Nachtwald voller Fragen

„Wer möchte schlafen in einem Nachtwald voller Fragen?“ (S.369) – die Überschrift meines Blogbeitrags habe ich einem Zitat aus Ingeborg Bachmanns „Malina“ entnommen. Denn es trifft mein Gefühl nach der Lektüre, die mich wahrhaftig mit einem Wald voller Fragen zurücklässt.

Wie also nähern diesem Werk, das zweifelsohne eine herausfordernde Lektüre darstellt und das so schwer zu beschreiben ist? Ein kurzer Blogbeitrag kann und wird diesem außergewöhnlichen Werk sicher nicht gerecht werden. Da haben sich schon viele andere Literaturbegeisterte und Fachleute vor mir ausführlicher und wesentlich fundierter mit dem Werk beschäftigt und jede Menge Sekundärliteratur dazu verfasst.

Deshalb habe ich mich dieses Mal entschieden, keine klassische Rezension zu schreiben, sondern vielmehr meine Leseerfahrung bzw. meine Leseeindrücke und ein paar Gedankengänge, Zitate und Aspekte zu beschreiben und festzuhalten, die mich berührt und beschäftigt haben. D.h. ich möchte vor allem auch Ingeborg Bachmann selbst viel sprechen und zu Wort kommen lassen, deren Sprache eine unfassbar große Kraft und tiefen Ausdruck besitzt.

„Du willst doch nicht behaupten, daß die Frauen unglücklicher sind als die Männer! Nein, natürlich nicht, ich sage ja nur, daß das Unglück der Frauen ein besonders unvermeidliches und ganz und gar unnützes ist.“

(S.317/318)

Die Ich-Erzählerin im Roman steht zwischen zwei Männern: ihrem Liebhaber Ivan und ihrem Lebensgefährten Malina – eine Dreieckskonstellation, an der sie letztlich zerbricht.

„Aber wir finden schon zueinander, denn ich brauche mein Doppelleben, mein Ivanleben und mein Malinafeld, ich kann nicht sein, wo Ivan nicht ist, aber ebensowenig kann ich heimkommen, wenn Malina nicht da ist.“

(S.331)

Ich habe in „Malina“ viele wunderbare Stellen über das Lesen entdeckt, die gerade jemanden der Bücher und Literatur liebt, ansprechen und berühren.

„Lesen ist ein Laster, das alle anderen Laster ersetzen kann oder zuweilen an ihrer Stelle intensiver allen zum Leben verhilft, es ist eine Ausschweifung, eine verzehrende Sucht. Nein, ich nehme keine Drogen, ich nehme Bücher zu mir (…)“

(S.103)

Man kommt kaum hinterher, sich kluge Sätze, intelligente Gedanken und Zitate zu notieren, die einem beim Lesen nahekommen und denen man sich schwer entziehen kann und möchte.

„Doch zur Sache wollte ich sagen, daß ich Ihnen auch in Tag- und Nachtsitzungen nicht die Bücher aufzählen könnte, die mich am meisten beeindruckt haben oder warum, an welcher Stelle und für wie lange Zeit. Was hängenbleibt, werden Sie fragen, aber es geht doch nicht um das Hängenbleiben! nur einige Sätze, einige Ausdrücke wachen immer wieder auf im Gehirn, melden sich über Jahre zu Wort (…)“

(S.105)

Bachmann hat einen feinen Blick und eine unvergleichliche Gabe, Szenen und Stimmungen zu beschreiben, die einen gefangen nehmen und das Gefühl vermitteln, genau dort zu sein, mit ihr zu hören, zu fühlen, zu sehen und zu schmecken. Da gibt es liebevolle, berührende Szenen wie folgende:

„Wenn jetzt noch eine Stunde vorbeigeht, darf ich in mein Bett und mich mit einer dicken Bauerntuchent zudecken, denn es ist immer kühl abends im Salzkammergut, draußen wird es etwas flirren, aber auch im Zimmer wird es zu brummen anfangen, ich werde aus dem Bett steigen, herumgehen, ein brummendes, summendes Insekt suchen, es doch nicht finden (…)“

(S.184)

Da gibt es zauberhafte kleine Miniaturen und Momente, die wunderschön sind und so tief blicken lassen. Und ja, es sind auch die Städte und Orte, die sie beschreibt, mit welchen sie mich für sich einnimmt: Venedig, das Salzkammergut, aber vor allem auch Wien.

Und doch sind da dann eben auch die brutalen Szenen und grausamen Traumsequenzen voller Gewalt, die verstören, verschrecken und die man bei der Lektüre auch aushalten muss. Befremdliche Gedankengänge, so vieles das im Rauch, Qualm und Nebel bzw. im Unklaren bleibt und unzählige Rätsel, die es zu entschlüsseln und für sich selbst einzuordnen und zu interpretieren gilt.

