Familienangelegenheiten

Hochzeiten können – wie große Familienfeiern im Allgemeinen – eine aufregende und nervenaufreibende Sache sein. Vor allem, wenn in der Familie so manches Geheimnis schon seit Jahren schlummert. Und wenn dann noch PsychotherapeutInnen im Spiel sind, wird es richtig interessant. Jane Campbell hat in ihrem Debütroman „Bei aller Liebe“ ein solches Familien- und Beziehungsgeflecht sehr fein herausgearbeitet.

Der englische Originaltitel lautet „Interpretations of love“ und das trifft es in meinen Augen gut, denn Campbell erzählt, wie Menschen ihre Liebe ausdrücken und leben bzw. was Menschen aus Liebe tun.

Die Ausgangssituation ist so unübersichtlich wie pikant:
Agnes’ Tochter möchte heiraten und auf der Gästeliste steht eine nicht unerhebliche Anzahl von TherapeutInnen, so dass sie das ungute Gefühl beschleicht, dieser Tag könnte zum Katalysator für bislang unaufgearbeitete Familiengeheimnisse werden.

Agnes hat als Kind ihre Eltern durch einen Unfall verloren und wuchs bei ihrem Onkel Malcolm auf, der seit damals nicht den Mut findet, ihr zu erzählen, wessen Kind sie wirklich ist. Dem sonst so sprachgewandten Professor fehlten hierfür nicht nur die Worte, sondern vor allem die Courage.

„Ich spreche als der Bote, der Beobachter, der Souffleur, und obwohl ich diese alte Gabe von mir inzwischen mehr oder weniger in den Staub getreten habe, kann ich doch immer noch einen Satz bilden, ein Verb finden und jenes eine schillernde Adjektiv, das eine trübe Matschpfütze in Gold verwandelt. Also los.“

(S.13)

Und zudem steht auch Joseph auf der Gästeliste, der während einer Therapie, die Agnes vor Jahren bei ihm durchlaufen hatte, gegen jede Vernunft und Konvention Gefühle für sie entwickelt hatte. Wie wird das Wiedersehen der beiden verlaufen?

Die Kapitel werden jeweils aus der individuellen Perspektive der einzelnen Figuren erzählt, d.h. aus Sicht des Onkels von Agnes Professor Malcolm Miller, aus Sicht ihres ehemaligen Therapeuten Dr. Joseph Conrad Bradshaw und aus Agnes’ Sicht. So erhält man drei differenzierte und sehr persönliche Sichten auf die zwischenmenschliche Gemengelage.

Bei der Lektüre macht Campbell klar, dass auch erfahrene PsychotherapeutInnen bei eigenen Problemen letztlich nur Menschen sind und es schwerfällt, das fachliche Wissen auf die persönliche Situation anzuwenden. So steht man sich wider besseren Wissens dann doch selbst im Weg.

Die Autorin beschreibt feinfühlig und präzise Emotionen und Beweggründe, ergründet – gleichsam als Analytikerin – die psychologischen Ursachen für die Verhaltensweisen ihrer Figuren.

„Väter und Töchter. Eine tiefsitzende Leidenschaft, wie es sie kein zweites Mal gibt.“

(S.166)

In „Bei aller Liebe“ geht es um Geheimnisse, die lange aus unterschiedlichen Motiven bewahrt wurden: Um andere Menschen zu schützen, um die eigene Position nicht zu schwächen, um Fehler nicht eingestehen zu müssen, um das Andenken an Tote nicht zu stören…
Doch wann ist der richtige Zeitpunkt, um lang gehütete Geheimnisse endlich preiszugeben oder sollte man diese doch weiter bewahren?

„Wenn alles vom Kopf auf die Füße gestellt wird, muss man die Vergangenheit neu schreiben.“

(S.189)

Jane Campbell ist Jahrgang 1942, d.h. 82 Jahre alt und hat mit „Bei aller Liebe“ jetzt tatsächlich ihren Debütroman vorgelegt. Sie kam spät zum Schreiben, arbeitete zuvor als Psychoanalytikerin in Oxford, bevor sie vergangenes Jahr mit ihrem ersten Buch, dem Geschichtsband „Kleine Kratzer“ einen großen Erfolg landete.

Kein Wunder also, dass Campbell sich als ehemalige Psychoanalytikerin intensiv mit dem Seelenleben und der Gefühlswelt ihrer Charaktere auseinandersetzt. Sie leuchtet gekonnt und mit feiner Sprache zwischenmenschliche Beziehungen aus, lässt tief in die Köpfe und Seelen ihrer Figuren blicken – sehr genau beobachtet formuliert sie all das sehr ehrlich, sehr authentisch und nicht ohne eine gehörige Prise Selbstironie.

