunt, Walton’s „Der vollkommene Angler“ usw. – und sie mochte „Dichter, die Liebe machen können, ohne zu sabbern“ (S.19) 😉 D.h. sie wusste also sehr genau, was sie wollte und der gute Antiquar hatte mit ihren Wünschen einige Herausforderungen zu meistern. Buona notte und morgen einen schönen Sonntag! Viele Grüße, Barbara

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  2. Liebe Barbara,
    was für eine schöne Idee, herzhafte Bücher nochmal zu lesen und vorzustellen.
    Das erste Zitat ist reizvoll, wie die Kommentatorin schreibt. Berührend finde ich auch die weiteren Zitate zur Krönung sowie zur Buchausstattung.
    Bibliophile und sommerliche Grüße
    Bernd

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    1. Dankeschön, Bernd.
      Ja, es ist ein schöner Anlass, diese Herzensbücher, die beim Lesen einfach gut tun oder einem besonders viel bedeuten, nochmal in die Hand zu nehmen. Manchmal liegt das Gute ja so nah bzw. steht schon seit langem im Bücherregal. Herzliche Sommergrüße nach Nürnberg! Barbara

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