Während manche Buchbesprechungen sich quasi von selbst schreiben und geradezu aus einem herausströmen, gibt es Bücher, die einen so tief treffen, dass man erst eine Weile braucht, um sich zu fassen, die einen nach Worten suchen, um jede Formulierung ringen lassen. Neige Sinnos Buch „Trauriger Tiger“ ist ein solches.
Ein Text wie ein Schlag in die Magengrube, der einen fassungs- und sprachlos macht und still werden lässt. Ein Buch, das man nicht unvorbereitet und nur in stabiler Verfassung lesen sollte. Denn in „Trauriger Tiger“ schreibt die Autorin Neige Sinno (Jahrgang 1977) über ihre Kindheit, in der sie über Jahre hinweg von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde. Nach vielen Jahren findet sie, die amerikanische Literatur studiert hat, nun die Worte für das Unaussprechliche, schreibt über ihr Leben, ihr Schicksal als Missbrauchsopfer bzw. die Leidensgeschichte und setzt sich intensiv damit auseinander.
„Ich habe lange Zeit einen Demiurgen in ihm gesehen, ein überlebensgroßes Geschöpf. Er kam mir vor wie ein Fabelwesen, ein Sisyphus, ein von Dämonen gefolterter Prometheus. Später, mit größerem Abstand, sagte ich mir, dass er einfach ein armer Kerl war, der die Gabe der Manipulation besaß und die Verletzlichkeit derer ausnützte, die schwächer waren als er. Er war wahrscheinlich zwei Personen gleichzeitig, ein Titan und ein Jammerlappen. Ist es nicht besser, Opfer des Ersten als des Letzteren zu sein?“
(S.18)
Analytisch, reflektiert und mit eindringlicher Sprache portraitiert sie ihr familiäres Umfeld und auch ihren Stiefvater, der sie – die Ältere zweier Schwestern – über Jahre hinweg missbrauchte. Und immer wieder zieht sie Parallelen zur Literatur – schon vor ihren Text stellt sie ein Zitat aus Vladimir Nabokovs „Lolita“ – und befasst sich auch mit der sprachlichen, literarischen Umsetzung des Themas sexueller Missbrauch von Kindern. Literatur scheint gleichsam zu einem Rückzugsort und zu einem Anker für sie geworden zu sein. Über Literatur versucht sie zunächst zu verstehen und Erklärungen zu finden, sich aber auch kritisch mit der Darstellung sexueller Gewalt auseinander zu setzen, klar zu legen, was für sie als Opfer nachvollziehbar bzw. plausibel ist und was nicht.
„Und trotz der erdrückenden Präsenz des Stiefvaters, der das Gespräch in die Hand nahm, die Unternehmungen, das Herumreichen der Teller, die Mahlzeit, den Spazierweg, alles, und trotz seiner Autorität, die einen so ungeheuerlichen Einfluss auf uns ausübte, klaubten wir in diesen zwei Stunden, die wir den Tagen der Verzweiflung abringen konnten, die köstlichen Krümel des verlorenen Paradieses der Jahre mit unserem Vater auf, lutschten sie genussvoll wie stimmungsaufhellende Pastillen, die es uns ermöglichten, die Realität unseres jetzigen Lebens mit der Paralleldimension der fröhlichen Welt zu überlagern, die es hätte sein können.“
(S. 68)
Es ist schockierend und schmerzhaft zu lesen, wie die Lebenssituation – der abwesende leibliche Vater, ein schwieriges familiäres Umfeld und gesellschaftliches Desinteresse – den Missbrauch ermöglichen und leider nahezu geräuschlos hinter verschlossenen Türen im Dunklen halten. Sie beschreibt die perfiden Mechanismen des Missbrauchs und das Schweigen darüber. Sie schildert jedoch auch, was sie dazu bewog, dieses Schweigen letztlich zu brechen und ihren Stiefvater vor Gericht und ins Gefängnis zu bringen.
„Noch so ein paradoxes Detail, aber ich erzähle alles genau so, wie es sich ereignet hat. Das Gute an der nichtfiktionalen Literatur ist, dass man auf Wahrscheinlichkeiten pfeifen kann, dass man Tatsachen und Verkettungen von Tatsachen darstellen kann, die inkohärent, ja geradezu unmöglich erscheinen, aber wir dürfen das, und die Leserinnen und Leser müssen uns letztlich vertrauen, wenn wir ihnen sagen, dass es so war.“
(S.141)
Wenn man sich der Lektüre stellt, die einem immer wieder das Herz zerreißt und die einen wütend macht, erhält man einen sehr klarsichtigen und erhellenden Blick aus der Perspektive des Opfers sexueller Gewalt. Explizit, klar und schonungslos – ich kann mich nicht erinnern, das bisher in dieser Form so gelesen zu haben.
„Eines Tages kommt der Augenblick, in dem man davon laufen kann. Man haut ab, bringt sich in Sicherheit. Aber es ist ein seltsames Gefühl, in Sicherheit zu sein, wenn man weiß, dass das Dunkel nicht aufhört zu existieren, nur weil man es verlassen hat.“
(S.249)
Die Autorin beschreibt auch eindrücklich, wie der Missbrauch ihr Leben bis heute prägt, welche Narben und Wunden sie davongetragen hat, die immer wieder aufbrechen, sich in Beziehungen, Verhaltensweisen und in ihrem Alltag immer wieder niederschlagen.