Sie schreibt in „Bei aller Liebe“ über ein soziales Milieu, das ihr selbst vertraut ist – im Zentrum stehen PsychoanalytikerInnen, Wissenschaftler und Oxford-Akademiker, d.h. gehobenes britisches Bildungsbürgertum. Der Roman ist für sie ein Heimspiel. Sie hatte Zeit, sich und die Menschen in ihrem Umfeld genau zu studieren – vermutlich macht dies „Bei aller Liebe“ so überzeugend. Auch wenn sie im Nachwort betont, dass die Charaktere „allesamt fiktiv“ (S. 221) sind.

„Und hier halte ich inne, um mir im Geist eine Notiz zu machen: Die Wahrheit ist, dass ich einen Ort brauche, wo ich mich gefahrlos traurig fühlen kann.“

(S.201)

Auf gerade mal ca. 220 Seiten steckt so viel drin:
Es geht um späte Einsichten und enttäuschtes Vertrauen, um Verletzungen, um Tod, Trauer und – um beim englischen Originaltitel zu bleiben: um Interpretationen der Liebe.

Interessant auch die Wahl das zauberhaften Titelbildes: Dieser kleine Igel (ganz wunderbar gestaltet von Elisabeth Moch), der sich schützend vor der Außenwelt in sich selbst zusammengerollt hat. Steht er vielleicht sinnbildlich auch für die Neigung der Menschen, sich in schwierigen Situation manchmal „einzuigeln“ und vermeintlich den einfacheren Weg zu gehen, statt sich zu öffnen und die Wahrheit auszusprechen?

Campbell hat ein kluges und einfühlsames Buch geschrieben. „Bei aller Liebe“ ist ein leiser, unaufdringlicher Text, der ohne Knalleffekte doch Unerhörtes erzählt.

Schön, dass die Autorin jenseits der 80 ihre literarische Stimme gefunden hat und die Leserschaft nun durch ihre gefühlvollen, lebensweisen Texte an ihren Erfahrungen teilhaben lässt. Wunderbar zu lesen – eine Bereicherung!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kjona Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Jane Campbell, Bei aller Liebe
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Kjona
ISBN: 978-3-910372-31-3

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Jane Campbells „Bei aller Liebe“:

Für den Gaumen (I):
Heute bleiben wir mal bei Kleinigkeiten für Zwischendurch – vielleicht auch Seelen- oder Nervenfutter für Gespräche, die nicht leicht fallen:

„Natürlich hatte ich auch Sherry da, und ich hoffte sehr, zu einem Gläschen davon und ein paar von meinen Lieblingskäsecrackern würde Agnes nicht Nein sagen.“

(S.153)

Für den Gaumen (II):
Gibt es etwas Britischeres als „Gurkensandwiches“ (S.170)?
Ganz traditionell werden diese im Roman „auf einer Etagere angerichtet“ (S.170) und zum Tee gereicht.

Zum Weiterlesen:
Campbells Figuren entstammen einer Gesellschaftsschicht, die ihren Shakespeare kennt und studiert hat. Kein Wunder, dass einem Professor Malcolm Miller in gewissen Situationen Shakespeare-Zitate durch den Kopf schießen, zum Beispiel aus dem großen „König Lear“:

„Eine Elster flatterte in den Bäumen des Friedhofs herum, während ich mich an Lears Traum, am Ende, vom Leben mit Cordelia erinnerte: ‚So woll’n wir leben, beten und singen, Märchen uns erzählen, und über goldne Schmetterlinge lachen.‘ “

(aus Jane Campbell „Bei aller Liebe“, S.166)

William Shakespeare, König Lear
Übersetzung von Wolf Heinrich Graf Baudissin
Reclam
ISBN: 978-3-15-000013-7

5 Kommentare zu „Familienangelegenheiten

    1. Ja, ich kannte die Autorin bisher auch nicht (zumal Erzählungen und Kurzgeschichten bei mir meist zu „kurz kommen“ und nicht so im Fokus stehen), aber diesen klugen Roman habe ich jetzt wirklich gerne und sehr schnell bzw. flüssig gelesen. Weiterhin viel Freude bei der Lektüre und herzliche Grüße!

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      1. Danke, für die kleine Rezension.

        Mindestens jeder zweite Roman heutzutage setzt sich mit Familiengeheimnissen auseinander und die besseren Texte bemühen dann auch noch die Psychoanalyse, wie Laien sie verstehen. Gibt es denn kein anderes interessantes Thema?

        Der einzige, der aus unserer Sicht dieses Thema so lesenswert wie ungewöhnlich aufgearbeitet hat, ist Karl Ove Knausgård in ‚The Wolves of Eternity‚.

        Grüße von der sonnigen Küste
        The Fab Four of Cley
        🙂 🙂 🙂 🙂

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      2. Gern geschehen. Ich habe den Roman aufgrund seiner Sichtweise durchaus als erfrischend anders empfunden und gerne gelesen. Knausgårds Buch habe ich nicht gelesen bzw. kenne ich nicht, aber ich würde Jane Campbell angesichts ihrer Ausbildung bzw. ihres fachlichen Hintergrunds auch nicht als Laiin bezeichnen. Herzliche Grüße an die sonnige Küste!

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