Versunkene Stadt des Vaters

Marta Barones autofiktionaler Debütroman, der jetzt in der deutschen Übersetzung den leicht sperrigen Titel „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ erhalten hat, erschien 2020 in Italien mit dem Originaltitel „Città sommersa“ – frei übersetzt, die versunkene Stadt. Denn die italienische Autorin, die 1987 in Turin geboren ist, macht sich nicht nur daran ihre Geburtsstadt neu zu erkunden, sondern begibt sich vor allem auch auf die Spuren ihres verstorbenen Vaters, der – wie sie nach seinem Tod entdeckt – in den Siebziger Jahren in einer linksradikalen Bewegung aktiv war.

„Ich weiß nicht mehr, wann ich erfahren habe, dass mein Vater im Gefängnis gewesen war. Ich erinnere mich weder daran, wer es mir erzählt hat, noch an die Umstände noch daran, wie alt ich damals war – ich muss aber noch ziemlich klein gewesen sein.“

(S.42)

Wer war dieser Leo Barone, der so früh an Krebs verstorben ist und im Leben seiner Tochter aufgrund seines unsteten Lebenswandels immer nur sporadisch eine Rolle spielte? Nach seinem Tod tauchen Dokumente auf, Akten zu einem Prozess, in dem er angeklagt wurde, Mitglied einer linksradikalen Bewegung gewesen zu sein. Als Arzt hätte er Mitglieder der Prima linea – einer Terrorgruppe – behandelt. Jene Prima linea, die bewaffnete Überfälle durchführte, unter anderem auch auf das Fiat-Hauptquartier 1976.

„Meine Familie – und damit meine Kindheit – war ebenso skurril wie glücklich. Ich wuchs in einem ganzen Wald aus Erwachsenen auf, von denen fast keiner mit mir verwandt war, aber alle dazu beitrugen, mich zu dem zu machen, was ich heute bin, und mein Leben mit Liebe erfüllten, mit herrlichen, rätselhaften Dissonanzen, mit Bildern, die niemals ihre Kraft verlieren werden.“

(S.70)

Es waren die aufgeheizten und turbulenten Zeiten der Siebziger und Achtziger Jahre in Italien. Marta Barone taucht immer tiefer ab in die Geschichte ihres Vaters, versucht durch Gespräche mit Wegbegleitern und Bekannten, unter anderem mit seiner zweiten Frau, mehr über ihn und seine bewegte Vergangenheit zu erfahren.

„Ich hatte geglaubt, ihn zu kennen. Ihn bis in seine nebligsten, gröbsten, niedrigsten Winkel und in seinen schwächsten Momenten zu kennen. Ich hatte geglaubt, ihn von Kopf bis Fuß verstanden zu haben. Jetzt aber musste ich mir eingestehen, dass ich ihn längst nicht so gut kannte wie gedacht – ja, dass ich ihn womöglich gar nicht kannte.“

(S.115)

Warum hatte er den Arztberuf aufgegeben? War er wirklich ein Terrorist? Was waren seine Überzeugungen? Und was geschah in jener Nacht, in der er verhaftet wurde und nach der er im Gefängnis saß?

Er scheint eine charismatische Persönlichkeit gehabt zu haben, dieser Leo Barone, der aus einer Richterfamilie stammte, demonstrierte, Flugblätter verteilte, Medizin studierte und der so gerne und oft sang. Er wollte anderen Menschen helfen und hatte etwas Gewinnendes, dem man sich kaum entziehen konnte. Und doch blieben da blinde Flecken, Brüche und Abgründe, die nur schwer zu erklären sind.

Marta Barone versucht, sich die Geschichte ihres Vaters Stück für Stück zusammenzusetzen, sie erinnert sich an Szenen ihrer Kindheit, nähert sich über seine Lesebiografie, gräbt in Archiven, sucht Dokumente und Schnipsel, die ein klareres Licht auf ihn werfen. Vor allem führt sie Gespräche mit ZeitgenossInnen und Weggefährten ihres Vaters, die ihr immer wieder neue Seiten offenbaren und sie überraschen. Schritt für Schritt entsteht ein Mosaik mit Leerstellen.

Barone erzählt und erläutert auch geschichtliche Hintergründe, zum Beispiel der kommunistischen Partei Servire il Popolo, die in den Siebziger Jahren in Italien aktiv war. Bei der Lektüre bekommt man ein Gefühl für die politischen Konflikte und die angespannte Atmosphäre der damaligen Zeit.

Indem sie bestimmte Orte, Straßenzüge in Turin aufsucht, die für ihren Vater eine besondere Bedeutung hatten und in seiner Lebensgeschichte eine Rolle spielten, sieht sie letztlich nicht nur die Stadt im Piemont mit neuen Augen, sondern nimmt auch das Leben ihres verstorbenen Vaters aus einem neuen Blickwinkel wahr.

