Auf eine wunderbare Zeit- und Herbstreise durch die schwäbische Alb nimmt Uta-Maria Heim ihre Leserschaft in ihrem neuesten Roman „Albleuchten – Eine Herbstreise 1790“ mit. Was geschehen kann, wenn ein Tübinger Student mit seinen Kommilitonen Friedrich Hölderlin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel von Tübingen über Reutlingen, Urach und Blaubeuren nach Ulm wandert und auf diesem Weg auch noch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Karoline von Günderrode trifft, kann man in diesem stimmungsvollen Buch erfahren. Man bekommt einen großartigen Eindruck von dieser Zeit des Auf- und Umbruchs und kann erahnen, wie sehr sich die Welt damals – ein Jahr nach der französischen Revolution – veränderte.
„Wir wurden in eine stürmische Epoche hineingeboren, in der eine Revolution die andere jagt. Ihr werdet schon sehen. Die großartigste und beachtlichste ist bislang die Bildungsrevolution, durch die auch unser schönes Württemberg wacker hindurchgeht.“
(S.329)
In den Herbstferien 1790 macht sich der Theologiestudent Friedrich August Köhler – im Roman kurz Fritzle – gemeinsam mit Friedrich – alias Fritz – Hölderlin und dem „Alten“ Hegel auf eine Wanderung von Tübingen nach Ulm. Er möchte die Schwäbische Alb erkunden, um anschließend seine Eindrücke und Beobachtungen in einem topographisch-historischen Werk über die Region Württemberg zu verarbeiten. Während er mit offenen Augen ganz genau Land und Leute beobachtet, verstricken sich seine Reisebegleiter immer wieder in philosophische Diskussionen.
„Selbst wenn die Freundschaft endlich erscheint, werden hier unter engsten Vertrauten lärmend Perspektiven ausgehandelt, Zukunftsträume ausgemacht, Felder abgesteckt, Rollen verteilt und Grenzen ausgelotet – ein Gerümpel und Getrappel, das mich ausschließt.“
(S.366)
Köhler fühlt sich bei vielen Gesprächen außen vor, verfolgt aber zielstrebig seine eigene Agenda, so viele Beobachtungen und Informationen wie möglich für sein ehrgeiziges, literarisches Projekt zu sammeln.
Als dann auch noch der frühreife Schelling zu ihnen stößt, der sofort seinen Spitznamen Gscheitle wegbekommt, und sich die Wandergruppe noch durch die junge Karoline von Günderrode erweitert, die wohl von zu Hause ausgerissen ist und mit ihnen nach Ulm möchte, wird es eine turbulente, lebhafte Reise, die allen lange im Gedächtnis bleiben wird.
„Ich muss Religons-, Gebiets- und Landesgrenzen überwinden. Dort sind Bestechung, Bedrohung und Betrug gang und gäbe. Überall treiben sich Lumpen und Spitzbuben herum, Pack und Geziefer jeder Couleur. Zudem sind mässig obskure Gestalten, Poltergeister, Scheintote, Hexen und Gauner unterwegs, nachts spukt es in den Wäldern, in den Gasthöfen gespenstert Gesindel.“
(S.14)
Uta-Maria Heim hat sichtlich Gefallen daran, den Dialekt und die zeitlichen und regionalen Besonderheiten in ihre Sprache einfließen zu lassen. So wählt sie teils antiquierte Formulierungen oder schwäbische Einsprengsel, um den richtigen Klang und Ausdruck für die Unterhaltungen zwischen den Figuren zu treffen. So wird Verschlupferles gespielt, schwäbisch geflucht, aber stellenweise auch aus Originalwerken von Hölderlin und Hegel zitiert.
Besonders gefallen hat mir die Sinnlichkeit des Romans und die atmosphärischen Beschreibungen der Landschaft, der Zeit und der Figuren: Begleitet vom Duft des Pferdemists und Apfelmosts wandert man gedanklich mit Köhler, Hölderlin und Co. über die Streuobstwiesen, sieht beim Pilze sammeln zu, hört das Vogelgezwitscher und schmeckt das frisch gebackene Brot aus den Backhäusern und das abgekochte Zisternenwasser, das in der teils wasserarmen Region besonders wertvoll war. Heim beschreibt die Kleidung, die Lebensführung und den harten Alltag in der Landwirtschaft detailliert und präzise.
