Es gibt Bücher, da verliebt man sich bereits in den Umschlag bzw. das Bild auf dem Titel, wie in meinem Fall bei Clare Chambers’ neuem Roman „Scheue Wesen“. Ist diese zauberhafte Blaumeise auf der deutschen Ausgabe des Eisele Verlags nicht einfach wunderbar? Und das Buch wird dem zarten, fein gezeichneten Charakter auch noch sprachlich und inhaltlich absolut gerecht.
London in den Sechziger Jahren – den „Swinging Sixties“ oder auch „Roaring Sixties“ – Carnaby Street, Miniröcke, die Beatles… doch Helen Hansford hat wenig Zeit für wilde Parties und Shopping ausgefallener Mode, geschweige denn das Bedürfnis aus dem gesellschaftlichen Rahmen zu fallen.
Sie arbeitet als Kunsttherapeutin an einer Klinik, kümmert sich dort um ihre Schützlinge und ihre Freizeit verbringt sie damit, ihre Pläne stets für die heimliche Affäre mit ihrem verheirateten Kollegen Dr. Rudden auszurichten, der sie jedoch auch ein ums andere Mal versetzt.
„Manchmal fragte sie sich, zum Beispiel im Hinblick auf ihre eigene Beziehung, ob unendliche Geduld wirklich so eine Tugend war oder nur eine Art, unbequemen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen.“
(S.132)
So steckt Helen ein ums andere Mal ihre eigenen Bedürfnisse zurück, wartet oft einsam in ihrer Wohnung auf den Geliebten, wenn sie sich nicht gerade um ihre Familie, zum Beispiel die pubertierende und verunsicherte Nichte Lorraine kümmert, die gerade Krach mit den Eltern zu Hause hat und therapeutische Unterstützung benötigt. Helen ist diejenige, die sich kümmert, die gibt ohne zu fordern. Dabei hatte sie doch auch einmal andere Pläne für ihr Leben, Ambitionen für ihre Kunst.
Als plötzlich ein Mann in die Einrichtung eingeliefert wird, der stumm ist, körperlich in schlechtem Zustand und offenbar viele Jahre das Haus seiner alten Tante nicht mehr verlassen hat, die ihn vor der Öffentlichkeit versteckt hielt, wird Helen schnell klar, dass er besondere Hilfe benötigt. Sie versucht daher über die Kunst Zugang zu ihm zu finden, zumal sie entdeckt, dass er eine enorme Begabung fürs Zeichnen und Malen besitzt.
„Er saß da und schaute sie zehn Minuten auf die aufmerksame Art an, wie er es immer tat, bevor er anfing, etwas zu zeichnen, als wollte er es wirklich in sich aufnehmen, in all seiner besonderen, lebendigen Schönheit. Dann arbeitete er wie in Trance, seine rechte Hand flog nur so über das Blatt und bedeckte es mit einem filigranen Muster dünner Linien. Es musste heute getan werden – das Licht, das sich die ganze Zeit veränderte, würde morgen schon wieder ganz anders aussehen. Er konnte gar nicht schnell genug arbeiten, die Sonne ging schon unter, die Schatten wurden immer länger.“
(S.165)
Zwischen den beiden entsteht eine Verbindung – vielleicht auch da beide auf ihre jeweilige Art und Weise in ihrer ganz eigenen Welt leben und vielem zurückhaltend und vorsichtig gegenüberstehen.
So wie bei William versucht wird, ihn behutsam aus seiner Isolation zu lösen, muss wohl auch Helen einen Schritt hinaus in die Welt machen, vor der sie sich lange als Geliebte in einer heimlichen Beziehung versteckt und zurückgezogen hat.
Hier passt der Titel „Scheue Wesen“ (im Original „Shy Creatures“) wunderbar, der auch im Aspekt der Liebe zu Tieren immer wieder im Roman Anklänge findet.
Chambers nimmt sich Zeit und sehr viel Liebe für ihre Figuren. Sie arbeitet sehr gekonnt kleinste Feinheiten, Verhaltensweisen und Gefühlszustände ihrer Charaktere heraus, so dass wunderbare, tiefgründige und ausdrucksstarke Porträts ihrer ProtagonistInnen entstehen, die einem unweigerlich ans Herz wachsen.
