Erben mit Stil

Manchmal sind es gerade die kleinen, schmalen und unaufdringlichen Bücher, die einen vollkommen überraschen, gleichsam von den Füßen holen und das Leserherz im Sturm erobern. In meinem Fall ist mir das vor kurzem mit Vita Sackville-Wests zauberhaftem Roman „Das Erbe“ (Originaltitel: „The Heir. A Love Story“) genau so passiert. Gleich dem Helden im Buch habe ich mich verliebt und zwar in diese feine, zarte und melancholische Geschichte, welche die britische Autorin vor über hundert Jahren feinfühlig erzählt und zu Papier gebracht hat.
Im Vorwort von 1949 bezeichnet Sackville-West den Roman rückblickend als „Jugendwerk“. Als sie ihn 1922 verfasste, war sie 30 Jahre alt.

„Chase stand da und betrachtete die Vase mit den Tulpen. Er hatte das Gefühl, alle Tage damit zuzubringen, irgendetwas anzuschauen und daraus eine stille Befriedigung zu ziehen, die er erst an diesem Ort kennengelernt hatte.“

(S.41)

Mr. Chase lebt in der Stadt, ist Versicherungsmakler und „Sozialist“ (S.30), als er plötzlich nach dem Tod seiner Tante ein Anwesen auf dem britischen Land erbt.

Als er nach Blackboys fährt, um sein Erbe in Augenschein zu nehmen, erwartet ihn eine vollkommen andere Welt: ein altes Tudor-Haus, das aus jeder Ritze Geschichte atmet, ein großzügiger Park mit stolzen, schillernden Pfauen, alteingesessene Pächter der umliegenden Ländereien… und ein eifriger Testamentsvollstrecker, der den in die Jahre gekommenen, sanierungsbedürftigen Landsitz am liebsten schnellstmöglich unter den Hammer bringen und versilbern möchte.

Mr. Chase, der sich in der neuen Umgebung zunächst fremd und geradezu wie ein Eindringling vorkommt, nimmt sich jedoch erst einmal ein wenig Zeit, um seine Erbschaft kennenzulernen. Er entdeckt Geschichten, Geräusche, Gerüche und erkennt die Schönheit – sieht in Blackboys gleichsam ein Stilleben mit Stil – und spürt auf einmal, was Tradition bedeutet.

„Er blieb einfach da und genoss die Frühsommertage, die sich bis in den Abend hinein die Klarheit des anbrechenden Morgens bewahrten. Wie ein Kind, das sich im Reich der Freude verirrt, war er vom Zauber der Sonne und der Schatten benommen. Stundenlang betrachtete er in närrischer Glückseligkeit das auf den Wiesen liegende Sonnenlicht und die tiefen Schatten, die mit der Unergründlichkeit der Wälder verschmolzen.“

(S.61)

Viele Textstellen sind von zarter, melancholischer Schönheit und wirken aufgrund der zugrundeliegenden Gedankengänge – heute würde man wohl von Achtsamkeit sprechen – stellenweise geradezu modern und vollkommen zeitlos.

„Die flaumigen, blau-gelben Meisen, die auf den Zweigen der Apfelbäume umherhüpften, erschienen ihm wunderschön, aber sie waren für ihn ohne Namen. Theoretisch hatte er immer schon gewusst, dass die Vögel singen, wenn der Tag anbricht; aber das Wunderbare war, dass sie nicht nur sangen, sondern dass er, Chase, aufwachte und da war, um sie zu hören.“

(S.62)

Die romantische Sprache – überbordend, charmant und sinnlich – lädt zum Schwelgen ein. Es ist – wie im englischen Originaltitel explizit ausgeführt – eine Liebesgeschichte, denn Mr. Chase verfällt immer mehr dem Charme des Anwesens, entwickelt Gefühle und verliert sein Herz.