Und da sind die verzweifelten Telefonate, die schwierige, unglückliche Dreieckskonstellation und diese unzähmbare Liebe, die nicht im gleichen Maße erwidert wird. Man spürt die Rast- und Ruhelosigkeit, die Unbehaustheit und leidet und fühlt mit dieser verletzlichen Frau, die ihr Innerstes zu offenbaren scheint und die man am liebsten wachrütteln und aus ihren Albträumen holen möchte.

„Malina“ ist ein trauriges, melancholisches – und ja, auch dunkles Buch:

„Sind Ivan und ich eine dunkle Geschichte? Nein, er nicht, ich allein bin eine dunkle Geschichte.“

(S.188)

In der fein gestalteten Ausgabe der Büchergilde ist ein Nachwort der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek enthalten, in dem sie schreibt:

„Das Leid dieser einen Frau ist das Leid aller Frauen.“

(Elfriede Jelinek im Nachwort zu „Malina“, S.398)

Nein, wirklich keine leichte Kost und selbst ein passendes Schlusswort für die Schilderung meiner Leseerfahrung scheint Ingeborg Bachmann mir gleichsam selbst geliefert zu haben:

„Mir zeigt sich etwas, ich fange auch an, eine Logik darin zu sehen, aber ich verstehe im einzelnen nichts.“

(S.238)

Weitere Blogbeiträge zu „Malina“ sind unter anderem bei Kommunikatives Lesen und Denkzeiten zu finden.

Mit diesem Buch habe ich einen weiteren Punkt meiner 23 für 2023erfüllt – Punkt Nummer 6) auf der Liste: Ich möchte ein Buch aus den Siebziger Jahren lesen. „Malina“ ist 1971, zwei Jahre vor Bachmanns Tod 1973, der sich am 17. Oktober diesen Jahres zum fünfzigsten Mal gejährt hat, erschienen.

Buchinformationen
(zu der von mir gelesenen Ausgabe):
Ingeborg Bachmann, Malina
Büchergilde Gutenberg
ISBN: 978-3-7632-7490-1

oder als Taschenbuchausgabe:
Ingeborg Bachmann, Malina
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-37141-1

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Ingeborg Bachmanns „Malina“:

Für den Gaumen:
In Malina finden österreichische und ungarische kulinarische Einflüsse ihren Niederschlag – eine Kostprobe gefällig?

„Das Fleisch habe ich in gleichmäßige Stücke geschnitten, Zwiebel feingehackt, Rosenpaprika bereitgestellt, denn heute gibt es Pörkölt und vorher noch Eier in Senfsauce, ich überlege mir, ob nachher Marillenknödel nicht doch zu viel sind, vielleicht lieber nur Obst (…)“ (S.90)

Zum Weiterklicken:
Seit 1977 gibt es den renommierten, nach der Klagenfurter Autorin benannten Literaturwettbewerb, der einmal im Jahr stattfindet. Hier geht es zur Website des „Bachmannpreis“, der über die Geschichte, die Preisträger etc. informiert. Dieses Jahr (2023) ging der Preis an Valeria Gordeev.

Zum Weiterlesen:
Ingeborg Bachmann ist bekannt für ihre Lyrik, daher wäre dies sicherlich auch ein guter Anlass, sich einmal ihren Gedichten zu widmen:

Ingeborg Bachmann, Sämtliche Gedichte
Piper
ISBN: 978-3-492-23985-1

7 Kommentare zu „Nachtwald voller Fragen

  1. Eine schöne Weise, sich diesem Mammutwerk zu widmen – sie lässt viel Raum für eigene Assoziationen, geleitet mehr, als einen Begriff drüberzuschieben. Malina fand ich auch sehr beunruhigend, obgleich es in mir Begeisterungsstürme für die Sprache, die Melodie, diesen Erfindungsreichtum heraufbeschwor. Wenn ich je vergessen sollte, was Literatur für mich bedeutet, muss ich nur zu diesem Buch greifen. Ich bin jedes Mal so froh, dass sie es geschrieben hat. Viele Grüße, Alexander!

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    1. Danke, Alexander. Ja, ich habe lange überlegt, wie ich diesen Blogbeitrag angehen soll… man steht erst einmal sprachlos und überwältigt da nach der Lektüre… aber dennoch war es mir ein Anliegen, zumindest ein paar Gedanken, Zitate und Eindrücke auch schriftlich festzuhalten. Herzliche Grüße und ein hoffentlich langsam besinnlich-gemütliches Hinübergleiten in die baldigen Weihnachtstage! Barbara

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    1. Danke Sandra, deshalb habe ich auch noch mehr als sonst üblich die Wortkünstlerin selbst zu Wort kommen lassen. Ihre eigenen Worte drücken Vieles so viel besser aus, als ich es jemals könnte… und ja, der „Nachtwald voller Fragen“ wird sich vermutlich auch nach mehrmaliger Lektüre nie ganz lichten lassen… Eine wirklich außergewöhnliche Leseerfahrung. Viele liebe Grüße! Barbara

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