Vor kurzem kam mir plötzlich ein Debütroman ins Haus geschwebt, der laut Verlagsankündigung „magischen Realismus und bayerischen Slapstick“ vereint und schon war natürlich meine Neugier geweckt. Und so wurde „Alles was lebt“ von Kristina Schilke ganz unverhofft zu einer positiven Überraschungslektüre in diesem Bücherfrühjahr. Eine gelungene Mischung aus augenzwinkerndem Humor und tiefgründiger Tragik, aus Alltagsrealitäten und mystisch-rätselhaften Momenten – menschlich, berührend und ein turbulenter Flug durch die Seele des bayerischen Waldes – so mancher Looping inbegriffen.
Karla arbeitet im Landratsamt einer bayerischen Ortschaft und ist vor kurzem – nach dem Tod der Eltern – zurück ins alte Elternhaus gezogen. Jede Ecke und jeder Gegenstand scheint dort Vergangenheit zu atmen, ist mit Erinnerungen verbunden und vor allem ein kleiner Raum ist eigenartig. Denn kaum betritt sie ihn, beginnt sie an die Decke zu schweben.
„Nach wenigen Zentimetern spürte sie den sanften, aber hartnäckigen Sog nach oben. Karla zog den Fuß zurück. Auf einmal aber sprang sie über die Schwelle hinein. Ihre Füße kamen nicht mehr dazu, den Boden zu berühren. Statt dass sie auf festen Boden trat, trat sie auf Luft und darin auf nichts und gleichzeitig auf etwas. Karla spürte keinen Widerstand, es war aber auch unmöglich, nach unten durchzutreten. Etwas, irgendetwas zog sie hoch, ohne an ihr zu zerren, ohne sich sichtbar zu machen. Das Schweben im Zimmer war genauso einfach und selbstverständlich wie die Schwerkraft außerhalb.“
(Kristina Schilke „Alles was lebt“)
Karla versucht auf unterschiedliche Wege dem Rätsel dieses Raums auf die Spur zu kommen. Dabei trifft sie auf den Kaplan des Dorfes, der für sein Leben gerne Gummifrösche isst und vom Fliegen bzw. dem Pilotenschein träumt, aber auch auf esoterische Energiemedien oder die gute Frau Rührlich – eine freundliche, ältere Dame, die sich aus therapeutischen Gründen gerne mal einen Piccolo gönnt und mit Kuchen und Gebäck in allen Lebenslagen Lösungen findet.
„Nach dem ersten Schlückchen hob Frau Rührlich das Glas in die Höhe. Es war die erste Hälfte der Piccoloflasche, die darin perlte, das hieß, dass es morgen etwas lauer zugehen würde, übermorgen wieder spritzig und so weiter.“
(Kristina Schilke „Alles was lebt“)
Aber sie begegnet auch alten SchulkameradInnen bzw. Freundin Lisa wieder, die sich regelmäßig mit harten Cocktails in die Besinnungslosigkeit trinkt… oder läuft Karla vielleicht sogar die große Liebe bzw. der Mann fürs Leben über den Weg?
Wie ein Schmetterling flattert die Autorin von Blüte zu Blüte, von Episode zu Episode, von Figur zu Figur – oder besser: von Mensch zu Mensch.
Denn im Mikrokosmos einer kleinen Ortschaft im Bayerischen Wald stößt man auf unterschiedlichste Charaktere, auf verschiedene Lebensentwürfe, Höhen, Tiefen, die gesamte Achterbahn der Gefühle oder in anderen Worten: auf das pralle Leben eben.
„Die Leute wussten Harmlosigkeit nie zu schätzen, bis sie auf das Gegenteil trafen.“
(Kristina Schilke „Alles was lebt“)
So ist ein lebensbejahendes, empathisches Buch entstanden, das jedoch die Abgründe und Schicksalsschläge, die zum Leben ebenso gehören wie Höhenflüge und Schwebezustände, ebenfalls nicht außen vor lässt.
Worum es also geht?
Schwer zu sagen, denn kaum meint man etwas verstanden zu haben, kommt gleich wieder die nächste Überraschung um die Ecke gebogen.
Aber unter anderem geht es um den Tod, das Alter, um Einsamkeit, Liebe, Alkoholismus, Lebensträume, Freundschaft, aber auch um Energiemedien, Verschwörungstheoretiker, um Kurzhaardackelwelpen oder die tröstliche Kraft von Gebäck… kurz: es geht ums Leben in allen Facetten und in all seiner Buntheit.
