Feder im Wirbelsturm

Sieht man bei Wikipedia nach, was die Merkmale eines Klassikers sind, dann findet man dort unter anderem eine lange, überregionale Bekanntheit, hohe Qualität, Innovationspotenzial bzw. Neuartigkeit, Einfluss auf die Kultur und Zeitlosigkeit der Themen. Virginia Woolfs „Orlando“ erfüllt für mich all diese Kriterien aufs Trefflichste – ein Klassiker par excellence. Eine wunderbare Ergänzung der Lektüre, die viel Hintergrund über Woolf und ihren „Orlando“ Vita Sackville-West erzählt, ist Katja Kulins biografischer Roman „Geliebte Orlando – Virginia Woolf und Vita Sackville-West – Eine Leidenschaft“.

In ihrem Roman „Orlando“ bezeichnet Woolf ihre Hauptfigur als „Feder im Wirbelsturm“ (S.141) – ein Geschöpf, das sich in beiden Geschlechtern gleichermaßen beheimatet fühlt und im Laufe des Buches das Geschlecht wechselt.

Woolf hat im Jahr 1928 ein vollkommen neuartiges und unkonventionelles Werk geschrieben, das mitnimmt auf eine wilde Reise durch die Zeit, mehrere Jahrhunderte umfasst und die Entwicklung Orlandos vom jungen Adeligen am Hofe Elisabeths I. bis hin zur Frau im London des frühen 20. Jahrhunderts schildert.

„Sie war wie ein Fuchs oder wie ein Olivenbaum, wie die Meereswellen, wenn man von großer Höhe auf sie hinunterblickt; wie ein Smaragd; wie die Sonne auf einem grünen Hügel, über den zugleich Wolken ziehen – wie nichts, was er je in England gesehen oder kennengelernt hatte. Er konnte die Sprache durchstöbern so viel er wollte, die Worte ließen ihn im Stich.“

(aus Virginia Woolf „Orlando“, S.41)

Woolf findet hingegen wunderbare Formulierungen, ja sie spielt geradezu mit Worten und ist eine wahre Künstlerin darin, treffend zu beschreiben und Stimmungen lebendig und spürbar werden zu lassen. Sprachlich ist das wunderschön zu lesen.

„Die Näherin ist die Erinnerung, und sie ist eine launische Näherin. Die Erinnerung führt ihre Nadel hinein und hinaus, hinauf und hinunter, hierhin und dorthin. Wir wissen nicht, was als Nächstes kommt oder was darauf folgen wird.“

(aus Virginia Woolf „Orlando“, S.69)

Sprachgewaltig, phantasievoll und verspielt: „Orlando“ ist ein kurzweiliges und spannendes Leseabenteuer, über das ich inhaltlich gar nicht zu viel verraten möchte – weil es entweder ohnehin schon bekannt ist oder weil ich das unvoreingenommene Lesevergnügen nicht trüben oder vorwegnehmen möchte.

Woolf hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass das Vorbild ihres „Orlandos“ in ihrer geliebten Freundin Vita Sackville-West zu sehen war. Selbst die meisten Bilder bzw. Fotografien, die sie zur Illustration verwendete, zeigen die Frau, mit der sie über einige Jahre hinweg eine außereheliche Liebesaffäre verband.

„So hatte dieser junge Edelmann im Alter von mehr oder weniger dreißig Jahren nicht nur alle Erfahrungen ausgekostet, die das Leben zu bieten hatte, sondern auch die Wertlosigkeit all dieser Erfahrungen erfahren. Liebe und Ehrgeiz, Frauen und Dichter waren alle gleichermaßen wertlos. Die Literatur war eine Farce.“

(aus Virginia Woolf „Orlando“, S.85)

Das Spiel mit den Geschlechtern bzw. der Wechsel desselben ist Teil der Faszination „Orlando“ – Virginia Woolf lässt ihre Figur darüber sinnieren, philosophieren und befasst sich kritisch auch mit Vorurteilen, Klischees und starren Rollenzuweisungen.

„Damals war sie der Verfolgende gewesen, nun war sie die Fliehende. Welche Lust ist größer? Die des Mannes oder die der Frau? Oder sind sie vielleicht gleich?“

(aus Virginia Woolf „Orlando“, S.137)

Woolfs Werk hat Witz, Humor, Biss und enthält natürlich auch die feministischen Gedankengänge bzw. Züge, die ihr Werk auszeichnen:

„(…) stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, was für eine schlechte Meinung sie sich vom anderen, dem männlichen Geschlecht bildete, obwohl sie einst so stolz gewesen war, zu ihm zu zählen. „Vom Masttopp zu stürzen, weil man die Knöchel einer Frau sieht; sich wie Guy Fawkes zu kostümieren und auf den Straßen herumzustolzieren, damit die Frauen einen bewundern; einer Frau die Bildung verwehren, damit sie einen nicht auslachen kann; sich zum Sklaven des flatterhaftesten Geschöpfs in Weiberröcken zu machen und sich gleichzeitig aufzuführen, als wäre man der Herr der Schöpfung. – Du lieber Himmel“, dachte sie, „wie halten sie uns nur zum Narren – und was für Narren sind wir nur!“

(aus Virginia Woolf „Orlando“, S.140)

Orlando liest sich auch heute fast hundert Jahr später – gerade in der großartigen Übersetzung von Melanie Walz – noch unglaublich frisch, zeitlos, emanzipiert und sehr modern. Dank Woolfs grandioser Erzählkunst und feinen Stilistik ist es ein „Fest der Poesie“ und ich habe mir viele Textstellen und Formulierungen geradezu auf der Zunge zergehen lassen.