Zudem folgt man im gemütlichen Wanderschritt den philosophischen Überlegungen und Gedankengängen der Protagonisten, schnuppert die Luft des deutschen Idealismus und setzt sich auf leichtfüßg-spielerische Art ein wenig mit Hegel, Schelling und Kant auseinander.
Man kann nur erahnen, wie viel Zeit und Mühe die Autorin in die Recherche investiert hat, denn es steckt eine unglaubliche Fülle an kleinen Episoden, regionalen Bräuchen und Besonderheiten und zeitgeschichtlichen Informationen im Werk. Doch gerade deshalb gewinnt das Buch an Authentizität und zeichnet ein schillerndes, opulentes Gemälde der Gesellschaft, der Zeit, der Lebensweise und der Stimmung des Jahres 1790.
Ein leuchtendes, facettenreiches Herbstbuch, das wie gemacht ist für länger werdende Abende, wenn draußen das Licht die bunten Blätter glänzen lässt und man sich gerne gemütlich mit einer Decke und einer Tasse Tee in den Lesesessel kuschelt.
Aber „Albleuchten“ ist – inspiriert durch die Hauptfigur Friedrich August Köhler (1768 – 1844) – auch ein Buch, das gut als Reise- oder Wanderführer ins Gepäck für den nächsten Ausflug in die Schwäbische Alb passt, weil man viel Interessantes über die Region, die Geschichte, die Landschaft und das Leben auf der Alb des 18. Jahrhunderts erfahren kann. Heim hat es ihrem Romanhelden Köhler im Grunde gleich getan und hat mehr als 200 Jahre später ein ebenso vielschichtiges und erhellendes Werk über Land, Leute und Sehenswürdigkeiten verfasst.
„Albleuchten“ war für mich eine ideale Herbstlektüre: Stimmungsvoll, atmosphärisch und herrlich entschleunigend. Ein wohltuendes, kluges Buch für Bildungshungrige und Neugierige, die ähnlich wissensdurstig sind wie die Wandergefährten im Roman und sich am üppigen Füllhorn von Anekdoten, regionalen Informationen und Geschichten, die Heim in den Roman hat einfließen lassen, erfreuen können.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Gmeiner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.
Buchinformation:
Uta-Maria Heim, Albleuchten – Eine Herbstreise 1790
Gmeiner Verlag
ISBN: 978-3-8392-0225-8
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Uta-Maria Heims „Albleuchten“:
Für den Gaumen (I):
Sehr zu meiner Freude beschreibt Uta-Maria Heim auch immer wieder ausführlich die Kost und die Verpflegung während der Wanderung – manchmal karg, aber manchmal auch etwas opulenter, wenn sie zum Beispiel die Gastfreundschaft von Familie und Bekannten erfahren dürfen, bei welchen sie Quartier bekommen:
„Wir essen in der guten Stube. Zur Feier des Tages hat die Mutter den Tisch reich gedeckt. In der Mitte steht eine Schale mit Äpfeln, Birnen und kleinen, sauren Trauben. Zur Vorspeise gibt es Flädlesuppe. Die Flädle sind goldbraun und so dünn, dass man hindurchsehen kann. (…) Danach wird Schwarzer Brei serviert. Obwohl meine Eltern nicht von der Alb (…) stammen, gehört dieses simple Traditionsgericht aus grießig gemahlenem Mehl zu ihren Leibspeisen. (…) Weizen, Dinkel und Hafer rührt man in kochendes Salzwasser ein, gibt Milch dazu, verkocht alles zu einem braunen Mus und übergießt es mit geschmälzten Zwiebeln.“
(S.27)
Für den Gaumen (II):
Auch über die Geschichte der Maultaschen – gerne kombiniert mit einem Glas oder Krug Trollinger – kann man in „Albleuchten“ mehr erfahren.
Auf dem Blog Schätze aus meiner Küche findet man ein Rezept für Schwäbische Maultaschen.
