In der italienischen Bar

Es gibt wohl kaum einen lebendigeren und authentischeren Schauplatz für einen Roman, der in Italien bzw. gar in Neapel spielt, als eine italienische Bar. Die französische Autorin Amanda Sthers hat genau diesen Ort für ihren Roman „Caffè Sospeso“ gewählt und zumindest bei mir startet sofort das Kopfkino: Sofort sieht man Menschen vor sich, die sich angeregt unterhalten, wild gestikulieren, schnell einen Caffè zum Frühstück trinken, einen Blick in die Zeitung werfen und die Neuigkeiten des Tages austauschen, bis das Leben ruft und sie weitereilen.

Der sogenannte „caffè sospeso“ ist übrigens eine ganz wunderbare Tradition:

„Wenn man in Neapel einen Kaffee bestellt, kann man einen zweiten bezahlen, der dann als caffè sospeso auf die Tafel der Bar geschrieben wird: ein „aufgeschobener Kaffee“, ein Kaffee in der Schwebe für jemanden, der später hereinkommt, aber kein Geld für eine Tasse Kaffee hat.“

(S.10)

Gelebter Altruismus und eine schöne Geste des Miteinanders – wie ich finde.

Im Café Nube (was soviel wie Wolke bedeutet) in Neapel herrscht stets reges Treiben und auch die Tafel, auf der eben jener caffè sospeso vermerkt wird, ist meist gut gefüllt.

„Was hier verschenkt wird, ist nicht ein Kaffee, sondern die Welt darum herum, das Spektakel, das man mit anderen teilt, die Blicke, die sich kreuzen, Menschen, die liebenswert sind.“

(S.14)

Erzählt wird aus der Sicht eines französischen Karikaturisten, den das Schicksal nach Neapel verschlagen hat und der oft in einer ruhigen Ecke des Cafés sitzt, zeichnet und die Menschen beobachtet. Als stiller Beobachter und Stammgast, der geradezu schon Teil des Inventars geworden ist, hat er viel erlebt. Er ist Zeuge geworden von vielen großen und kleinen Dramen, Affären, Liebesgeschichten, Krankheit und Tod, Freud und Leid. Von sich selbst gibt er nur wenig Preis, vielmehr stellt er die Geschichten der Anderen in den Vordergrund.

Er berichtet von gebrochenen Herzen, heimlichen und unheimlichen Geliebten, Krokodilledertaschen, Schals, die Unglück bringen, einem chinesischen Arzt mit Heimweh, der legendären Hand Gottes und darüber, was Schlaflosigkeit alles anrichten kann.

Klingt nach einer wilden Mischung? Ja, ist es auch. Aber es ist auch charmant, gewitzt und mit viel Liebe zu Figuren und Details erzählt. Da darf es auch mal schräg sein oder etwas dicker aufgetragen werden – schließlich geht es um „grande passione“ und Geschichten, die das Leben schreibt. Ein bisschen flunkern, erfinden, aufbauschen – um eine gute Geschichte zu erzählen, ist so manches erlaubt.

Die Autorin, die 1978 in Paris geboren ist, in Frankreich bereits zahlreiche Bestseller landen konnte und deren Werke bisher in vierzehn Sprachen übersetzt wurden, hat in diesem Buch aus dem Jahr 2022, viele neapolitanische und italienische Themen verarbeitet: sie streift die Camorra, die politische Situation und Matteo Salvini ebenso wie Diego Maradona, die Beziehung zur Kirche oder den Aberglauben. Da dürfen die traditionellen Weihnachtskrippen ebenso auftauchen wie Elena Ferrante. Doch auch zeitgeschichtlich aktuelle oder tagespolitische Ereignisse, wie die Corona-Maßnahmen während des Lockdowns oder die Haltung zu Themen der Homosexualität werden angerissen.