„Ich denke oft darüber nach, was für ein Mensch ich hätte werden können, wenn mir das nicht angetan worden wäre.“
(S.195)
In Frankreich war das Buch ein großer Beststeller und hat fünf sehr renommierte Literaturpreise erhalten, sowie auch den italienischen Premio Strega Europeo 2024 für ein ins Italienische übersetztes Werk aus dem europäischen Ausland. Denn – und das sei explizit nochmal hervorgehoben – es handelt sich bei „Trauriger Tiger“ auch aufgrund der außergewöhnlichen und eindrucksvollen Sprache um großartige Literatur (auch wenn das nichtfiktionale Werk bewusst nicht als Roman bezeichnet wird und werden kann.)
In diesem Beitrag habe ich die Autorin selbst – durch die Anzahl und die Länge der Zitate – stärker zu Wort kommen lassen als sonst in meinen Blogbeiträgen. Vermutlich auch ein Zeichen dafür, dass es mir selbst immer noch schwerfällt, angemessene und richtige Worte für dieses Werk zu finden und ich daher die Autorin und den Text für sich sprechen lasse.
„Trauriger Tiger“ ist ein schmerzliches und doch so wichtiges Buch. Ein Buch, das das Schweigen des Opfers – auch im Namen aller Opfer sexueller Gewalt – bricht, ihnen eine Stimme gibt und das höchsten Respekt verdient. Eine eindringliche Leseerfahrung, die eine neue Perspektive eröffnet und im Idealfall den Blick schärft für das, was um einen herum passieren kann und leider auch tagtäglich passiert.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim dtv Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Neige Sinno, Trauriger Tiger
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
dtv
ISBN: 978-3-423-28422-6
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Neige Sinno „Trauriger Tiger“:
Zum Weiterlesen (I):
Meine „Lolita“-Lektüre liegt viele, viele Jahre zurück. Es ist spannend zu lesen, wie sich die Autorin mit diesem – wohl berühmtesten Werk auf diesem Themengebiet – intensiv (auch anhand expliziter Zitate und Textstellen) auseinandergesetzt hat:
Vladimir Nabokov, Lolita
Übersetzt von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, Gregor von Rezzori
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-22543-7
Zum Weiterlesen (II):
Mir völlig unbekannt hingegen ist der Autor, den Sinno als Vorbild bezeichnet:
„Mein eigentliches Vorbild ist der Autor und Kinderbuch-Illustrator Claude Ponti. Ein Mann, der in seiner Kindheit von seinem Großvater vergewaltigt wurde. Er wird ein großer Künstler, mit einer ganz eigenen Welt, die nichts damit zu tun hat.“
(S.273)
Claude Ponti, Das Schönste Tal der Welt
Aus dem Französischen von Erika Klewer
Moritz Verlag
ISBN: 9783895652219
Ich werde das Buch auch lesen, und auch wegen deiner schöne Besprechung. „Lolita“ habe ich letzten Sommer gelesen und war maßlos enttäuscht von der erzählerischen, sprachlichen Distanznahme, aber ich stehe mit der Meinung etwas alleine – das macht gar nichts. So bleibt immer etwas zu entdecken. Die Zitate, die du anführst, lassen mich auf eine tiefere, intensivere Lektüre hoffen. Nabokovs Spätwerk mochte ich mehr. Viele Grüße!!
LikeGefällt 3 Personen
Neige Sinno hat für „Trauriger Tiger“ wirklich meinen größten Respekt. Es ist – wenn man sich wappnet – wirklich sehr lesenswert. Meine Lolita-Lektüre liegt viel zu lange zurück, daher weiß ich nicht, wie ich es jetzt lesen und bewerten würde und kann mich auch nicht mehr an Vieles erinnern. Allerdings habe ich auch gerade kein Bedürfnis nach einer erneuten Lektüre, da mich gerade andere Bücher deutlich mehr interessieren und noch so viel hier bei mir auf dem Stapel liegt, das mich mehr verlockt… Ich bin gespannt, welche Worte Du für „Trauriger Tiger“ finden wirst… und sende herzliche Sonntagabendgrüße! Barbara
LikeGefällt 2 Personen
Vielen Dank für die Besprechung. Sie hat mich dazu motiviert, das Buch zu lesen. Ein wichtiges Buch, da es zum Hinschauen anhält.
Seite 227: „[S]ie wurden mit der Unmöglichkeit konfrontiert, die menschliche Grausamkeit zu leugnen.“
Besonders stark und prägnant auch die Seiten 236 und 237.
Grüße
Thomas
LikeGefällt 1 Person
Sehr gern geschehen, Thomas. Wenn ich auf dieses – wie Du vollkommen zurecht schreibst – wichtige Buch aufmerksam machen konnte, dann freut mich das. Sehr sogar.
Keine leichte Lektüre, sondern eine die unter die Haut geht und schmerzt, aber eben auch sensibilisiert und dazu anhält, die Augen offen zu halten.
Herzliche Grüße, Barbara
LikeLike