Herbst und Winter sind für mich eine Zeit, die mich häufiger zu historischen Romanen greifen lässt. Und so habe ich es auch endlich geschafft, mir wieder einmal einen Regalschlummerer vorzunehmen: Sarah Perry’s „Die Schlange von Essex“ stand schon eine ganze Weile bei mir zu Hause. Und wieder einmal stellte ich mir danach die Frage, warum ich eigentlich so lange mit der Lektüre gewartet habe. Denn der Roman, für welchen die Autorin 2017 den Britischen Buchpreis gewonnen hat, ist wirklich großartig und passt thematisch perfekt in diese Zeit.
Schließlich behandelt er große, zeitlose Fragen über die Spannungsfelder zwischen Kirche und Aberglauben, Glaube und Wissenschaft, Unabhängigkeit und Liebe. Fragen, die im Großbritannien des Jahres 1893 die Hauptfiguren des Romans Cora Seaborne und den Pfarrer William Ransome ebenso beschäftigen, wie uns heute – vielleicht gerade wieder mehr denn je.
„Wir beide sprechen davon, die Welt zu erhellen, aber wir beziehen uns auf unterschiedliche Lichtquellen, Sie und ich.“
(S.152)
Cora Seaborne ist noch jung, als sie früh Witwe wird. Als ihr Mann stirbt, mit dem sie eine nüchterne und wenig liebevolle Ehe geführt hatte, verlässt sie 1893 London gemeinsam mit ihrem Sohn und reist nach Colchester in die Grafschaft Essex. Trotz der Trauer empfindet sie ein starkes Gefühl der Unabhängigkeit und der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, welchen sie sich während ihrer Ehe gebeugt hatte.
„In den vergangenen Wochen habe ich mehr als ein Mal gedacht, dass die Kluft zwischen dem, was ich sein sollte, und dem, was ich bin, nie größer war.“
(S.155)
Für sie beginnt ein neues Leben und die aufgeschlossene und naturwissenschaftlich interessierte Anhängerin Darwin’s nutzt die Zeit für Studien, lange Spaziergänge und dafür, für ihren Sohn Francis, der autistische Züge zeigt, eine geschützte Atmosphäre zu schaffen. Sie wird umworben vom jungen Arzt Luke, der ihren Mann behandelt hatte, und die junge Witwe gerne an seiner Seite hätte.
Doch schon bald lernt sie über gemeinsame Bekannte den Pfarrer des einsamen, kleinen Küstenorts Aldwinter kennen: William Ransome, der dort mit seiner kränklichen Frau und den gemeinsamen Kindern lebt, und gerade besonders gefordert ist, seiner Gemeinde beizustehen und Halt zu geben.
Denn im Ort geschehen beunruhigende und merkwürdige Dinge: Mysteriöse Todesfälle, Menschen verschwinden und das Gerücht hält sich hartnäckig, dass ein Meeresungeheuer – die Schlange von Essex – an allem schuld sein könnte.
„Seine Religiosität beschränkte sich nicht auf Gebote und Glaubenssätze, denn er war kein Beamter und Gott kein Geschäftsführer eines himmlischen Ministeriums. Will glaubte mit dem ganzen Herzen, vor allem draußen in der Natur. Das Himmelsgewölbe war sein Kirchenschiff und die Eichen die Pfeiler des Querhauses (…)“
(S.139/140)
Und während der Pfarrer gegen den Aberglauben seiner Schäfchen ankämpft, ist Cora’s Neugierde geweckt. Wähnt sie doch in der Sichtung des seltsamen Meereswesens die Chance, eine längst ausgestorben geglaubte Saurierart wieder entdecken zu können. Sofort beginnt sie zu forschen und rege Diskussionen mit William zu führen. Gegensätze ziehen sich an…
Für mich war „Die Schlange von Essex“ ein perfekter Schmöker für lange Herbstabende: die düstere Atmosphäre, die Spannung, die sympathischen Figuren – da stimmte einfach die Chemie.
Sarah Perry hat eine große Begabung für eine unwiderstehliche Figurenzeichnung. Cora und William, aber auch die Nebenfiguren, erobern den Leser im Sturm. Schon bald ist man ihnen rettungslos verfallen und kann sich dem Sog des Romans nicht mehr entziehen. Kunstvoll beschreibt die Autorin im Roman die vielen Facetten der Liebe – Elternliebe, Freundesliebe, Nächstenliebe, geistige und erotische Anziehung, platonische Liebe, unerfüllte Liebe.
