Wohl jeder von uns ist schon durch Museen oder Ausstellungen geschlendert und hat sich in Kunstwerke vertieft. Doch nicht immer findet man den richtigen Zugang sofort. Nicht alles empfindet man selbst als künstlerisch wertvoll. Oft spalten Kunstwerke die Geister und so manches Mal stellt sich vielleicht auch die Frage: Ist das Kunst? Oder was ist Kunst überhaupt?
In Franziska Hauser’s neuem Roman „Keine von ihnen“ erschummelt sich die junge Grafikerin Jef ein dreimonatiges Stipendium in einem Künstlerhaus. Ein leicht aufgemöbelter Lebenslauf ermöglicht ihr den Aufenthalt im Strand Haus, das in einem luxuriösen Urlaubsort in grandioser Bergkulisse liegt. Dort soll sie gemeinsam mit weiteren Stipendiaten aus anderen Kunstrichtungen Zeit und Muße haben, um Kunst zu schaffen, die am Ende bei einer großen Abschlussveranstaltung präsentiert werden soll. Doch Jef, die sich bisher mit schlichten Werbegrafiken und unterbezahlten Jobs mehr schlecht als recht über Wasser gehalten hat, plagen das schlechte Gewissen und die Selbstzweifel, gar nicht in der Lage zu sein, Kunst von wirklichem Wert zu erschaffen.
„Künstlerin zu sein, wenn es niemand sehen kann, ist doch so unsinnig, wie ein Glas Wein in den See zu schütten.“
(S.186)
Als Lehrerkind, das stets unter der Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit und der Besserwisserei der Eltern gelitten hat und aus deren normierter Lebensplanung ausbrechen wollte, sehnt sie sich nach Liebe und Wertschätzung. Lediglich bei der mittlerweile verstorbenen Großmutter musste sie nicht funktionieren, sondern konnte unbeschwerte Momente in liebevoller Atmosphäre verbringen. Ein kreatives Leben als Künstlerin erscheint ihr – als Gegenentwurf zum Leben der Eltern – erstrebenswert.
„Dazu haben wir die Kunst, verstehst du? Zum Überleben, wenn wir nichts mehr haben. Wenn deine Umgebung ganz eng wird, dann wird dein Geist ganz weit.“
(S.147)
Jef befindet sich an einem Scheitelpunkt ihres Lebens, den man heute vermutlich als Quarter-Life-Crisis bezeichnen würde. Sie hadert mit sich und ihrem Leben, fühlt sich hilflos. Ihre bisherigen Beziehungen sind gescheitert, eine ihr besonders wichtige Freundschaft ist zerbrochen und beruflich hat sie nichts erreicht, auf das sie stolz wäre. Kann dieses Stipendium, das ihr eigentlich gar nicht zustehen würde, ihrem Leben eine neue Wendung geben oder wird ihre Gaunerei letztlich doch auffliegen? Wie lange kann sie den anderen glaubhaft vorgaukeln, in diese Kunstwelt zu gehören? Und wie in aller Welt soll sie jetzt kreativ sein und wahre Kunst erschaffen? Und was ist das überhaupt?
„Wir machen Kunst. Wir sehen mehr, als zu sehen ist. Wir sehen das Wesentliche. Wir legen unsere Seele mit dazu.“
(S.86)
Schon bald stellt sich im Haus so etwas wie Schullandheimatmosphäre ein. Die Stipendiaten kommen sich bei gemeinsamen Küchenabenden und Flaschendrehen näher. Da sind unter anderem Sunny, die Tänzerin, die beim Essen schmatzt und Oleksii, der nicht einmal weiß, wie man die Spülmaschine bedient. Doch wer ist diese mysteriöse, verwirrte, alte Frau, die hinter einer Schranktür zu hausen scheint, nachts Kuchen und Kekse bäckt, durch die Gänge geistert und von sich selbst offenbar nur in der dritten Person spricht?
Sie scheint wie Jef nicht dazu zu gehören und zwischen den Welten stecken geblieben zu sein. Jef spürt eine Verbindung und versucht dem Rätsel auf den Grund zu gehen.
Fasziniert hat mich Franziska Hauser’s fließende Sprache – selten habe ich mir so viele Textstellen notiert, die zitierenswert wären und aus welchen ich letztlich nur ein paar auswählen konnte. Diese unkonventionelle, ausdrucksstarke Stilistik und die Freude der Autorin am Formulieren, machte für mich ganz klar den Zauber des Romans aus.
„Schwalben zerschlitzten die Luft mit fernen Schreien weit oben. Dieses abendliche Hochsommergeräusch über der ausrollenden Stadt gab Jef das Gefühl, dass es noch ein anderes Recht gab, auf der Welt zu sein, und das unabhängig war von ihrer Arbeitsleistung und ihrer Kaufkraft. Ein Einverständnis mit dem Leben (…)“
(S.234)
Auch dieser Roman hatte für mich etwas von einem Kunstwerk, das sich für mich schwer greifen und auch nicht sofort begreifen ließ. Ein herbes, sperriges und ungewöhnliches Buch über Außenseiter und gebrochene Herzen, das Rätsel aufgibt und wie Kunst auch eine Vielzahl an Aspekten und Deutungsmöglichkeiten für die Leserschaft eröffnet und bereithält. Literatur, die viel Raum für Interpretation und Projektion gibt. Ein Buch, das schwebt, kratzt, verstört und aus einer Welt erzählt, die so weit entfernt und ganz anders ist als meine persönliche Lebensrealität. Auch das kann Kunst sein.