Sie rückt vermeintliche Außenseiter ins Zentrum ihres Romans, schenkt ihnen Aufmerksamkeit und gibt ihnen Raum. So wie sich Helen im Buch um William annimmt und ihm im Rahmen der Kunsttherapie Wertschätzung und Zuwendung schenkt, behandelt auch Chambers ihre Figuren mit Respekt und Empathie.
Sprachlich ist das sehr rund und stimmig und auch die feine, gefühlvolle Übersetzung von Wibke Kuhn hat hier einen nicht unerheblichen Anteil am Lesegenuss.
Thematisch sind gerade auch die Beschreibungen der Aktivitäten im Rahmen der kunsttherapeutischen Maßnahmen sehr interessant und wertvoll zu lesen. Die Autorin macht klar, welche Wirkung und Kraft die Beschäftigung mit Kunst haben bzw. wie sie zum Ventil und zur Ausdrucksform werden kann.
Clare Chambers, die 1966 in London geboren wurde, ist eine Autorin, die sehr genau hinsieht und eine sehr liebenswerte, wertschätzende und gewinnende Art zu schreiben hat, die sich sehr angenehm liest. So ist „Scheue Wesen“ nicht nur das Buch mit einem der schönsten Cover dieses Jahres, sondern auch eine heilsame und hoffnungsfrohe Lektüre, die Mut macht, sich zu öffnen und ohne kitschig zu sein, viel über Beziehungen, Familiengeflechte, Freundschaft, Liebe, Zuneigung, aber auch darüber erzählt, was es bedeutet, seinen eigenen Weg zu finden, auf die inneren, persönlichen Bedürfnisse zu hören und sich selbst treu zu bleiben.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eisele Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Mit „Scheue Wesen“ habe ich einen weiteren Punkt meiner „24 für 2024“ erfüllt – Punkt Nummer 23) auf der Liste: Ich möchte ein dickes Buch (lt. Definition von Nordbreze > 500 Seiten) lesen. Ich habe zwar dieses Jahr schon dickere Bücher gelesen, aber bislang nicht näher auf dem Blog vorgestellt. Dieser Roman liegt aber immerhin auch minimal über 500 Seiten und passt somit auch für diese Kategorie.

Buchinformation:
Clare Chambers, Scheue Wesen
Aus dem britischen Englisch von Wibke Kuhn
Eisele
ISBN: 978-3-96161-196-6
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Clare Chambers „Scheue Wesen“:
Für den Gaumen:
Kulinarisch lässt Clare Chambers keine Zweifel aufkommen, dass wir uns in Großbritannien bewegen:
„Zum Nachtisch gab es noch eine Scheibe Brotpudding mit Vanillesauce, so sparsam gesüßt, als wäre Zucker immer noch rationiert.“
(S.125)
Passende Rezepte für Brotpudding gibt es unter anderem auf den Blogs „Tea and Scones“ oder „A decent cup of tea“.
Zum Weiterhören (I):
Eine gut gelaunte Tante spielte auf dem Klavier „Someone to Watch Over Me“ (S.298) – komponiert von George Gershwin für das Musical „Oh Kay!“, das 1926 auf dem Broadway uraufgeführt wurde.
Hier auf YouTube in einer romantischen Version von Ella Fitzgerald nachzuhören.
Zum Weiterhören (II):
Deutlich lebhafter geht es da mit einer Nummer aus den Sixties zu:
„Chubby Checker war im Radio gekommen, und sie war aufgesprungen und hatte seine Hände genommen, um ihm zu zeigen, wie man Twist tanzt.“
(S.358)
Zum Weiterlesen:
Für alle, die auf den Geschmack von Clare Chambers Schreibstil und Figurenzeichnung gekommen sind, 2021 hatte ich bereits ihren Roman „Kleine Freuden“ hier auf dem Blog vorgestellt, der im London der 50er Jahre spielt und für den Women’s Prize for Fiction 2021 nominiert war.
Clare Chambers, Kleine Freuden
Aus dem Englischen von Karen Gerwig
Eisele
ISBN: 978-3-96161-116-4
Ein Kommentar zu „Heilsame Kunst“