„Diese fremde, zufällig geliebte Stadt, die ihn nun doch noch abgewiesen hatte, diese finstere Stadt, die er nicht hatte begreifen können, die er womöglich nie begreifen würde. Diese Stadt, die an manchen Wintertagen, wenn die Luft eiskalt und klar ist, aussieht wie aus Licht gemacht. Wieso, Stadt, wolltest du mich nicht? Warum habe ich in dir nie einen Platz gefunden?“

(S.337)

Marta Barones Erstling ist ein sehr persönliches, sehr intensives Buch, das jedoch auch einen tiefen Einblick in die italienische Zeitgeschichte der Siebziger und Achtziger Jahre gewährt. Sie hat ein differenziertes, zwiespältiges und kritisches Bild ihres Vaters gezeichnet und doch blitzen auch immer wieder Szenen auf, die einer vorsichtigen Liebeserklärung der Tochter an ihren Vater gleichen. Großartig zu lesen, eindrucksvoll und erhellend – ein emotionale und fein beschriebene Reise in die italienische Vergangenheit und die Familiengeschichte der Autorin, die berührt.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Marta Barone, Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Aus dem Italienischen von Jan Schönherr
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00069-6

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Marta Barones „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“:

Für den Gaumen:
Kindheitserinnerungen sind auch oft an kulinarische Eindrücke geknüpft, so erinnert sich Marta Barone bei Agata unter anderem an Folgendes:

„Von meinen Besuchen als Kind wusste ich noch, dass man von ihrem Balkon aus einen Kirchturm mit einem Bronzeengel auf der Spitze sah; dass sie im Frühling immer ausgezeichnete Frittata mit Kräutern machte; dass ihre Miene und ihre Stimme stets leicht melancholisch wirkten.“

(S.78)

Ein Rezept für diese italienische Eierspeise gibt es unter anderem bei Essen und Trinken oder bei Kraut und Rüben.

Zum Weiterlesen (I):
Barone schreibt auch über den Lesegeschmack ihres Vaters:

„Einmal frage ich ihn nach seinem Lieblingsroman. Wie aus der Pistole geschossen sagte er: „Wahrscheinlich die Erinnerungen des Kaisers Hadrian von Yourcenar. Was Schöneres habe ich nie gelesen.“ “

(S.110)

Marguerite Yourcenar, Ich zähmte die Wölfin: Erinnerungen des Kaisers Hadrian
Aus dem Französischen von Fritz Jaffé
dtv
ISBN: 978-3-423-12476-8

Zum Weiterlesen (II):
Immer wieder musste ich auch an meine Lektüre von Michela Marzanos „Falls ich da war, habe ich nichts gesehen denken, das ich bereits hier auf dem Blog vorgestellt habe. Auf ähnliche Weise wie Barone hatte sie sich jedoch mit der Geschichte ihres faschistischen Großvaters auseinandergesetzt und sich auf familiäre Spurensuche begeben.

Michela Marzano, Falls ich da war, habe ich nichts gesehen
Aus dem Französischen von Lina Robertz
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0150-1

5 Kommentare zu „Versunkene Stadt des Vaters

  1. Schön und geheimnisvoll beschrieben, sodass ich Lust bekomme, auch von diesem Vater zu lesen. Aber lassen sich Menschen aus der Nähe überhaupt verstehen? Und aus der Ferne? Ergibt die Ferne Sinn? Es ist sehr eigenartig, so ein Menschenleben, finde ich.

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    1. Danke, Alexander. Das Buch ist wirklich fesselnd und ja, es wirft Fragen auf, auch diese, die Du stellst. Wie gut kennen wir Menschen wirklich, die wir vermeintlich gut zu kennen glauben? Marta Barone hat durch die Gespräche mit Zeitzeugen und WegbegleiterInnen viele völlig neue Aspekte im Hinblick auf ihren Vater entdeckt. Trotz diesen persönlichen Aspekten fand ich aber auch die italienische Zeitgeschichte spannend beschrieben und ich habe bei der Lektüre viel Neues erfahren. Herzliche Grüße und eine gute Woche! Barbara

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  2. Vielen Dank für die Rezension, sie gefällt mir gut und widerspiegelt vieles von dem, was auch ich in der Lektüre gefunden und empfunden habe.
    Einen kleinen Hinweis noch zu Leonardos Vater: Falls mit dem Ausdruck „Richtersfamilie“ auf den Beruf seines Vaters hingewiesen werden sollte, träfe dies nicht zu, wie zu Beginn des zweiten Teils zu lesen ist. L.B. sagte gegenüber seinen Weggefährten immer nur, sein Vater sei Magistrat, was aber wohl bloss eine Art „Schutzlüge“ ist, die ihm erlaubt, sich besser von ihm abzuwenden. Barone hinterfragt auf 1-2 Seiten diese eigenartig anmutende Falschbehauptung ihres Vaters.

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