Magisches Marionettentheater

Thomas Hettche ist mit seinem neuen Roman „Herzfaden“ für mich ein heißer Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2020. Auf der Shortlist steht er verdientermaßen schon. Er erzählt in einem liebevollen, zauberhaften Roman die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und derer Gründerfamilie und entführt in die magischen Welten des berühmten Marionettentheaters.

Eine Zwölfjährige – vermeintlich dem Alter für ein Marionettenspiel schon entwachsen – gerät durch Zufall und Neugier nach einer Aufführung auf den Dachboden der Augsburger Puppenkiste und trifft dort auf alte Bekannte, die lebendig werden: die Prinzessin Li Si, den kleinen Prinzen, Urmel… und auf Hatü (Hannelore Marschall-Oehmichen), die gemeinsam mit ihrem Vater das berühmte Marionettentheater gründete und zum Erfolg führte.

Und so erzählt der Roman die Geschichte von Hatü und ihrem Vater Walter Oehmichen, dem Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, der als Soldat im zweiten Weltkrieg die tröstende Wirkung der Marionetten entdeckt. Dieser schnitzt daraufhin die ersten Puppen für den Puppenschrein – den Vorläufer der heutigen Puppenkiste – welcher 1944 bei einem Bombenangriff verbrennt.

„Und doch waren sie lebendig. Und meine Kameraden, alles harte Kerle, die grauenvolle Dinge erlebt hatten, wurden plötzlich wieder zu Kindern.“

(S.43)

Hatü und ihre Schwester Ulla wachsen in einem harmonischen und liebevollen Elternhaus auf, das sie bereits früh mit der Welt des Theaters und der Kunst vertraut macht. Beide Eltern sind Schauspieler und die Kinder lernen früh, dass künstlerische Kreativität Kraft geben und Trost spenden kann. Vor allem als der Vater als Soldat in den zweiten Weltkrieg ziehen muss und auch später als er mit der Augsburger Puppenkiste einen selbstständigen Neustart nach dem Krieg wagt. So lernt der Leser nach und nach die Märchenfiguren, den kleinen Prinzen, Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer kennen und erfährt, wie die Augsburger Puppenkiste zu dem Markenzeichen wurde, das es heute ist: Eine Erfolgsgeschichte im Nachkriegsdeutschland und eine Parabel, wie aus etwas Kleinem etwas Großes werden kann, wenn man mit Herzblut und Liebe bei der Sache ist.

Hettche erzählt eine warmherzige und wunderbare Familiengeschichte, die Geschichte einer anpackenden und starken Frau und zugleich setzt er der Augsburger Puppenkiste mit diesem Buch ein literarisches Denkmal.
Für mich ist „Herzfaden“ vor allem ein Roman über Familie, Väter und Töchter und die Weitergabe von Werten und Tradition. Es ist aber auch eine Erzählung über die Zeit des zweiten Weltkriegs und den Wiederaufbau nach dem Krieg. Zugleich eine Hymne auf die Kraft der Fantasie und des Theaters – einer lebenslangen Faszination, die nicht loslässt.

„So quasi als Erholung vom großen Theater, mit der Liebe zum Theater, die auch in der Freizeit Theater braucht.“

(S.95)

Es steckt unglaublich viel in diesem Werk und beim erneuten Lesen wird man sicherlich wieder neue Aspekte entdecken, so dass dieses zu den Büchern gehören wird, die man getrost auch ein zweites Mal lesen kann ohne Langeweile zu empfinden.

Im Buch wechseln sich ein rotes Schriftbild für die Handlung auf dem Dachboden zwischen den Marionetten und dem Mädchen und ein blaues Schriftbild für die Geschichte Hatüs, ihrer Familie und der Puppenkiste ab. Ein Gestaltungselement, das mich sofort an eine Ausgabe von Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ erinnerte, die ich als Kind aus der Bücherei geliehen hatte. Nur ein Aspekt von vielen, die mich zurück in meine Kindheit versetzten. Die ganze Lektüre von „Herzfaden“ hatte für mich den Zauber, mich an meine Lesewurzeln zu erinnern: Ich tauchte in diese Geschichte ein und flog gerade so durch die Seiten. Wie früher wenn ich beim Lesen alles um mich herum vergaß und nicht mehr ansprechbar war. Schön, dass es immer noch Literatur gibt, die diese Wirkung auch für Erwachsene entfalten kann.

Das Lesen dieses Buches ist auch aufgrund der liebevollen und hochwertigen Ausstattung ein Genuss. Kiepenheuer&Witsch hat den Roman mit einer sehr wertigen Leinenbindung, mit Lesebändchen und illustriert mit wunderbaren Zeichnungen von Matthias Beckmann gestaltet. Eine sehr schöne Ausgabe, die man sich gerne als Schmuckstück ins Regal stellt.

Für mich ist „Herzfaden“ ein literarisches Glanzlicht dieses Jahres und ein Roman, der mich sehr berührt hat. Den Herzfaden zu meinem Leserherzen hat Hettche definitiv gefunden und kräftig daran gezogen – sollte er den Deutschen Buchpreis 2020 gewinnen, freue ich mich mit und für ihn.

Buchinformation:
Thomas Hettche, Herzfaden
Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-05256-5

***

Wozu inspirierte mich „Herzfaden“:

Für den Gaumen:
Pfannkuchen (in Regionen außerhalb Bayerns auch Eierkuchen oder Palatschinken genannt) mit Marmelade – ein Essen, das Kinder lieben und das einem sofort das Gefühl von Geborgenheit vermittelt.

Zum Weiterschauen:
Ich muss gestehen, dass ich bisher wenig bis fast nichts von der Augsburger Puppenkiste wirklich bewusst im Fernsehen gesehen habe. Aber ich werde mal die Augen offen halten und versuchen, diese Bildungslücke zu schließen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

Zudem nehme ich mir vor, beim nächsten Ausflug nach Augsburg auch mal dem Augsburger Puppentheatermuseum einen Besuch abzustatten, das aber wohl derzeit leider aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen hat.

Zum Weiterlesen:
Thomas Hettches Roman „Pfaueninsel“ habe ich 2014 ebenfalls gleich kurz nach Erscheinen gelesen und war sofort hin und weg. Dieser Autor versteht es meisterhaft, faszinierende und berührende Geschichten zu erzählen. Und auch die „Pfaueninsel“ ist in der wunderschönen Ausgabe mit Leineneinband ein wahrer Schatz im Bücherregal, den ich in Ehren halte und zu gegebener Zeit sicher noch einmal lesen werde. Und auch ein Besuch auf der Insel nahe Potsdam steht immer noch auf meinem Plan.

Thomas Hettche, Pfaueninsel
Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-04599-4

5 Kommentare zu „Magisches Marionettentheater

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