Das Knistern zwischen Cora und William ist so intensiv, dass der Funke unweigerlich auf den Leser überspringt. Perry beschreibt auf sehr gekonnte und starke Art und Weise die magische Anziehung zwischen den beiden, die vor allem auch durch den intellektuellen Gedankenaustausch und die Diskussionen auf Augenhöhe genährt wird.
„Sie reiben sich aneinander, jeder ist Wetzstein und Messer zugleich, und wenn das Gespräch auf den Glauben und die Vernunft kommt, haben sie ihre Argumente parat, erschrecken einander durch kurze Ausbrüche von Übellaunigkeit (…)“
(S.217)
Es ist unmöglich, den zahlreichen Aspekten und möglichen Lesarten des Romans in einer halbwegs kompakten Rezension gerecht zu werden. Jeder Leser und jede Leserin wird das Buch sicher anders lesen und den jeweils eigenen Blickwinkel finden.
Ein üppiger, reicher und bereichernder Roman voller Wärme, der mich begeistert und fasziniert hat. Diese knapp 500 Seiten sind ein wahres literarisches Schatzkästchen voller Klugheit, Denkanstöße und großer Gefühle. Ein Buch, das zum intensiven Nachdenken anregt und mich – gerade in diesen Pandemiezeiten – unweigerlich immer wieder die Parallelen zur aktuellen Situation ziehen ließ. Ein Roman, der anschreibt gegen rückständige Geisteshaltungen und ein flammender Appell für Aufklärung, Transparenz und wissenschaftlich fundierte Rationalität ist – aber auch ein Werk über Liebe, Zuneigung und die vom Glauben getragene Nächstenliebe.
Eine interessante und außergewöhnliche Leseerfahrung, denn vermutlich hätte ich diesen Roman 2017 mit völlig anderen Schwerpunkten und einem komplett anderen Blickwinkel gelesen. Der Virus hat offensichtlich auch mein Leben als Leserin verändert. Selten habe ich in einer Romanlektüre während der vergangenen zwei Jahre – und noch dazu in einem historischen Roman – so viele aktuelle Zeitbezüge gefunden wie in „Die Schlange von Essex“. Doch so wurde dieses Leseerlebnis für mich zur intensiven Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen Konflikt zwischen verschwörungstheoretischen Erklärungsversuchen und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fundierter Aufklärung.
„Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter, als man die Kinder mit Schauergeschichten von Geistern und Dämonen zu erziehen versuchte! Das Licht der Aufklärung hat jene finsteren Zeiten beendet!“
(S.379)
Weitere Besprechungen gibt es unter anderem bei Bingereader, Gassenhauer und Buchstabenträumerei.
Buchinformation:
Sarah Perry, Die Schlange von Essex
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0030-6
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Sarah Perry’s „Die Schlange von Essex“:
Für den Gaumen:
Die englische Tea Time ist auch in diesem Roman unverzichtbar, dazu gibt es eine ordentliche Auswahl an süßem Gebäck:
„Sie servierte Makronen, Shortbread mit Schokosplittern und rautenförmige, mit Himbeermarmelade bestrichene und in Kokosraspeln gerollte Törtchen.“
(S.62)
Wenn man da nicht Lust auf einen 5 o’clock-Tea bekommt…
Für einen Ausflug bei einem Londonurlaub:
Das erste Kapitel nach dem Prolog beginnt so:
„Ein Uhr mittags an einem trüben Tag, und auf dem Dach der Sternwarte von Greenwich fiel die Zeitkugel herunter. Eis bedeckte den Nullmeridian.“
(S.19)
Vor einigen Jahren besuchte ich Greenwich und fand den Ausflug dorthin sehr interessant. Eine schöne Erinnerung, die durch die Lektüre wieder aufgefrischt wurde.


Zum Weiterlesen:
Cora Seaborne, die Hauptfigur in „Die Schlange von Essex“ interessiert sich für Darwin’s Theorien und die Naturwissenschaften. Ein schöner Roman, der sich mit den Zeitgenossen Marx und Darwin beschäftigt, ist Ilona Jerger’s 2017 erschienenes Buch „Und Marx stand still in Darwins Garten“.