„Er war ärgerlich und doch nicht in der Lage, seinen Ärger aufrechtzuerhalten – eine zärtliche Empfindung ließ ihn weich werden, und die stumme Bitte seines Erbes, das sich, jeden theatralischen Effekt verachtend, auf seine schlichte Schönheit als die einzige Fürsprecherin verließ.“

(S.81)

Während der Lektüre hatte ich immer wieder folgendes Zitat aus einem Buch, das jedoch erst viele Jahre nach „Das Erbe“ erschienen ist, im Kopf:

„Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“

(aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry)

Denn genau das ist es, was in meinen Augen im Roman passiert: Mr. Chase macht sich mit Blackboys – dem Haus, der Einrichtung, dem Garten, den Pfauen, den Pächtern und dem Landleben – vertraut, lernt es kennen, schätzen und lieben und fühlt sich letztlich verantwortlich.
Natürlich schwingen hier neben dem Gedanken des Bewahrens von Traditionen auch Anklänge an die britische Klassengesellschaft mit.

Sackville-West hatte ein aufmerksames, feines Auge für Details und fand wunderbare Worte – hier sei auch die hervorragende Übersetzung von Irmela Erckenbrecht explizit erwähnt – ihre Beobachtungen zu beschreiben. Sie hatte einen untrüglichen Sinn für Ästhetik, Schönheit und Stil – der sich unter anderem auch in der Gartengestaltung von Sissinghurst Castle niederschlug – bis heute eine Touristenattraktion, die jährlich viele Besucher begeistert.

Die optisch wunderschön aufgemachte Ausgabe des Schöffling Verlags mit Jugendstilornamenten in gedeckten Vintage-Farben hat ebenfalls Stil und lässt einen das Buch gerne zur Hand nehmen.

Für mich war dieser charmante, bezaubernde und schwelgerische, kleine, feine Roman nach über 100 Jahren eine große Entdeckung, die ich ohne Zweifel zu meinen Lesehöhepunkten dieses Jahres zählen werde.
Eine schöne, auf positive Weise sentimentale, entschleunigende und erdende Zeitreise auf einen traditionsreichen britischen Landsitz „an der Grenze zwischen Sussex und Kent“ (S.5) und eine romantisch-achtsame Lektüre, welche auch wieder einmal daran erinnert, mit wachen, offenen Augen für die schönen Dinge durchs Leben zu gehen. Großer Lesegenuss!

Buchinformation:
Vita Sackville-West, Das Erbe
Aus dem Englischen von Irmela Erckenbrecht
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-708-9

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Vita Sackville-Wests „Das Erbe“:

Für den Gaumen:
Stilvoll geht es auch im kulinarischen Bereich zu: es gibt Portwein (S.58) und Chase wird fürstlich bewirtet:

„In seinen Gedanken verbanden sich alle diese Bilder und feinen Geräusche, ihre immer wiederkehrende Melodie, mit den Mahlzeiten, die man für ihn bereitete, den Salaten und kalten Geflügelplatten, dem Cidre und dem Überfluss an frischen, einfachen Früchten – und schließlich schien es ihm so, als würden alle Sinne einzeln und im Einklang miteinander befriedigt, sowohl draußen im Freien als auch in der kühlen Dunkelheit des Hauses.“

(S.64/65)

Zum Weiterklicken oder für einen Besuch:
Im Vorort schreibt die Autorin, dass sie sich von Groombridge Place zu ihrem Roman inspirieren ließ. Hier geht es zur Homepage, so dass man das Bild einmal auf sich wirken lassen kann. 2005 wurde es auch zum Drehort für eine Jane Austen-Verfilmung („Stolz und Vorurteil“).
Bekannt ist Vita Sackville-West bis heute jedoch vor allem für den Garten, den sie in Sissinghurst Castle in der Grafschaft Kent ab 1930 anlegte – auch hier gibt es ein Bilder und Informationen, u.a. auf der Homepage des National Trust, der das Anwesen heute verwaltet und für Besucher zugänglich macht.

Zum Weiterlesen (I):
Mittlerweile ist ein weiteres Werk von Vita Sackville-West bei mir eingezogen, auf das ich durch Alba Donatis „Ein Garten voller Bücher“ aufmerksam geworden bin: „Eine Frau von Geist“. Es wurde 1924 als Auftragsarbeit für das Puppenhaus von Queen Mary verfasst, schlummerte jahrzehntelang in der Bibliothek desselben und erzählt über ein ganz besonderes Gespenst, das nachts durch die Räume des Puppenhauses geistert. Schön, dass dieses exklusive und besondere Werk seit einigen Jahren mit bezaubernden Illustrationen von Kate Baylay jetzt auch für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich ist.