Schilkes Roman ist eine überraschende und liebenswerte Wundertüte voll unerwarteter Szenen, schräger Absurditäten und sympathisch-schrulliger Figuren.
Bisher hat die Schriftstellerin vor allem durch Erzählungen und Geschichten, d.h. durch die kurze literarische Form, auf sich aufmerksam gemacht. Dies ist auch im Roman zu spüren: die elf Kapitel tragen eigene Überschriften und sind – auch wenn Karla im Mittelpunkt steht – wechselnden Figuren gewidmet. Nicht alles ist stringent erzählt, das Buch springt von Episode zu Episode – doch das passt, denn auch das wahre Leben nimmt ja nicht immer den direkten Weg.
Die Autorin, die 1986 im russischen Tscheljabinsk geboren ist und in den Neunziger Jahren mit ihren Eltern in den Bayerischen Wald bzw. nach Grafenau kam, später in Leipzig – wo sie heute lebt – Literarisches Schreiben studierte, hat ein sehr feines Auge und einen genauen Blick auf ihre Mitmenschen. Der regionale Einschlag, die Eigen- und Gewohnheiten bzw. der Lokalkolorit des Bayerischen Waldes schwingt an vielen Stellen und auch an Schauplätzen wie Bierzelt, Kaffeekränzchen, Dorfkneipe und Friedhof mit.
Und gerade die Kombination aus präzise gezeichneten Figuren, Alltagssituationen, bekannten Szenerien und außergewöhnlich-magischen Momenten macht das Werk aus bzw. zu etwas Besonderem.
„Alles was lebt“ ist ein Buch für Menschen, die nicht auf alles eine Antwort brauchen. Für alle, die akzeptieren können, dass sich manches eben nicht mit dem Verstand, sondern besser mit dem Herzen begreifen lässt.
„Nach all diesen Ereignissen war Karla nach oben gegangen, hatte die Tür zu dem Zimmer geöffnet und sich dem, was auch immer hier drin war, hingegeben. Sie kam rein, schwebte. Und entkam.“
(Kristina Schilke „Alles was lebt“)
Schilke hat ein leichtfüßiges, frisches und unkonventionelles Werk darüber geschrieben, mit offenen Augen, wachem Blick und der nötigen Toleranz in die Welt zu schauen und im Hier und Jetzt zu leben. Entstanden ist ein Stück Literatur, das – wenn man sich darauf einlässt – die Gedanken zum Schweben bringt.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Gans Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Kristina Schilke, Alles was lebt
Gans Verlag
ISBN: 978-3-946392-54-5
Umschlagbild: © Gans Verlag
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Kristina Schilkes „Alles was lebt“:
Für den Gaumen (I):
Im Buch gibt es immer wieder Gebäck für alle Lebenslagen, unter anderem folgende Auswahl:
„Auf dem Couchtisch stand ein Teller mit zwei Zimtschnecken und zwei matt glasierten, nicht ganz runden Amerikanern.“
(Kristina Schilke „Alles was lebt“)
Da müsste ich nicht lange überlegen und würde mich ohne zu zögern sofort für eine Zimtschnecke entscheiden. Und Ihr so?
Für den Gaumen (II):
Oder doch lieber ein „Tiroler Nusskuchen“ gefällig?
„Karla probierte und lobte den Kuchen. Er war durchdrungen von Haselnüssen in jeder Daseinsform, ob gemahlen oder in Stückchen, und der Teig war so saftig und fett, dass er feucht war.“
(Kristina Schilke „Alles was lebt“)
Zum Weiterlesen:
Das Mystisch-magische und Rätselhafte des Romans hat mich auf gewisse Weise an Britta Röders Roman „Das Gewicht aller Dinge“ erinnert, den ich ebenfalls vor einiger Zeit hier auf der Bowle vorgestellt habe.
Britta Röder, Das Gewicht aller Dinge
Grössenwahn Verlag
ISBN: 978-3-957712-87-5
Ich würde mich für einen Amerikaner entscheiden. Klassisch eine Hälfte mit Zuckerguss und eine mit Schokolade. Der (doch etwas künstliche) Geschmack erinnert mich an meine Kindheit.
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Amerikaner erinnern mich auch an Kindergeburtstage (allerdings immer nur mit Zuckerguss), aber mittlerweile kann ich Zimtschnecken mehr abgewinnen.
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„Besser“ sind Zimtschnecken auf jeden Fall. Mit diesem seltsam pappigen Teig und der Glasur (die Schokoladen-Version war ja meist „kakaohaltige Fettglasur“) der Amerikaner musste man schon aufgewachsen sein, um das gut zu finden.
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