Felix Mitterer hat sich für seinen ersten Roman „Keiner von euch“ ein dunkles und schwieriges Kapitel der österreichischen Geschichte und eine besondere Hauptfigur ausgesucht. Er beschreibt die Lebensgeschichte und das Schicksal des Afrikaners Mmadi Maké, der im 18. Jahrhundert aus seiner Heimat verschleppt wird und über Umwege als „Angelo Soliman“ als „Geschenk“ für einen Fürsten an den Wiener Hof gelangt. Dort trifft er auf die Zeitgenossen Kaiser Joseph II. und Wolfgang Amadeus Mozart, verkehrt in höfischen Kreisen und Mozarts Freimaurerloge und doch geschieht am Ende seines Lebens das Unvorstellbare und Unaussprechliche: er wird nach seinem Tod präpariert und als Exponat eines halbnackten „Ureinwohners“ im Naturalienkabinett ausgestellt.
Bereits als Kind wird der Junge in Afrika gefangen genommen und als „Ware“ ins sizilianische Messina gebracht. Er wird verkauft, verschenkt und mit der Zwangstaufe auf den Namen „Angelo Soliman“ wird er neben seiner Würde auch noch seines Namens beraubt.
„Ich bin für euch alle immer nur ein Spielzeug.“
(S.228)
Er wird zum Spielzeug, aber auch zum Spielgefährten des adeligen Mädchens Clara, doch schon bald wirft Fürst Thurnstein ein Auge auf den Jungen und nimmt ihn mit nach Wien.
Eine Geschichte voll Leid, Missbrauch und dem Kampf um Selbstbestimmung beginnt und es wird Jahre dauern bis sich die Wege des „Angelo Soliman“ und Claras zufällig in Wien wieder kreuzen – eine schicksalshafte Begegnung.
Erzählt wird die Geschichte unter anderem aus Sicht der Tochter Josephine Soliman, die als Kind eines dunkelhäutigen Vaters und einer weißen Mutter von Stand ebenfalls großes Leid und Ausgrenzung erfahren muss. Mühsam erkämpft sie sich das Recht, die Wahrheit über ihre Herkunft und ihren Vater zu erfahren.
Felix Mitterer ist ein sehr bekannter, österreichischer Dramatiker und Drehbuchautor und unternimmt mit „Keiner von euch“ seinen ersten Ausflug in die Welt des Romans. So mancher mag z.B. seine „Piefke-Saga“ aus dem Fernsehen kennen (eine bitterböse und umstrittene Satire über deutsche Touristen in Österreich) oder aber auch seine Theaterstücke, die vor allem in seinem Heimatland häufig gespielt werden. Schon immer beschäftigen ihn hauptsächlich die Geschichten von Außenseitern und Menschen, die sich trotz aller Widrigkeiten behaupten und ihren Platz im Leben erkämpfen.
„Keiner von euch“ trägt das Außenseitertum schon im Titel und behandelt große, schwerwiegende Themen: Rassismus, Gewalt, Missbrauch und Emanzipation. Der Autor hat es sich mit seinem Erstlingsroman nicht leicht gemacht und er muss gewichtigen Problemstellungen und unangenehmen Wahrheiten gerecht werden.
Streckenweise liest sich der Roman fast wie ein Krimi, denn Mitterer arbeitet auch mit düsteren, fast schablonenhaften Figuren, wie dem pädophilen Fürsten Thurnstein oder dem Irrenarzt Professor Hoffmann, der seinem Hass ungezügelt freien Lauf lässt und letztlich die Leiche „Angelo Solimans“ zum Ausstellungsobjekt präpariert.
Mmadi Maké ist jedoch nicht die einzige unglückliche Figur dieses Romans. Vielmehr wird klar, dass im Wien des 18. Jahrhundert auch andere Menschen – unabhängig von Stand und Herkunft – Zwängen unterlagen, aus welchen sie sich nicht befreien konnten. So entwirft der Autor Szenen, die verdeutlichen, dass von der Prostituierten bis zum Kaiser selbst, jeder Mensch nach Freiheit und Selbstbestimmung strebt und doch oft an der Realität, dem Umfeld und den Gegebenheiten scheitert.
Harter Tobak, den der Österreicher hier seinen Lesern bietet, denn auch der vermeintliche, kurz aufblitzende Hoffnungsschimmer, dass die Hauptfigur doch noch etwas Glück im Leben finden kann, wird radikal hinweggefegt.
Die Lektüre ist aufwühlend und teils regelrecht verstörend. Mehr als einmal stellten sich mir angesichts der menschenunwürdigen und verachtenden Behandlung Mmadi Makés sprichwörtlich die Haare auf. Die körperliche und seelische Gewalt, welche dieser Mann im Wien des 18. Jahrhunderts erleiden musste, ist unfassbar und entsetzlich.
„Keiner von euch“ holt den Leser aus der Komfortzone – das ist kein verklärender, historischer „Wohlfühl“-Roman, sondern Mitterer beschreibt ein wahres Lebensschicksal, das geprägt war von Missbrauch, Verachtung, Ausgrenzung und Rassismus. Ein intensives, lehrreiches und interessantes Buch, das einen auch nach der Lektüre noch länger beschäftigt.
Buchinformation:
Felix Mitterer, Keiner von euch
Haymon
ISBN: 978-3-7099-3495-1
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Woran erinnerte mich „Keiner von euch“:
Für den Gaumen:
Obwohl die Kulinarik im Roman im Grunde keine Rolle spielt, denkt man durch den Schauplatz Wien natürlich gleich an die Wiener Küche, z.B. an ein einfaches, aber gutes Erdäpfelgulasch (Kartoffelgulasch) mit Paprika, Zwiebeln und Kartoffeln – eine bodenständige und ehrliche Mahlzeit.
Für musikalischen Genuss:
Natürlich unweigerlich Mozart, der mit Angelo Soliman befreundet war und in der selben Freimaurerloge verkehrte. Empfehlen kann ich hier unter anderem die Aufnahme von Mozarts Klavierkonzerten Nr. 19 und Nr. 23 (KV 459 und KV 488) von Hélène Grimaud, die 2011 bei der Deutschen Grammophon erschienen ist.
Zum Weiterlesen:
Constanze Mozart spielt in Mitterers Buch ebenfalls eine Rolle. Wer mehr über die Frau an Mozarts Seite erfahren möchte, hat mit Lea Singers Roman „Das nackte Leben“ eine schöne literarische Möglichkeit und eine lohnende Lektüre.
Lea Singer, Das nackte Leben
dtv
ISBN: 978-3-423-21022-5
Ein Kommentar zu „Keiner von euch“