Mit Emeli Bergman durfte ich wieder einmal eine neue, junge Stimme der skandinavischen Literatur entdecken: Ihr Debütroman „Die andere Seite des Tages“, der in einer wunderbaren Übersetzung von Ursel Allenstein auf deutsch erschienen ist, erzählt von Anna – einer jungen Frau, die es aus Dänemark weg ins große Paris treibt, wo sie über viele Jahre hinweg in unterschiedlichen Familien als Au-pair lebt und arbeitet. In vielerlei Hinsicht führt sie ein einsames Leben im Schatten, eine Existenz am Rande der Gesellschaft bzw. der Familien, die sie anstellen.
Anna sucht in Paris auch einen Neuanfang und möchte vergessen, denn sie hat ihren Bruder verloren, der an einer Überdosis starb.
„Sosehr es einen in die Verzweiflung treibt, wenn man sich nicht mehr erinnert, so schön ist es auch, wenn sich eine Erinnerung nähert und zurückkehrt.“
(S.142)
So bewirbt sie sich als Au-pair und wechselt über die Jahre – die Zeit vergeht schnell und eine Anstellung reiht sich an die nächste – mehrmals die Familien. Sie hat ein Händchen für den Umgang mit Kindern und meist kommt sie aufgrund ihrer Unkompliziertheit und Genügsamkeit gut zurecht.
„Ich liebte die Mädchen, so wie ich alle Kinder liebte, auf die ich für längere Zeit aufpasste, ich würde mich immer an sie erinnern, aber wenn ich die Familie wechselte, vermisste ich sie nicht.“
(S.128)
Der Roman führt jedoch eindringlich vor Augen, wie einsam Anna ist – obwohl sie doch immer im Haushalt der Gastgeber lebt. Sie gehört nicht dazu, ist nicht Teil der Familien, sondern Angestellte, schlecht bezahltes Personal – die moderne Version der Dienstmagd. Meist haust sie in ungastlichen, beengten Zimmern mit wenig Licht. Ihr Alltag ist fremdbestimmt, durchgetaktet und vorgegeben durch den Zeitplan der Familie – da bleibt wenig Freiraum für Freizeit, andere Kontakte oder eigene Hobbys.
„Das ist der ehemalige Dienstbotentrakt, hatte Jon mir mit ironischer Stimme erklärt: dass ich dort wohnen würde, wo früher das Gesinde wohnte. Als wäre ich das nicht. Weil ich zu alt bin, um ihr Dienstmädchen zu sein? Weil diese Zeiten zu alt sind? Weil Jon Däne ist und Dienstboten heute anders genannt werden müssen. Babysitter, Au-pair oder Putzhilfe.“
(S.29)
So manches Familienmitglied gibt sich nicht einmal die Mühe, sich ihren Namen zu merken und spricht sie gar mit dem der Vorgängerin an – als Au-pair scheint sie sich gleichsam einzureihen in eine Folge beliebig austauschbarer Mädchen. Die wenigsten Arbeitgeber interessieren sich für sie und ihre Bedürfnisse, wissen nichts von ihr – wohingegen sie bei vielen als Seelsorger und Mülleimer funktionieren soll und immer ein offenes Ohr haben muss, wenn sich zum Beispiel eine Mutter bei ihr ausweinen möchte.
Während sie selbst intimste Details aus dem Leben der Familie erfährt und im wahrsten Sinne des Wortes deren Unterwäsche waschen muss, bleibt sie eine Fremde, eine Randfigur, ein lautloser Schatten, der stets im Hintergrund bleibt, obwohl sie doch eigentlich Liebe und Nähe suchen würde.
„Ich fand es nicht lustig, dass er keine Lust hatte, für mich aufzustehen, und wenn man sein Kind wahlweise als unmöglich oder genial bezeichnete, erschien mir das nur wie ein Vorwand, um es nicht kennenlernen zu müssen.“
(S.11)
Bergmans feine Sprache – und auch die hervorragende Übersetzung durch Ursel Allenstein – liest sich wunderbar und ist stilistisch wirklich schön: Ein sehr moderner, klarer und doch poetischer Klang ohne Schnörkel, der vieles in sorgsam gewählten Formulierungen auf den Punkt bringt.
Der Ecco Verlag hat ein Umschlagbild gewählt, das mich während und auch nach der Lektüre noch beschäftigt hat: ein leeres Goldfischglas auf der Kante eines alten, abgewetzten Tisches. Ein schlichtes und doch ausdrucksstarkes Bild und je länger ich darüber grübelte, was es mir sagen möchte oder wie ich es in Verbindung mit Annas Geschichte bringen kann, um so mehr fiel mir dazu ein: Es strahlt etwas Trostloses, Einsames, Wackliges aus – eine Existenz auf der Kante, eine kleine Bewegung und das Ganze könnte ins Kippen geraten. Aber da ist auch die Leere und die Enge, die ein Fisch im Glas vielleicht empfinden würde – ein fremdbestimmtes Leben in einer Umgebung, die man vermutlich nicht selbst gewählt hat. Vielleicht sollte das Au-pair-Dasein von Anna mit dem Leben eines Goldfischs im Glas verglichen werden – das war zumindest meine Assoziation zum Bild – wohlgemerkt nach der Lektüre.
Die Lektüre berührt und stimmt traurig, denn Bergman gewährt der Leserschaft einen sehr tiefen Blick in die Seele ihrer Hauptfigur, die schutzlos und verletzlich ist und immer wieder äußerst unangenehme, entwürdigende und teils gefährliche Situationen aushalten und meistern muss, die man ihr gerne ersparen würde.
Anna gibt und gibt und gibt – ihre Selbstlosigkeit wird unter anderem auch in einer Szene besonders deutlich, in der sie Blut spendet und auch dabei großes Glück empfindet, etwas geben zu können – ohne etwas zurückzubekommen.
