Entfesselungszauber

Tradition und Umbruch – im Saale-Unstrut-Gebiet wird immer noch Wein angebaut, die einst florierende DDR-Schuhindustrie gehört jedoch längst der Vergangenheit an. Über gelungene und gescheiterte Fluchten und das Leben 30 Jahre nach dem Mauerfall schreibt Katrin Seglitz in ihrem Roman „Schweigenberg“.

Eingebettet in unterschiedliche Lebensläufe der Hauptfiguren erzählt die Autorin von unschönen und verdrängten Wahrheiten, von erlittenem Unrecht und Schmerz und darüber, wie Menschen damit umgehen.

„Das Leben ist ein Fluss. Die Liebe auch. Man springt hinein und weiß nicht, was im Wasser ist, Blüten oder Gestrüpp, Schatzkisten oder Baumstämme, schwimmende Grasinseln oder Betonpfeiler, alte Räder oder zerbrochene Flaschen, einiges sieht man, anderes nicht.“

(S.124)

Arne Schütz ist Böttcher und Winzer im Saale-Unstrut-Gebiet.
Vor vielen Jahren wurde er wegen versuchter Republikflucht für mehrere Jahre inhaftiert. Als er nun dem Richter wieder begegnet, der ihn damals verurteilt hat, dürstet er nach einer Form von Gerechtigkeit und schmiedet einen gefährlichen Plan…
Als ihm jedoch Iris begegnet, kommt sein Vorhaben ins Wanken, denn mit der Liebe hatte er nicht mehr gerechnet.

„Ein schöner Zufall, dass sie sich in Goseck kennengelernt haben, diesem traumhaften Ort an der Saale, mit dem Ginkgo in der Mitte des Schlosshofs. Goethe hat den Ginkgo im Westöstlichen Diwan besungen, die Blätter des Ginkgos, die geteilt sind und doch eins. Ihr Leben nimmt eine Wendung, eine Ost-West-Wendung.“

(S.131)

Iris, die im Westen an Renaturierungsprojekten arbeitet, sucht und besucht ihre Großmutter Nora, die früher Schuhe in einer florierenden Schuhfabrik der DDR hergestellt hat und jetzt unterschiedlichste Schuhmodelle auf eine Decke stickt, um ihren Erinnerungen Ausdruck und Form zu geben.
Die Fabrik ist längst abgewickelt und einem großen Schlachthof gewichen, der in der Kritik von Tierschützern steht und gegen den heftig protestiert wird.

Die Sprache des Buchs ist auf der einen Seite schnörkellos, nüchtern und schlicht, kommt über lange Strecken nahezu ohne Adjektive aus – auf der anderen Seite enthält der Text auch viele Stellen von berührender Zartheit und feiner Poesie mit wunderbaren Bildern.
So gelingt es der Autorin, die Gegensätze von grauer Ernüchterung einerseits und dem weichzeichnenden Beschönigen im Umgang mit Erinnerungen und der Vergangenheit andererseits auch in die sprachliche Stilistik einzuflechten.

Und auch inhaltlich hat Seglitz viel in dieses Werk gepackt. Der Roman beschönigt nicht, prangert stellenweise an. Er hinterfragt und kritisiert – auch Missstände der heutigen Zeit, wie z.B. die Zustände in so manchen Schlachthöfen.
Das Handwerk bzw. Arbeit mit den Händen – im Weinbau, bei der Herstellung der Fässer oder bei der Anfertigung von Schuhen – ist vielerorts der Großindustrie gewichen – so sind Arne und Nora mit ihren handwerklichen Fähigkeiten Teil einer aussterbenden Spezies.

Der Roman thematisiert Kommunismus und Kapitalismus, den Niedergang von handwerklichen Fähigkeiten, die Kommerzialisierung und das Sterben der DDR-Betriebe nach der Wende. Die Perspektivlosigkeit und der damit einhergehende Wegzug der jungen Menschen Richtung Westen – all das steckt in den ca. 240 Seiten.

