Die denkende Frau

Manche Bücher sind wie eine Faust in die Magengrube. Sie treffen einen, rauben den Atem und machen sprachlos. Und wenn dieses Buch dann bereits aus dem Jahr 1906 stammt und von einer Frau geschrieben wurde, die so hellsichtig und klar ihre persönliche Lage und die Stellung der Frauen in der Gesellschaft mit all ihren Problemen analysiert, die in vielen Aspekten leider immer noch aktuell und geradezu zeitlos erscheinen, dann ist das hochgradig faszinierend. Die italienische Autorin Sibilla Aleramo (1876 – 1960) hat ihr Werk, das jetzt in einer neuen, frischen Übersetzung von Ingrid Ickler auf deutsch erscheint, ganz einfach „Una donna“ genannt – „Eine Frau“. Und obwohl es im Roman um eine Frau geht – und zwar eine, die stark autobiografische Züge Aleramos trägt – geht es eben nicht nur um sie und ihr persönliches Schicksal, sondern dieses Leben steht für die Lebensumstände und die Schicksale so vieler Frauen der damaligen Zeit – und in Teilen leider auch noch heute.

Aleramos Ich-Erzählerin wächst zunächst behütet im Kreise der Familie und mit ihren Geschwistern in Mailand auf. Der Vater bekommt die Leitung einer Fabrik im Süden des Landes übertragen und die Tochter bewundert ihn, himmelt ihn an. Doch nach und nach beginnt das Ideal der Vaterfigur zu bröckeln. Die Beziehung der Eltern ist nicht glücklich. Die Mutter leidet an Depressionen und versucht sich das Leben zu nehmen.

„Das Dorf war wirklich voller Heuchelei. Tatsächlich wurden die Eltern, sei es in der Oberschicht, sei es bei den Arbeitern, skrupellos ausgebeutet und schlecht behandelt. Vor allem die Mütter ertrugen diese quälende Situation, ohne ein Wort zu sagen. Die Ehefrauen belogen ihre Männer, was ihre Ausgaben anging, kein Mann brachte seinen gesamten Lohn mit nach Hause. Nur wenige Paare nahmen es genau mit der Treue, nicht wenige Männer hatten eine Geliebte, die entweder allein lebte oder verheiratet war, worüber man natürlich nicht sprach.“

(S.79)

Die namenlose Erzählerin im Roman ist ehrgeizig, fleißig und wissbegierig. Doch als Frau muss sie früh zu arbeiten beginnen, tritt als angestellte Buchhalterin in die Firma des Vaters ein und wird dort von einem Mitarbeiter vergewaltigt, den sie später heiratet.

„Denken, denken! Wie war ich nur so lange ohne das Nachdenken ausgekommen? Menschen und Dinge, Bücher und Landschaften, alles bot Stoff zum Nachdenken für mich. Bestimmte Gedanken überraschten mich, andere waren naiv, ich belächelte sie, wieder andere waren so faszinierend, dass ich sie bewundern musste, als ob sie, gut ausformuliert, dazu bestimmt waren, die breite Masse zu bewegen.“

(S.143)

Sie wird Mutter und gefangen in einer unglücklichen Ehe scheint sich Geschichte zu wiederholen. Auf einmal entwickelt sie ein deutlich besseres Verständnis für ihre Mutter und deren Schicksal. Zunächst scheinen ihr nur ihre Gedankenwelt und Lektüren kleine Fluchten aus dem Alltag und ihrer Zwangslage zu bieten.

„In diesen Tagen der unendlichen Einsamkeit, der Stille hoffnungslos und ohne jeden Glauben, fand ich Rettung in einem Buch.“

(S.127)

Sie beginnt zu schreiben und es gelingt ihr auf sehr kluge, kristallklare und messerscharfe Weise ihre Situation zu analysieren. Sie erkennt Strukturen, Zusammenhänge, Ursachen und Mechanismen, welche ihr Leben als Frau bestimmen und prägen.

„Und ich schrieb, eine Stunde, zwei, ich weiß es nicht mehr. Die Worte flossen ernst, fast feierlich aufs Papier, ich zeichnete den Zustand meiner Seele nach, fragte mich, wie ich den Schmerz in etwas Tröstliches verwandeln könnte, beschrieb die merkwürdigen, in mir gärenden Gedanken, die ich noch nicht greifen konnte, die aber irgendwann aufblühen würden.“

(S.135)

Aleramo war informiert über die erstarkende Frauenbewegung in England und Skandinavien und wie ihre Heldin im Buch, arbeitete sie als Journalistin, verfasste einen Roman des Aufbegehrens und ein Manifest der weiblichen Emanzipation und fand einen Ausweg aus ihrer unglücklichen Lebenssituation, wie man auch dem informativen und einordnenden Nachwort von Elke Heidenreich entnehmen kann.

„Ich verglich diese Rebellinnen mit der großen Masse der Unwissenden, der Untätigen und Resignierten, den Frauen, die über Jahrhunderte zur Unterwerfung gezwungen worden waren; ich selbst, meine Schwestern, meine Mutter, alle Frauen meiner Umgebung waren dafür die besten Beispiele.“

(S.145/146)

Man kann sich sehr gut vorstellen, dass dieser Roman bei Erscheinen im patriarchalisch geprägten Italien und in ganz Europa einem wahren Paukenschlag glich. So etwas Unerhörtes hatte man noch kaum gelesen. Man kann sich den Aufschrei lebhaft vorstellen. Eine Frau, die denkt, liest, schreibt und dann tatsächlich auch noch ein Buch darüber schreibt, was sie denkt – kein Wunder, dass – laut Klappentext – so namhafte Künstler wie Stefan Zweig, Maxim Gorki, James Joyce oder Auguste Rodin die Urheberin dieses progressiven Werks unbedingt kennenlernen wollten.