Woolf, die sich am 28. März 1941 im Fluss Ouse selbst das Leben nahm, schien ihrer Zeit vor allem auch thematisch voraus gewesen zu sein und hat mit „Orlando“ ein Werk geschaffen, das für mich zweifelsohne zu den großen Klassikern des 20. Jahrhunderts zu zählen ist.

„Ob Orlando also eher ein Mann oder eine Frau war, ist schwierig zu sagen und kann hier nicht entschieden werden.“

(aus Virginia Woolf „Orlando“, S.167)

Gerade im Zusammenspiel und nach der Lektüre von „Orlando“ ist Katja Kulins biografischer Roman „Geliebte Orlando“ eine perfekte Ergänzung und sehr erhellend. Die Autorin hat behutsam und bedacht die gemeinsame Geschichte von Virginia Woolf und Vita Sackville-West in Romanform gebracht, ihr Kennenlernen, die Annäherung, die Liebesgeschichte bis hin zum tragischen Ende nachgezeichnet.

Sie entwirft fein ausgearbeitete Porträts der beiden Frauen, lässt ihre jeweiligen Charaktere erfahrbar werden und die geschichtlichen bzw. biografischen Hintergründe besser verstehen. Sie ist dabei, wenn Vita Sackville-West voller Spannung zum ersten Mal „Orlando“ liest und sich selbst erkennt.

„Vita liest, vorerst vergehen nur ein paar Stunden. Sie folgt Orlando, der nicht nur sie selbst ist, sondern auch all ihre Vorfahren in sich vereint, durch Zeit und Raum.“

(aus Katja Kulin „Geliebte Orlando“, S.24)

Sie begleitet Virginia und Vita durch leidenschaftliche Höhen und Tiefen, durch Nähe und Distanz, durch euphorische und depressive Phasen, durch Gesundheit und Krankheit.

„Denn das war es; war vielleicht das Einzige, wozu Krankheiten gut waren; Sie lockerten die Erde um die Wurzeln, um das verborgen Gehaltene, bereiteten den Boden für Veränderung und das Hervorbrechen von Gefühlen.“

(aus Katja Kulin „Geliebte Orlando“, S.110)

Untermauert mit Zitaten aus Tagebüchern, Korrespondenz und ihren Werken hat Katja Kulin einen fundierten biografischen Roman geschaffen, den sie um erzählerische, fiktive Elemente ergänzt hat und der sich sehr flüssig und interessant liest.
Man versteht das persönliche Umfeld, den Freundeskreis und die Lebensumstände der Frauen besser und kann so auch die Querbezüge in „Orlando“ besser einordnen.

„Ende September hatte sie sich im Bett die Idee für ein Buch mit kurzen Einzelszenen zurechtgesponnen, die zusammen ein großes historisches Bild der Gegenwart ergaben. All ihre Freunde darin skizziert, wahrhaftig, aber auch satirisch und fantastisch verfremdet. Lytton, Duncan, Clive, Roger, Adrian. Und natürlich Vita, die ein junger Edelmann namens Orlando sein sollte. Kleine Biografien noch zu Lebzeiten der Porträtierten.“

(aus Katja Kulin „Geliebte Orlando“, S.197)

Ich habe beide Bücher unmittelbar nacheinander gelesen und möchte diese Leseerfahrung nicht mehr missen. Kulin hat den beiden Freundinnen und Liebenden ein schönes, literarisches Denkmal gesetzt.
Virginia Woolf und Vita Sackville-West waren leidenschaftliche Autorinnen, die schreibenden Frauen ein Vorbild sein und diese ermutigen wollten.

„Ach, machmal glaubte Virginia daran, dass die Welt sich ändern konnte. Schließlich hatten Gedanken die Fähigkeit, sich zu verbreiten. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr lebendig. Vielleicht hatte sie heute einen Samen in die Köpfe dieser jungen Frauen gepflanzt. Vielleicht würden sie ihn weitertragen. Und vielleicht würde er irgendwann aufgehen.“

(aus Katja Kulin „Geliebte Orlando“, S.222)

Mit Virginia Woolfs „Orlando“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 24 für 2024erfüllt – Punkt Nummer 1) auf der Liste: Ich möchte einen Klassiker lesen. Der Roman aus dem Jahr 1928 ist ohne Zweifel zeitlos und lohnt auch heutzutage die Lektüre.