Zum Weiterhören oder Weitersingen:
Eine Kindheitserinnerung wurde geweckt durch das Zitieren des Liedes „In Mueders Stübele“ – ein Lied, das auch ich als Kind gesungen habe (In Mutters Stübele, da geht der hm, hm, hm) – allerdings nicht im Schwarzwälder Dialekt.
Zum Weiterlesen:
Friedrich Hölderlin möchte sich auf der Wanderung Inspiration für seinen Roman suchen und zwar für „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“, der 1797 erschien:
Friedrich Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland
Reclam
ISBN: 978-3-15-000559-0
Zum Weiterlesen (II) und als kleine poetische Zugabe:
gibt es noch ein Gedicht der weiteren Wandergefährtin Karoline von Günderrode (1780 – 1806):
An Creuzer
Seh‘ ich das Spätroth, o Freund, tiefer erröthen im Westen,
(Karoline von Günderrode)
Ernsthaft lächlend, voll Wehmuth lächlend und traurig verglimmen,
O dann muß ich es fragen, warum es so trüb wird und dunkel,
Aber es schweiget und weint perlenden Thau auf mich nieder.
Auf diese oder jene Weise werde ich auf dieses Buch zurückkommen. Ich interessiere mich sehr für diese Zeit – und für Hölderlin. Ich mag, dass auch Lokalkolorit eingegangen ist. „Hyperion“ kann ich mehr als nur zustimmen. Es ist sehr schönes Buch, sehr romantisch, auf eine sehr eigentümliche, pathetische Weise, die mich stets fröhlich stimmt, sobald ich das Buch nur aufschlage. Gruß!
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Ich kann nicht beurteilen, wie viel Freude wirkliche Hölderlin-Kenner bzw. Profis (zu welchen ich mich nicht zähle) an diesem Roman haben. Aber es ist eine schöne Gelegenheit – auch für thematische Einsteiger – sich ein paar weiterführende Anregungen zu holen, um sich dann ggf. nochmal näher und ausführlicher mit der Zeit und den Protagonisten zu beschäftigen. Herzliche Wochenendgrüße!
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Ein Buch, das ich mir wieder einmal merken werde, dankeschön!
Herzliche Grüße Bettina
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Das freut mich sehr, Bettina, wenn ich mit dieser Buchvorstellung Deine Neugier wieder einmal wecken konnte. Herzliche Sonntagabendgrüße und morgen einen guten Start in die neue Woche! Barbara
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Ja, romantisch, Alexander, da kann ich nur zustimmen. Aber wenn ich an Hölderlins Schicksal denke und seine unglückliche Liebe zu „Diotima“, Susette Gontard, dann bin ich eher melancholisch, wenn ich Hyperion lese.
Herzliche Grüße Bettina
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Ich meinte es tatsächlich eher „literaturhistorisch“ romantisch. Hyperion ist sehr tragisch. Definitiv. Aber in Hölderlin schwingt die ganze Inspiration eines Lebens mit, das sich mit nicht zufriedengeben wollte, das Kosmos und Ozean erleben wollte. Ich lese sehr gerne in seinem Werk wegen dieses völlig ungezügelten, fröhlichen Lebenswillens.
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Liebe Barbara,
vielen Dank für diese Buchvorstellung und literarische Wanderung.
Gute Wünsche und viel Erfolg für die Autorin Uta-Maria Heim.
Köhler war mir kein Begriff, gleichwohl Hölderlin, Hegel und Schelling sowie Karoline von Günderrode.
Würde da gerne mit wandern …
Schönen Sonntag und herzliche Grüße
Bernd
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Lieber Bernd! Es freut mich, dass Dir der Beitrag gefällt. Und ja, bei einer solchen Wanderung mit diesen Persönlichkeiten könnte man sicherlich sehr interessante Gespräche führen. Man bekommt Lust, die Wanderstiefel zu schnüren…. Uta-Maria Heim ist bisher vor allem für ihre Krimis bekannt und hat bereits zwei mal den Deutschen Krimi-Preis und einmalig den Friedrich-Glauser-Preis zugesprochen bekommen. Um so interessanter finde ich es, dass sie sich jetzt diesem völlig anderen und philosophischen Genre zugewandt hat. Schöne Sonntagsgrüße! Barbara
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