„Italien ist ein Land, in dem man auch nachts immer eine Möglichkeit findet, um Blumen zu kaufen. Das sagt alles. Über den Umgang mit Unglück, mit Freude, mit Symbolen und mit Leidenschaft.“

(S.173)

Sthers Roman, der im Grunde aus sieben Geschichten bzw. Episoden aus vier Jahrzehnten – zwischen 1982 und 2020 – besteht, ist aber auch ein leidenschaftliches und phantasievolles Buch. Stellenweise fühlte ich mich bei der Lektüre an „Die fabelhafte Welt der Amélie“ erinnert. Denn da entfaltet sich eine eigene Magie, da tauchen auch Phantompandas auf… und auch der rote Faden scheint sich manchmal zu verwirren…

„Bücher sind Träume, die jemand anderes uns ausleiht.“

(S.193)

Eine italienische Bar ist das pralle Leben, gleichsam ein Konzentrat der Welt auf engem Raum bzw. ein Sammelbecken aller erdenklichen Gefühle und sämtlicher Themen zwischen Himmel und Erde. Und Amanda Sthers‘ „Caffè Sospeso“ ist eine quirlige und bunte Liebeserklärung an Italien, Neapel und die italienische Bar, die man wunderbar einfach mal wegschmökern kann, wenn das Fernweh, das Verlangen nach Urlaub oder die Italiensehnsucht wieder einmal zu groß geworden sind.

Und vielleicht sollte man bei einer guten Tasse Kaffee auch mal darüber nachdenken, ob die schöne Tradition des caffè sospeso nicht auch eine schöne Idee für das heimische Stammcafè wäre… im Café Nube funktioniert diese auf jeden Fall ganz prächtig.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim ARCHE Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Amanda Sthers, Caffè Sospeso
Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig
ARCHE
ISBN: 978-3-7160-0004-5

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Caffè Sospeso“:

Für den Gaumen (I):
Es gehört zum italienischen Lebensgefühl, seinen caffè – in Deutschland meist Espresso genannt – oder Cappuccino nicht zu Hause, sondern in einer Bar, zum Beispiel auch „al banco“, d.h. im Stehen direkt am Tresen zu trinken. Dazu ein Cornetto… mmmh.

Für den Gaumen (II):
Und nur zu gern würde ich auch folgenden Gaumenschmaus probieren:

„Manchmal kommt Lucia morgens eine Stunde früher, um ihnen sfogliatelle ricce zu backen, geripptes Blätterteiggebäck, nach dem Rezept, das ihr ihre Mutter beigebracht hat, oder sfogliatelle frolle mit Ricottafüllung, die aussehen wie Miniaturtörtchen.“

(S.68)

Zum Weiterhören:
Der Kirchenchor im Roman und in der Nachbarschaft des Café Nube scheint ein ganz besonderer zu sein:

„Wenn wir „Et in terra pax“ von Vivaldi sangen, baute sich eine erotische Spannung auf, die uns oft in den siebten Himmel führte.“

(S.158)

Zum Weiterlesen:
Was Neapel angeht, so kommt man natürlich an der Neapel-Saga von Elena Ferrante nicht vorbei. Auch ich habe damals beim Erscheinen der deutschen Übersetzung alle vier Teile regelrecht verschlungen. Und auch Amanda Sthers hat der italienischen Autorin in „Caffè Sospeso“ eine kleine Hommage gewidmet:

„Ich öffnete den Umschlag und entdeckte das Manuskript, die unkorrigierte Druckfahne zu Meine geniale Freundin von Elena Ferrante. Ich hätte es wissen müssen, nur Frauen können einem eine bleibende Erinnerung an eine Begegnung hinterlassen, die nicht einmal stattgefunden hat.“

(S.147)

Den Auftakt der 4-bändigen Reihe bildet:

Elena Ferrante, Meine geniale Freundin
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Taschenbuch
ISBN: 978-3-518-46930-9

11 Kommentare zu „In der italienischen Bar

  1. Liebe Barbara, es gibt längst „aufgeschobenen Kaffee“ in Deutschland. Es gab mal eine Initiative namens „Suspended Coffee“, https://suspendedcoffee.de/ , ich weiß aber nicht, ob und wie aktiv die noch sind.
    Ansonsten macht deine Buchbesprechung wieder mal wirklich Lust aufs Lesen. 😉
    Frühabendgrüße 🌤️🌿🎶🍵🍪