„Ein Buch, das Buch … Ich träumte weiß Gott nicht davon, es zu schreiben. Aber manchmal drängte sich dieses Buch in meine Gedanken, ich spürte, dass es gebraucht wurde, ein Buch über die Liebe und den Schmerz, das gleichsam zerstörerisch und fruchtbar war, unerbittlich und voller Mitleid, ein Buch, das der ganzen Welt zum allerersten Mal die moderne weibliche Denkweise zeigte.“

(S.156)

„Eine Frau“ ist – gerade auch im Kontext zur zeitlichen Entstehung gesehen – ein sensationelles, ein schonungsloses und ein analytisch brillantes Buch, das auch heute – 115 Jahre nach seinem Entstehen – den Finger in Wunden legt.
„La Repubblica“ hat Sibilla Aleramo als die „erste feministische Autorin Italiens“ bezeichnet, die es zweifelsohne verdient hat, dass ihre Botschaft auch heute noch Gehör und Aufmerksamkeit findet und gelesen wird.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eisele Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Sibilla Aleramo, Eine Frau
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
Eisele Verlag
ISBN: 978-3-96161-185-0

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Sibilla Aleramos „Eine Frau“:

Zum Weiterschauen bzw. für einen Kinobesuch:
Ich habe es vor kurzem wieder einmal ins Kino geschafft und der italienische Film „Morgen ist auch noch ein Tag“ (Originaltitel: C’è ancora domani) ist wirklich sehr, sehr sehenswert. Der Schwarz-Weiß-Film, der 2023 in Italien der erfolgreichste Film des Jahres war und mehr Kinobesucher zählte als „Barbie“ und „Oppenheimer“, thematisiert den harten Alltag einer Ehefrau im Rom des Jahres 1946, die häuslicher Gewalt und Missbrauch ausgesetzt ist und sich für ihre Tochter eine andere Zukunft wünscht. Und trotz aller Schwere punktet der Film mit Humor und einer absolut grandiosen Hauptdarstellerin und Regisseurin Paola Cortellesi. Eine perfekte, filmische Ergänzung zu Sibilla Aleramos Roman.

Zum Weiterlesen (I):
Aleramo schreibt, dass sie sich über die Frauenbewegungen in England und Skandinavien informierte. Zwei Jahre nach Aleramo hat die Schwedin Elin Wägner 1908 ihren RomanDie Sekretärinnen veröffentlicht, der die Geschichte junger Stockholmerinnen erzählt, die versuchen, sich aus dem klassischen Rollenbild der Frau zu befreien. Auch diesen Roman habe ich bereits hier auf der Kulturbowle vorgestellt.

Elin Wägner, Die Sekretärinnen
Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn
Ecco Verlag
ISBN: 978-3-7530-0060-2

Zum Weiterlesen (II):
Bis zum feministischen Klassiker von Virginia Woolf „A Room of One’s Own“ vergingen nach dem Erscheinen von Aleramos „Una Donna“ tatsächlich noch 23 Jahre – das Werk erschien 1929. Es gibt eine schöne englischsprachige Ausgabe der Insel Bücherei, mit der ich schon eine Weile liebäugle…

Virginia Woolf, A Room of One’s Own
Englischsprachige Ausgabe
Insel Bücherei Nr. 1468
ISBN: 978-3-458-19468-2

7 Kommentare zu „Die denkende Frau

  1. Am Anfang hat mich das Buch reingenommen wie ein Sog, ich las und las. Doch ab etwa der Hälfte hat es mich verloren. Da kippte die Stimmung, der Ton, es wurde für mich zu viel Befindlichkeit und zu sehr egozentriert. Ich habe, was ich selten tue, sehr spät doch abgebrochen.

    Vielleicht sollte ich ihm noch eine Chance geben, vielleicht war das für mich aber auch genau richtig so. Mal sehen.

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    1. Ich glaube, dass es oft sehr auch von der Tagesform und persönlichen Stimmung abhängt, ob ein Buch einen packt oder nicht. Ich habe selbst schon die Erfahrung gemacht, dass nicht immer die richtige Zeit für ein bestimmtes Buch ist. Gegebenenfalls ist es zu einem anderen Moment dann aber genau richtig. Du wirst sicher merken, ob es Dich nochmal reizen wird, weiterzulesen oder nicht.
      Und auch ich habe über die Jahre mehr Mut entwickelt, Bücher auch abzubrechen, wenn ich merke, dass sie nicht oder gerade nicht passen, obwohl das nach wie vor nicht sehr häufig vorkommt. Herzliche Grüße!

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    1. Lieber Bernd,
      Ja, es ist gut, dass man nach der Lektüre auch ein wenig Zeit vergehen lassen kann, um dann zu versuchen, langsam Worte zu finden… Wenn mir das gelungen ist und ich einen Eindruck meiner Leseerfahrung vermitteln konnte, freut es mich. Herzliche Grüße nach Nürnberg! Barbara

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