Denn so wie Jef den Blick von außen braucht, brauchen wir vielleicht auch Literatur und Kunst, um unseren Horizont zu weiten und neue Perspektiven in unserem Leben zu erhalten.
„Warum braucht sie jemanden, der ihr zeigt, wie sie das Leben betrachten soll? Warum reicht ihr eigener Blick nicht?“
(S.155)
Einen weiteren Blick bzw. eine weitere Besprechung des Romans gibt es bei Bookster HRO.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eichborn Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.
Buchinformation:
Franziska Hauser, Keine von ihnen
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0112-9
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Franziska Hauser’s „Keine von ihnen“:
Für den Gaumen (I):
Kindheitserinnerungen verbindet Jef mit den Sommerferien bei der Großmutter und sie
„(…) aßen Brötchen, Kräuterquark, Bouletten und Erdbeeren.“
(S.20)
Oleksii – ihr Mitbewohner – scheint sich nahezu ausschließlich von „Schokocreme, Müsli und Bananen“ (S.126) zu ernähren.
Für den Gaumen (II):
So farbenfroh und bunt zusammengewürfelt wie die Künstlertruppe im Strand Haus ist offenbar auch der „Rainbow Cocktail“ (S.239), der bei einem gemeinsamen Barbesuch getrunken wird.
Zum Weiterlesen:
Während der Lektüre von Franziska Hauser’s Roman kam mir wieder in den Sinn, dass ich Julian Barnes’ Werk „Kunst sehen“ schon lange auf meinem Wunschzettel stehen habe. Gerade bei Kunst und Malerei, finde ich es stets auch spannend, über die Literatur noch einmal einen anderen Zugang zu erhalten und mehr Hintergrund zu erfahren.
Julian Barnes, Kunst sehen
Übersetzt von Gertraude Krueger
Kiwi Taschenbuch
ISBN: 978-3462002805
Das klingt spannend. Und bei den Erinnerungen an die Großmutter nach Berlin (Bouletten 😉). Vielleicht ist es nicht wichtig, aber wo und wann ist denn die Geschichte angesiedelt?
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Die Haupthandlung spielt in der Gegenwart in einem Künstlerdomizil, das ich irgendwo in einem Alpenort (Schweiz, Österreich?) verorten würde. Und es wird ein wenig in Rückblenden in die Kindheit der Hauptfigur erzählt – das würde ich gefühlsmäßig schon irgendwo in Deutschland (eher Mitte oder nördlich) verorten, kann aber auch sein, dass das irgendwo steht und ich es vielleicht überlesen habe, weil es für die Geschichte an sich für mich jetzt nicht unbedingt wesentlich war. Es ist auf alle Fälle ein Buch, das anders ist… und gerade deshalb interessant und spannend. Viele Grüße! Barbara
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Liebe Barbara, ja das ist absolut richtig und hast du wirklich supergenau herausgelesen! Der Ort ist ein bisschen St. Moritz, wo ich mal ein Stipendium hatte. Das habe ich in dem Straßennamen versteckt. Aronastraße. Da wohnt Gerburg Strand. Das Hotel dort war tatsächlich man ein Singevereinsheim und diese Quelle mit dem rosa Sprudelwasser gibt es dort auch. Auch die Hintertür im Grandhotel mit dem Abfüllraum. Und das Quellwasser kommt auch wirklich manchmal aus den Wasserhähnen des Hotels. Das Haus gibt es auch, ziemlich genauso, wie es beschrieben ist. Aber das steht ganz woanders. Es ist in Mecklenburg in Loitz und hat tatsächlich diesen Schrank, durch den man in weitere Zimmer kommt. (Lustig, dass die Sachen, die tatsächlich existieren, dann doch immer die sind, die sich am unglaubwürdigsten anhören) Die Stadt, in der Jef wohnt, ist wahrscheinlich schon so ziemlich Berlin, aber ich wollte es nicht so explizit machen. Es könnte auch eine andere Großstadt sein. Vielen liebsten Dank für deine wunderbare Rezension!!!!
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Liebe Franziska! Vielen lieben Dank. Welche Freude, wenn sich die Autorin hier höchstpersönlich selbst auf meiner Kulturbowle zu Wort meldet! Hintergrundinformationen aus allererster Hand, das freut mich riesig! Ein dickes Dankeschön dafür, das hier mit mir und meinen LeserInnen zu teilen! Interessant zu lesen, wie solch literarische Orte quasi auch aus Collagen entstehen können. Die künstlerische Freiheit zu nutzen, sich die Aspekte zusammenzusuchen, die in die Geschichte passen. Spannend. Ich wünsche Dir und dem Roman weiterhin ganz viel Erfolg uns sende herzliche Grüße! Barbara
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Danke Barbara,
für diese Buchvorstellung mit den ausgewählten, geradezu aphoristischen Zitaten.
Schöne Grüße
Bernd
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Gern geschehen, Bernd. Mich hat das Buch sprachlich wirklich begeistert und die Auswahl der Zitate ist mir schwergefallen, weil es wirklich sehr, sehr viele waren, die zitierens- und bemerkenswert sind – diesbezüglich ist Franziska Hauser’s Roman wirklich eine Schatzkiste. Sonnige Donnerstagsgrüße! Barbara
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