Das Rätsel und der Fisch

Janice Hallett hat sich bei mir bereits aufgrund ihres ersten Krimis „Mord zwischen den Zeilen“ dauerhaft ins Gedächtnis geschrieben. Warum? Weil sie das Krimigenre anders angeht, alternative Formen des Erzählers sucht, stilistisch eigene Wege geht. Der erste Roman bestand aus Emails und Textnachrichten. Der gerade in deutscher Übersetzung von Stefanie Kremer erschienene „Der Twyford Code“ wird in Form von transkribierten Audiodateien erzählt.

„In den letzten paar Jahren hat sich viel verändert für mich. Und weißt du, was das ausgelöst hat? Ich hab Lesen gelernt.“

(S.14)

Steven Smith war lange Jahre inhaftiert und ist seit einiger Zeit wieder auf freiem Fuß. Im Gefängnis hat er zwar seine Lesefähigkeit verbessert, aber das Schreiben fällt ihm noch schwer. Deshalb bedient er sich als Person mit Lese- und Schreibschwäche ausgiebig der Diktierfunktion seines Smartphones und lässt seine mündlichen Aussagen in Text umwandeln. Zudem schneidet er Gespräche und Interviews mit, die er führt, um der Wahrheit näher zu kommen und das Rätsel des Twyford Code zu lösen. Worum es sich beim Twyford Code handelt? Geduld…

Gleich zu Beginn erfährt die Leserschaft mehr über die Eigenschaften und etwaigen Einschränkungen der Transkriptionssoftware in Form einer Werbeanzeige und Legende. So werden zum Beispiel anstößige Worte nicht ausgeschrieben, Pausen oder Husten entsprechend dargestellt. Nicht jede im Slang gesprochene Aussage wird perfekt übermittelt: aus „‘ne andre Erklärung hab ich nicht“ wird „Ne andre Erklärung Habicht nicht“ oder aus „da bekommt er auf einmal so ’n panischen Blick“ wird „da bekommt er auf einmal Sohn panischen Blick“.

Schnell bekommt man beim Lesen jedoch ein Gespür für diesen Stil. Man liest sich ein, gewöhnt sich an die neue Schreibweise. Und ein bisschen ist dies, wie wenn man selbst eine gewisse neue Art des Lesens lernt.
Und Kompliment auch an die Übersetzerin Stefanie Kremer, denn ich stelle es mir gar nicht so leicht vor, das entsprechend ins Deutsche zu übertragen.

„Das ist die Chance, dein Leben noch mal ganz von vorn anzufangen, aber mit Möglichkeiten, die du vorher nicht hattest. Der zu sein, der du sein willst. Der du hättest sein sollen. Aber ich weiß nur zu gut (…) wenn du kriegst, was du dir wünschst, verlierst du, was du hast.“

(S.255)

Steven Smith trägt seit Schulzeiten ein Trauma mit sich herum. Zufällig fand er damals im Bus ein Buch der Autorin Edith Twyford, doch da er des Lesens nicht mächtig war, überließ er dies seiner Lehrerin Miss Trout. Die war daraufhin der festen Überzeugung, darin den Schlüssel für einen geheimen Code gefunden zu haben. Kurz darauf verschwand sie auf einem Schulausflug spurlos und für immer…

Der tragische Vorfall und das ungelöste Rätsel hat Steven seitdem nie mehr losgelassen und nach seinem Gefängnisaufenthalt versucht er viele Jahre später dem alten Geheimnis endlich auf die Spur zu kommen.

Kann er den Code jetzt entschlüsseln?
Ist dieser tatsächlich in Twyfords Büchern zu finden?
Und was hat es mit dem Fisch auf sich, der ihm während der Recherchen immer wieder begegnet und zudem auch prominent auf dem schönen Cover der gebunden Ausgabe prangt?