Ilona Jerger, Und Marx stand still in Darwins Garten
Ullstein
ISBN: 9783548290614
Das Licht der Aufklärung ist leider ganz und gar noch nicht überall und bei jedem/jeder angekommen, aber der Roman klingt interessant …
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Das ist ein Zitat aus dem Roman (aus einer der lebhaften Diskussionen), das ich bewusst ein wenig provokant ans Ende gestellt habe und exakt das meinte ich mit den vielen Parallelen zur aktuellen Situation, die ich in diesem historischen Roman gefunden habe. Man könnte fast meinen, Sarah Perry hätte ihn 2017 genau für unsere heutige Zeit verfasst. Herzliche Grüße!
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Wissenschaftlich fundierte Rationalität gepaart mit Nächstenliebe, das wäre eigentlich das perfekte Rezept für unsere Gegenwart. Liebe Barbara, eine interessante Empfehlung, wieder mal. Danke dafür. Hab morgen einen schönen zweiten Advent. Buona serata, Anke.
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Mille grazie, Anke. Ja, das Buch war sicherlich auch schon vor der Pandemie sehr gut, aber jetzt in dieser Zeit hat es mich ganz besonders angesprochen und mir ein völlig anderes Leseerlebnis aus der aktuellen Perspektive heraus eröffnet. War vermutlich jetzt für mich genau der richtige Moment für diesen Roman und jetzt um ein vielfaches intensiver. Und ja, die von Dir beschriebene Mischung würde man sich wünschen. Dir und Deiner Familie wünsche ich ein schönes, zweites Adventswochenende und sende liebe Grüße nach Italien! Buona serata, Barbara
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Grazie!
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Das Buch habe ich noch ungelesen im Regal stehen. Jetzt bin ich doch sehr neugierig geworden. Vielen Dank für die Erinnerung und viele Grüße
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Gern geschehen. Ja, das ging mir – wie beschrieben – genauso, aber für mich war jetzt offensichtlich genau der richtige Moment. Die aktuelle Situation hat mein Leseerlebnis aber sicherlich entscheidend geprägt. Dir wünsche ich eine anregende Lektüre und sende ebenfalls herzliche Grüße!
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Liebe Barbara,
danke für die Schilderung und Interpretation. Immer wieder erstaunlich, wann ich einem Buch begegne. So ergeben sich aktualisierende Leseerfahrungen. Das Buch von Ilona Jerger hatte ich damals relativ frisch im November 2017.
Schönen 3. Adventssonntag
Bernd
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Lieber Bernd, ja, manchmal sind der Moment und die Umstände entscheidend, wann man einem Buch begegnet. Das Buch von Ilona Jerger habe ich auch bereits gleich kurz nach dem Erscheinen gelesen, aber es hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen, so dass meine aktuelle Lektüre mich wieder daran erinnert hat. Dir auch einen schönen – allerdings zweiten 😉 – Adventssonntag! Herzliche Grüße, Barbara
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Ich bin als Leserin immer dabei zu assoziieren. Egal ob die Assoziation die eigenen Gefühle, die eigene Lebensart, oder aktuelles Zeitgeschehen ist. Natürlich interessant, dass das bei einem Historienroman auch der Fall ist. Und tatsächlich erweist sich unser Demokratieverständnis derzeit schwächer als gedacht und verblendeten Verschwörungstheorien unterlegen. Mittelalterlich trifft es ganz gut 🙂
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Mit dem Assoziieren gebe ich Dir recht. Mir ist es lediglich bei dieser Lektüre besonders prominent aufgefallen. Ich finde den Gedanken spannend, dass ich das Buch vor vier Jahren sicherlich völlig anders gelesen hätte. Zumal es schon eine Weile bei mir im Regal stand und ich jetzt offenbar unbewusst genau den richtigen Moment für dieses Leseerlebnis erwischt habe. Schöne Adventssonntagsgrüße nach Düsseldorf!
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hmhm….jetzt ist wieder ultimative Lesezeit! Da darf es auch mal weit weg und lang her sein 🙂
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Definitiv, ich bin auch in Schmökerlaune… 🙂
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