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    1. Danke, Christiane. Es freut mich, wenn ich ein bisschen inspirieren und Leselust wecken konnte.
      Und danke auch für den Link. Hier in meiner Heimatstadt ist mir suspended coffee noch nicht begegnet. Ist vermutlich auch nicht ganz einfach, solche Ideen zu „verpflanzen“ bzw. hier umzusetzen. Ist ja auch eine Frage, wie verbreitet die „Kaffee- oder Tagesbarkultur“ generell ist. Im Buch ist der Gedanke der Solidarität und des Miteinanders wichtig und wird durch den caffè sospeso einfach auch schön symbolisiert bzw. untermauert. Herzliche Feierabendgrüße nach Hamburg 🌤️🌿🎶🍵

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  2. Ja, ich habe auch plötzlich Lust bekommen, in einem italienischen Café zu verweilen und die Seele baumeln zu lassen! Und nebenher Cappuccino zu trinken und die Hitze innen wie außen zu genießen!! Danke für die schöne Besprechung!!

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    1. Gern geschehen, Alexander. Das freut mich. Mit der Hitze außen ist es zwar hier gerade vorübergehend vorbei. Gestern gab es sogar etwas Schneeregen, aber auch da darf man ruhig ein wenig in Italiensehnsucht schwelgen… herzliche Grüße! Barbara

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  3. Liebe Barbara,

    dankeschön für die wohlschmeckende Lektüre und Empfehlung.

    Die Verortung in Neapel und die bunte Stimmung des Roman-Cafés erinnern mich aus der Ferne an Luciano de Crescenzo, „Also sprach Bellavista“, „Oi dialogoi“ mit seinem Nachbarschafts- und Stadtphilosophen Bellavista. Da fragt sich natürlich auch, ob der im „Café Nube“ auftaucht? Dies musst Du natürlich nicht verraten …

    In dem ein oder anderen hiesigen Szenelokal hab‘ ich so eine aufgeschobene Kaffeekasse schon gesehen.

    Das Aprilwetter ist diesmal erstaunlich ausgeprägt. Kalte Nässe regt natürlich an zum Schmökern am Wochenende. Viel Vergnügen beim Buchkaffee und schöne Grüße

    Bernd

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    1. Lieber Bernd,

      Es freut mich, wenn es gemundet hat.
      Ja, das wechselhafte Wetter: von italienischem Stadtsommer bis hin zu spätem Schneeregen ist diesen Monat schon alles dabei gewesen und der April legt sich ins Zeug, seinen Ruf zu bewahren.
      Ich denke auch, dass das zu erwartende Wochenendwetter zum Philosophieren und Lesen einladen wird.
      Und schön, dass die Nürnberger Lokalszene der Idee des Caffè Sospeso gegenüber offensichtlich aufgeschlossen ist.
      Ich wünsche ebenfalls herzlich ein schönes, abwechslungsreiches Aprilwochenende mit allem, was dazugehört! ☕️🥐
      Barbara

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  4. Das Buch hätte ich letztes Wochenende in Neapel gut gebrauchen können. Habe eine Menge Espresso in diversen Cafes getrunken, allerdings nicht „Sospeso“ betrieben oder mitbekommen, finde es aber eine sehr schöne Idee. Hatte aus den USA davon gehört, denke aber auch, so ganz einfach lassen sich solche Ideen nicht langfristig von einem Land ins andere verpflanzen. Neapel hat definitiv eine starke Kaffee-Kultur, da passt „Sospeso“ sehr gut hin 🙂

    Danke für den schönen Buch-Tipp und liebe Grüße, Sabine

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    1. Oh, Du warst in Neapel. Wie schön. Ich habe es bisher noch nicht dorthin geschafft – nur lesend. Dann warte ich mal gespannt, ob ich mich bei Dir auf dem Blog bald auf einen „Neapel by the book“-Beitrag freuen darf. Stoff dafür gäbe es sicher genug… 🙂 Ganz herzliche Grüße aus dem stürmisch-verregneten, leider daher heute sehr unitalienischen Landshut! Schönes Wochenende – so wie es aussieht ja wetterbedingt mit viel Zeit zum Lesen und Kaffeetrinken! ☕️🥐📚 Barbara

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