Buchinformationen:
Virginia Woolf, Orlando
Aus dem Englischen von Melanie Walz
Insel Taschenbuch
ISBN: 978-3-458-35938-8

Katja Kulin, Geliebte Orlando
Virginia Woolf und Vita Sackville-West – Eine Leidenschaft
Dumont
ISBN: 978-3-8321-8199-4

***

Wozu inspirierten bzw. woran erinnerten mich „Orlando“ und „Geliebte Orlando“:

Für den Gaumen (I):
Als wärmendes Soulfood zum Aufpäppeln kennt Virginia ein Wundermittel:

„Sofort beauftragte Virginia Nelly, Kakao zu machen und Rosinenbrötchen zu bringen, damit sie sie am Gasofen rösten konnten.“

(aus Katja Kulin „Geliebte Orlando“, S.199)

Für den Gaumen (II):
Und auch für einen lauschigen Sommerabend gibt es kulinarische Anregungen:

„Sie waren allein, setzten sich später noch einmal in den Garten, genossen den lauen Abend, tranken den Alella und aßen die Cognac-Kirschen, die Vita mitgebracht hatte.“

(aus Katja Kulin „Geliebte Orlando“, S.156)

Zum Weiterschauen:
Meine Taschenbuchausgabe von „Orlando“ aus dem Insel Verlag ziert ein Bild von Tilda Swinton als Orlando im gleichnamigen Film aus dem Jahr 1992. Jetzt, nachdem ich das Buch gelesen habe, könnte ich mir gut vorstellen, dem Film auch eine Chance zu geben, wenn es sich ergeben sollte.

Zum Weiterlesen:
Letztes Jahr zählteDas Erbe“ von Vita Sackville-West zu meinen Leseglanzlichtern, welches ich auch hier auf dem Blog vorgestellt habe. Ein wunderbares, literarisches Kleinod, das verzaubert und eine herrlich entschleunigende Lektüre darstellt:

Vita Sackville-West, Das Erbe
Aus dem Englischen von Irmela Erckenbrecht
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-708-9

12 Kommentare zu „Feder im Wirbelsturm

    1. Sehr gern geschehen. Mir hat die Lektüre wirklich Freude gemacht. Ich war fasziniert, wie frisch und zeitlos es sich auch heute noch liest – was bestimmt auch an der großartigen Übersetzung von Melanie Walz liegt. Herzliche Grüße und viel Vergnügen beim Lesen!

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  1. Orlando ist eines meiner Lieblingsbücher und ich habe auch schon sehr viel über Virginia und Vita gelesen, liebäugle jetzt aber dennoch mit Katja Kulins Buch. Schöner Artikel 🙂 Ganz liebe Grüße, Sabine

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    1. Danke, liebe Sabine.
      Für mich war „Orlando“ (vermutlich) das erste Werk von Virginia Woolf, das ich (bewusst) gelesen habe, obwohl ich immer noch am rätseln bin, ob ich nicht doch auch Mrs. Dalloway schon vor langer Zeit mal gelesen habe (es steht auf alle Fälle bei mir im Regal – hm, das sollte mir zu denken geben). Aber falls ich es gelesen habe, ist das schon sehr lange her und nicht mehr wirklich präsent. Ich mochte jetzt auf alle Fälle beide Bücher sehr gerne und habe mir definitiv auch den „Leuchtturm“ auf meine Wunsch- bzw. Warteliste gesetzt. Ebenfalls ganz herzliche Grüße aus dem heute verregneten Landshut, Barbara

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  2. Guten Morgen!
    Vor Deiner Buchvorstellung hätte ich wohl nie zu Orlando gegriffen. Und nun? Ist es direkt auf dei Wunschliste gewandert.

    Ganz lieben Dank für diese unglaublich tolle und ausführliche Buchvorstellung!
    Schönen Start ins Wochenende für Dich,

    Barbara

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    1. Liebe Barbara,
      Vielen lieben Dank für diese wunderbare Rückmeldung, die mich riesig freut.
      Es sind genau solche Momente, die das Bloggen für mich ausmachen, denn es ist einfach schön, wenn es mir ab und an gelingt, anderen Lust auf ein Buch zu machen. 😊
      Ich wünsche Dir eine schöne und erfüllende Lektüre und sende ganz herzliche Grüße, Barbara

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  3. Keine Ahnung, woran es liegt, aber ich darf auf Deiner Website nicht kommentieren. Jedes Mal, wenn ich etwas schreibe und es abschicken will, verschwindet mein Beitrag. Ich versuche es nun hier über den Reader noch einmal:

    danke für die tolle Empfehlung, es ist direkt auf meiner Liste gelandet.

    Herzlichst, Barbara

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    1. Liebe Barbara,
      Selbstverständlich darfst Du auf meiner Seite kommentieren. Sehr gerne sogar. 🙂
      Allerdings habe ich die Einstellung so gewählt, dass ich alle Kommentare einzeln freischalte, bevor sie zu sehen sind. Und dafür brauche ich manchmal ein bisschen, versuche das aber so zeitnah wie möglich zu machen. Vielleicht ist das der Grund, dass die Kommentare erst Mal bei Dir „verschwinden“. Aber natürlich freue ich mich sehr über Deine Rückmeldung bzw. wenn Du wieder bei meiner Bowle vorbeischaust, hier mitliest und kommentierst. Viele liebe Grüße! Barbara

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