Man kann „Der Twyford Code“ einfach als spannenden und unterhaltsamen Krimi in innovativer und außergewöhnlicher Form lesen. Doch blickt man ein wenig tiefer, liest zwischen den Zeilen und denkt über die Hintergründe nach, so hat Hallett thematisch noch deutlich mehr eingearbeitet.

„Schockierende fünfzig Prozent der im Vereinigten Königreich Inhaftierten haben entweder große Schwierigkeiten mit dem Lesen oder sind gänzlich Analphabeten.“

(aus dem Nachwort der Autorin, S.428)

Denn es geht darum, was es bedeutet nicht oder nur schlecht lesen zu können. Wie kommt man damit klar? Mit welchen Problemen hat man zu kämpfen? Was verpasst man? In ihrem Nachwort erklärt die Autorin, dass gerade unter Inhaftierten die Quote der Personen mit Leseschwäche besonders hoch ist. Und es gibt wohltätige Organisationen, die sich dieses Problems annehmen. Sie beschreibt das sehr schön, wie ich finde:

„Diese Wohltätigkeitsorganisation unterrichtet Lesen und Schreiben in Gefängnissen und hilft damit, den Teufelskreis der Rückfälligkeit durch die Kraft des Geschichtenerzählens zu durchbrechen.“

(aus dem Nachwort der Autorin, S.428)

Denn es geht im Twyford Code eben auch um die Macht der Literatur. Darüber, was Bücher und Geschichten bei Menschen auslösen, bewegen und ändern können.
Eine Aussage, mit der Hallett bei mir offene Türen einrennt und sich sofort noch weiter in mein Herz schreibt. Denn gerade Kindheits- und Jugendlektüren oder eben frühe, erste Lektüren prägen oft ein Leben lang.

Ein außergewöhnliches, besonderes Buch mit versteckten Botschaften und wichtigen Aussagen, das beim Lesen und Enträtseln große Freude macht und eine spannende Zeit schenkt. Mehr als ein Krimi – anders, erfrischend anders!

Ich freue mich jetzt schon auf alles Weitere, was da von Janice Hallett zukünftig noch kommen mag. Eine Autorin, die in Großbritannien bereits sehr erfolgreich ist und die ich definitiv im Auge behalten werde.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Atrium Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Janice Hallett, Der Twyford Code
Aus dem Englischen von Stefanie Kremer
Atrium
ISBN: 978-3-85535-178-7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Janice Halletts „Der Twyford Code“:

Für den Gaumen (I):
Kulinarisch steht das Buch auch im Zeichen des Fischs und was läge da bei einem britischen Krimi näher als natürlich „Fish ‘n‘ Chips am Meer“ (S.98).

Unter anderem auf dem Blog Küchenereignisse findet sich das passende Rezept.

Für den Gaumen (II):
Von der „Bowl mit rohem Fisch und Bohnen“ (S. 251) ist Steven jedoch nicht so begeistert. Die wird dann schnell mal elegant im Handschuhfach des Autos „versteckt“.

Zum Weiterlesen (I):
Ich kann mich nicht mehr wirklich erinnern, ob ich William Goldings „Herr der Fliegen“ zu Schulzeiten gelesen oder nur ein sehr einprägsames Referat dazu gehört habe… Für Steven Smith ist dieser Roman aus dem Jahr 1954, der die Geschichte von Jugendlichen erzählt, die nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel auf sich allein gestellt sind, eine Offenbarung.

William Golding, Herr der Fliegen
Übersetzt von Peter Torberg
Fischer Taschenbuch
ISBN: 978-3-596-90667-3

Zum Weiterlesen (II):
Auch der erste Krimi von Janice Hallett „Mord zwischen den Zeilen, den ich bereits hier auf der Bowle vorgestellt habe, war stilistisch besonders. Denn er besteht aus emails und Textnachrichten – da gibt es viel „zwischen den Zeilen“ mitzuträtseln. Gefallen hat mir auch, dass eine Laientheatergruppe im Mittelpunkt steht. Ich habe ihn sehr gerne gelesen.

Janice Hallett, Mord zwischen den Zeilen
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-00446-9

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