„Wie viele Stunden hatte ich schon mit den Mädchen verbracht? Mehr als ihre Mutter, viel mehr als ihr Vater.“
(S.117)
Ein Buch wie ein Au-pair-Aufenthalt: kurz und heftig, der für manche den Blick aufs Leben verändern und eine neue Perspektive geben kann.
Ein Roman, der beschreibt wie einsam und mutterseelenallein man selbst unter Menschen oder in einer Familie sein kann. Distanz, Ignoranz, fehlende Empathie, Ausgrenzung und Klassenunterschiede – Emeli Bergman hat in ihrem Debüt auf nicht einmal ganz 200 Seiten ihren Finger in viele Wunden der heutigen Zeit gelegt und ein ausdrucksstarkes, intensives Portrait einer jungen Frau gezeichnet, die sich ihren eigenen Weg und ihren persönlichen Platz im Leben erst noch suchen und erkämpfen muss.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Ecco Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.
Buchinformation:
Emeli Bergman, Die andere Seite des Tages
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Ecco Verlag
ISBN: 978-3-7530-0068-8
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Emeli Bergmans „Die andere Seite des Tages“:
Für den Gaumen:
Anna ist oft nicht nur für die Kinderbetreuung, sondern auch fürs Kochen zuständig. Häufig kocht sie Gerichte, von denen sie selbst gar nichts essen darf oder abbekommt. Um so mehr genießt sie es, während eines Besuchs bei ihrer Mutter ausnahmsweise wieder selbst bekocht zu werden – und zwar mit einem richtigen Wohlfühlessen:
„Er reicht mir die Salatschüssel, die Lasagne schmeckt himmlisch, und es ist himmlisch, etwas zu essen, das für mich zubereitet wurde.“
(S.64)
Zum Weiterlesen (I):
Anna begegnet in den unterschiedlichen Haushalten auch verschiedenen Büchern – so fällt ihr in einer Familie zum Beispiel Emily Brontës Klassiker „Wuthering Heights“ oder auf deutsch „Sturmhöhe“ in die Hände. Diese Lektüre ist bei mir schon ziemlich lange her:
Emily Brontë, Sturmhöhe
Aus dem Englischen von Grete Rambach
Insel Taschenbuch
ISBN: 978-3-458-35718-6
Zum Weiterlesen (II):
Schon seit einiger Zeit steht die schöne Manesse-Ausgabe des Klassikers „Walden“ von Henry D. Thoreau in meinem Regal und wartet geduldig darauf, dass ich es endlich, endlich lese. Auch „Walden“ ist so ein Buch, das in einem der Haushalte, in dem Anna arbeitet, ihren Weg kreuzt:
Henry D. Thoreau, Walden oder Vom Leben im Wald
Aus dem Amerikanischen Fritz Güttinger
Manesse
ISBN: 978-3-7175-2508-0
Das Buch hat mich sofort angesprochen. Eine Geschichte über Paris und Au-Pairs mit einem dänischen Touch hört sich sehr reizvoll an.
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Das freut mich, Malin. Es ist wirklich eine sehr intensive, kleine, feine Studie, welche die dänische Autorin hier in ihrem Debüt vorgelegt hat. Herzliche Grüße!
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Hallo Barbara,
das Buch klingt interessant, doch auch bedrückend. Ich war sehr überrascht über die Parallelen zur Gouvernantentätigkeit, die die „kleine“ Schwester von Emily Bronte in ihrem Roman „Agnes Grey“ verarbeitet hat, und der ist immerhin schon 1847 erschienen. Bei Interesse hier der Link.
https://buchpost.wordpress.com/2013/12/13/anne-bronte-agnes-grey-1847/
Ach, und Sturmhöhe kann man natürlich immer mal wieder lesen 🙂
Viele Grüße
Anna
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Liebe Anna, nachdem ich gerade durch Deine Besprechung von „Agnes Grey“ geschmökert habe – ein Werk, das ich bisher ehrlich gesagt nicht kannte bzw. kenne – kann ich Dir nur beipflichten. Da gibt es wirklich Parallelen – auch wenn die Kinder in Emeli Bergmans Roman meist deutlich besser wegkommen und nicht der Kern des Problems sind. Aber das Traurig-bedrückende und der Aspekt des „Nicht-Dazugehörens“, der Einsamkeit und des „Fremdseins“ ist den Werken sicherlich gemein. Danke für diese schöne Ergänzung und den weiterführenden Lektüre-Tip!
Emeli Bergmans Roman ist definitiv keine leichte Kost, aber nachdem ich ein gewisses Faible für skandinavische Literatur habe, fand ich es reizvoll, das Debüt dieser jungen, dänischen Autorin zu lesen.
Nachdem ich gerade so viele Bücher auf meinem Stapel liegen habe, die ich am liebsten alle sofort lesen möchte (dieser Bücherherbst hat für mich so viel Verlockendes zu bieten), wird es – fürchte ich – mit einem „Wiederlesen“ von Sturmhöhe wohl so schnell nichts werden, aber wer weiß… 😉
Herzliche Sonntagsgrüße und morgen einen schönen Feiertag! Barbara
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Deinen Absatz über die vielen Bücher auf dem Stapel, die man am liebsten alle sofort lesen möchte, unterschreibe ich mit einem lauten: Jawohl, so ist es 🙂 Und so nutzen wir das Regenwetter und überlegen, was wir als nächstes lesen. Weiterhin ein gutes Händchen bei der Lektüreauswahl. Und nicht wundern, falls ich zwischendurch mal gar nicht kommentiere, ab und an klappt das technisch nicht. Auch dir ein schönes langes Wochenende! Anna
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