Rauschhafte Versuchungen

Literarisches Neuland entdecken bzw. lesend Erdteile und Länder bereisen, die einem eine neue Welt eröffnen – eine Erfahrung, die ich vor kurzem mit einem außergewöhnlichen Buch von Gary Victor machen durfte. Denn mit seinem schmalen, gerade einmal ca. 145 Seiten starken Band „Eine Violine für Adrien“ ließ er mich abtauchen in das Haiti der Siebziger Jahre und schnell verlor ich mich im Gewirr der Gassen von Port-au-Prince, das gerade turbulente Zeiten während des Machtwechsels von Diktator François Duvalier (Papa Doc) zu seinem Sohn Jean-Claude Duvalier (Baby Doc) durchlebt.

Die Leserschaft lernt Haiti und die Hauptstadt Port-au-Prince aus den Augen des vierzehnjährigen Ich-Erzählers Adrien kennen, d.h. aus der Perspektive eines Jugendlichen, der sich nichts sehnlicher wünscht als eine eigene Geige, um Berufsmusiker werden zu können. Als er zunächst die Geigenstunden bei Monsieur Benjamin mit einer Leihgeige besuchen darf, ist es Liebe auf den ersten Blick. Adrien hat Talent und schnell entlockt er dem Instrument Töne, die für ihn die Welt bedeuten.

„Die Violine ist für die ernste Musik, Adrien. Unser Land ist ein sinkendes Schiff. Es wird lange sinken, bevor eine Hand, möglicherweise die Hand Gottes, es wieder flott machen kann. Und während es sinkt, haben die Frauen und Männer hier nur die allertrivialsten Dinge im Kopf. Du tust mir leid. Du bist verloren in einer Welt, die nicht deine ist. Ein kleiner Haitianer, der davon träumt, ein Geigenvirtuose zu werden!“

(S.58)

Doch die Familie kann sich keine eigene Geige für Adrien leisten und so muss er, da er ohne eine solche den Unterricht nicht mehr fortsetzen kann, diesen wieder aussetzen. Wie besessen versucht der Junge nun alles daran zu setzen, selbst das Geld für ein eigenes Instrument zu verdienen. Er beginnt in einer Bar zu arbeiten.

„Meine Mutter ist eine starke Frau. Sie trifft immer die in ihren Augen vernünftigste Entscheidung, auch wenn sie darunter leiden muss. Sie verlangt von mir, ebenso zu handeln. Möglicherweise gelingt es einem so, die Bürde des Lebens auf den Schultern zu tragen, anstatt sich von ihr jämmerlich zu Boden werfen zu lassen, als fiele man in eine Pfütze.“

(S.99/100)

Doch während seiner hartnäckigen und zunehmend aussichtslosen Versuche an genügend Geld für eine Geige zu kommen, gerät er nicht nur in die Straße der Versuchungen bzw. in dunkle Ecken und Abgründe der Stadt, sondern trifft zwischen Glücksspielern, Freudenmädchen und Hellseherinnen auch auf schlechte Menschen, die es nicht gut mit ihm meinen.

„Ich stand in derselben Straße wie bei meiner Ankunft in diesem Universum, das mit dem mir bekannten nichts zu tun hat. Gibt es Parallelwelten zu unserer, wie in den Science-Fiction-Erzählungen und -Romanen, für die ich schwärme?“

(S.95)

Schnell verschwimmen die Konturen zwischen Wachen und Träumen, ein Hauch magischer Realismus durchweht die Zeilen. Adrien macht erste erotische Erfahrungen und wird mitgerissen in einen soghaften, rauschhaften Wirbel, der das ganze Land ergriffen zu haben scheint.

Gary Victor hat so auf engstem Raum auch ein wuchtiges, farbenfrohes und intensives Zeiten- und Sittengemälde Haitis erschaffen, das sich tief ins Gedächtnis gräbt. Wie unter einem Brennglas zeigt er ein breites Spektrum menschlicher Verhaltensweisen und legt den Finger in gesellschaftliche Wunden.