Vita Sackville-West, Eine Frau von Geist
mit Illustrationen von Kate Baylay
Übersetzt von Isabelle Fuchs
Gerstenberg Verlag
ISBN: 978-3836921503

Zum Weiterlesen (II):
Im Herbst erscheint bei Dumont „Geliebte Orlando“ von Katja Kulin, das die Beziehung von Virginia Woolf und Vita Sackville-West thematisiert. Die Vorschau klingt vielversprechend und das Buch interessiert mich jetzt nach meiner Lektüre um so mehr, so dass ich es mal auf meine Merkliste gesetzt habe.

Katja Kulin, Geliebte Orlando
Dumont
ISBN: 978-3-8321-6084-5

19 Kommentare zu „Erben mit Stil

  1. Nach deiner Besprechung habe ich das Buch einfach so gekauft. Selbst die Besprechung hat mich Ruhe und Besinnlichkeit empfinden lassen. Jetzt bin nicht so sehr gespannt auf das Buch als hoffnungsvoll fröhlich 🙂 Einen schönen Sonntag dir!!

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    1. Das freut mich, Alexander, wenn ich Dich ruhig, besinnlich und hoffnungsvoll fröhlich stimmen konnte. Mich hat dieser schmale, feine Band wirklich begeistert und ich habe ihn in einem Rutsch gelesen, ohne ihn weglegen zu können. Schön, wenn einen ein Buch auch nach über hundert Jahren noch so packen kann. Dir auch einen wunderbaren Sonntag mit guter Lektüre!

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  2. Das Buch klingt wirklich ganz dringend lesenswert! Ich glaube, ich werde es mir für den nahenden Sommerurlaub bei unserer Lieblingsbuchhandlung hier im Kiez bestellen.
    Wahrscheinlich hätte das Buch noch besser zu unserer letzten England-Reise im vergangenen Jahr gepasst, aber ich glaube, in Frankreich macht es sich auch gut.
    Sissinghurst habe ich schon zweimal besucht, diesen Garten liebe ich wirklich sehr.
    Herzlichen Dank fürs Teilen deiner Eindrücke zum Buch! Von allein wäre ich sicherlich nicht darauf gekommen.

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    1. Sehr gerne, Sophie. Es freut mich sehr, wenn ich Dich bezüglich Urlaubslektüre ein wenig inspirieren konnte. Es braucht auch nicht viel Platz im Koffer, allerdings liest es sich wirklich sehr schnell, d.h. für lange Lesetage lohnt es sich sicher auch noch, vorsichtshalber ein zweites Buch mitzunehmen. 🙂
      Mit Sissinghurst hast Du mir etwas voraus, ich habe bisher nur Fotos bestaunt. Aber das muss traumhaft sein dort.
      Ich wünsche Dir viel Fest bei der Lektüre und natürlich einen wunderbaren Urlaub in Frankreich!

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    1. Hallo Bernd,
      die Lesung habe ich nicht gehört.
      Ich habe das Buch bereits im Mai gelesen, aber es hat ein bisschen gedauert, bis ich die Zeit gefunden habe, um die Rezension zu schreiben. Aber es ist wirklich lesens- und offensichtlich auch hörenswert. Danke für den Tipp und Dir ebenfalls einen guten Sonntagabend und einen schönen Mittsommer! Barbara

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    1. Dankeschön, Sabine. Es freut mich, wenn ich Deine Neugier darauf wecken konnte. Ich wünsche Dir viel Vergnügen bei der Lektüre und ebenfalls einen guten Wochenstart! Barbara

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    1. Dankeschön, liebe Bri.
      Es freut mich sehr, wenn Dir mein Beitrag gefallen hat. Mich hat diese wunderschöne Ausgabe auch wirklich bezaubert. Ein kleines Schmuckstück! Herzliche Grüße und eine gute Woche! Barbara

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