„Du wirst vielleicht das Glück haben, noch ein anderes Land zu erleben. Also atme, träume. Lass die widerwärtige Welle über uns hinweggehen. Vielleicht gehört dir die Zukunft.“

(S.76)

Für mich war das Buch ein Anlass, mich ein wenig in die Geschichte und politischen Hintergründe des Landes in der Karibik einzulesen, das nach der französischen Kolonialzeit 1804 zu einem unabhängigen Staat wurde. Eine wechselvolle Geschichte folgte und noch heute zählt Haiti zu den 45 Ländern, die von den Vereinten Nationen zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt eingestuft werden.

Genau diese Armut und die Auswirkungen einer Diktatur auf ein Land schwingen auch in Gary Victors Roman mit. Der Autor, der 1958 in Port-au-Prince geboren ist, ist bekannt dafür, die sozialen Missstände seines Heimatlandes anzuprangern und in seine Literatur, unter anderem auch in seine Krimireihe mit Inspektor Dieuswalwe Azémar, einfließen zu lassen.

„Eine Violine für Adrien“ war für mich ein wilder Ritt, eine stellenweise drastische Lektüre, ein Buch, das die Grenzen zwischen Traum und Realität immer wieder verschwimmen ließ und das mich auf lohnenswerte Art und Weise aus meiner literarischen Komfortzone geholt hat. Eine Reise in eine vollkommen andere Welt, ein magisches Buch voller Sehnsucht nach einem besseren Leben und zugleich eine Hymne über die Macht der Musik, die einen letztlich atemlos und staunend zurücklässt.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Litradukt, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Mit „Eine Violine für Adrien“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 24 für 2024erfüllt – Punkt Nummer 11) auf der Liste: Ich möchte ein Buch, in dem Musik eine Rolle spielt lesen. Adriens größter Traum ist es, Musiker zu werden und sein größter Wunsch ist es, eine eigene Geige zu besitzen.

Buchinformation:
Gary Victor, Eine Violine für Adrien
Aus dem Französischen von Peter Trier
Litradukt
ISBN: 978-3-940435-47-7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Gary Victors „Eine Violine für Adrien“:

Für den Gaumen (I):
Adrien hat klare Vorstellungen, was seine kulinarischen Vorlieben anbelangt:

„ „Kein Schokoladeneis“, insistierte ich. In diesem Punkt waren wir uns nicht einig, ich bevorzugte Rumrosinen- oder Stachelannonengeschmack.“

(S.16)

Vor allem letzteres habe ich sicher noch nie gegessen. Und Ihr?

Für den Gaumen (II):
Die Getränkeauswahl in Ninos Bar ist breit gefächert:

„Nur wenige kamen auf einen Zitronengrastee, ein Glas heiße Schokolade oder ein gutes Gebräu nach Art des Hauses mit Zuckerrohrschnaps.“

(S.81/82)

Zum Weiterhören:
Adrien lernt nicht nur klassische Stücke, sondern auch andere Klassiker:

„(….) meine imaginäre Interpretation eines Stücks, das ich liebe, nämlich Yesterday von den Beatles.“

(S.41)

Zum Weiterlesen:
Adriens Mutter liest gern und da darf es durchaus anspruchsvoll zugehen:

„Ihr Lieblingsroman ist Thérèse Raquin, über den sie eine Woche lang jedes Mal Tränen vergoss, wenn sie mir einen Abschnitt erzählte.“

(S.119)

Thérèse Raquin“ ist Émile Zolas dritter Roman, der wohl seinen Durchbruch darstellte, den ich jedoch bisher nicht gelesen habe.

Émile Zola, Thérèse Raquin
Aus dem Französischen von Wolfgang Tschöke
dtv
ISBN: 978-3-423-13704-1

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