Der Aspekt, der für mich jedoch bei der Lektüre klar im Vordergrund stand, ist die Art und Weise, wie man mit erlittenem Unrecht, der Vergangenheit und den eigenen Erinnerungen umgeht. Sinnt man auf Rache wie Arne Schütz? Verarbeitet man sie kreativ und künstlerisch wie Nora, welche sie in Handarbeit auf eine Decke stickt?

„Welche Schuhe tragen ihre Gedanken? Erinnerungsschuhe. Ich werde, denkt Nora, Erinnerungsschuhe auf die Decke sticken. Welchen Faden soll ich nehmen? Einen durchsichtigen? Drachenschnur. Oder Angelschnur. Dünn, durchsichtig und reißfest. (…) Damit wird sie die Schuhe sticken, leichte, strapazierfähige Schuhe mit Sohlen, die erinnerungstauglich sind.“

(S.169/170)

Schweigt man – wie schon im Titel „Schweigenberg“ anklingt – oder spricht man darüber? Wie kann man seinen Frieden mit der Vergangenheit machen? Im Roman wird geschildert, wie nach einem „Entfesselungszauber“ (S.205) gesucht wird, der einem den Umgang mit den Erinnerungen erleichtern soll.

„Früher habe ich mir oft gewünscht, mich nicht erinnern zu müssen. Aber ich hatte keine Wahl. Am Rand meines Gehirns sitzt ein Angler und wirft seine Angel aus. Und immer beißt etwas an. Etwas, das nicht vergessen werden will. Jemand, der ans Licht will, durch mich ans Licht. Und ich versuche zu verstehen, warum er ans Licht will.“

(S.205)

Voll kluger Gedanken zur Vergangenheitsbewältigung und geschichtlicher Aufarbeitung ist es ein Buch, das dazu einlädt, unter der Oberfläche und zwischen den Zeilen zu lesen. Es ist vielschichtig und gibt Impulse und Denkanstöße, die viel Raum für eigene Interpretation lassen und zugleich ist es spannend, zumal ein kleiner Hauch von Krimi durch die Handlung schwebt.

Ich bedanke mich sehr herzlich bei der Autorin Frau Seglitz sowie beim Verlag osbert+spenza, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Katrin Seglitz, Schweigenberg
osbert+spenza
ISBN: 978-3-947941-01-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Katrin Seglitz’ „Schweigenberg“:

Für den Gaumen:
Als Abendessen gibt es bodenständige Kost: „Brot und Butter, Thüringer Bratwürste und Senf“ (S.65).

Zum Weiterhören:
Auch in den musikalischen Querbezügen sind Ost- und West-Anklänge zu finden: So werden Textzeilen aus dem Lied „Albatros“ von Karat ebenso zitiert („Kein Ziel ist zu weit: Der Albatros kennt keine Grenzen…“ – S.119) wie aus dem Song „Lady in Black“ der britischen Band Uriah Heep („She came to me one morning, (…)“ – S.230).

Für einen Museumsbesuch:
Das mittelalterliche Schloss Goseck in Sachsen-Anhalt kann besichtigt werden – ich kenne es persönlich jedoch nicht – und auf Wikipedia findet man ein schönes Bild des Schlosshofs mit dem Ginkgo.

Zum Weiterlesen:
Das oben zitierte Bild des Ginkgos mochte ich sehr und es erinnerte mich an ein feines Buchschmuckstück, das bei mir im Regal steht. Ein wunderschöner Band der Insel-Bücherei „Goethe und der Ginkgo – Ein Baum und ein Gedicht“ von Siegfried Unseld – für bibliophile Menschen, Goethe-LiebhaberInnen und Ginkgo-Fans eine Empfehlung, die von Herzen kommt:

Siegfried Unseld, Goethe und der Ginkgo – Ein Baum und ein Gedicht
Insel-Bücherei
ISBN: 978-3-458-19188-9

14 Kommentare zu „Entfesselungszauber

    1. Danke, Alexander. Ein interessanter Aspekt, den Du da herausgelesen hast. Ich habe – obwohl ich es zügig gelesen habe – das Buch auch nicht als hastig empfunden, denn viele der im Roman geschilderten Verletzungen liegen bereits viele Jahre zurück… und auch die geschilderten Tätigkeiten wie das Böttcherhandwerk, das Anfertigen von Schuhen, Sticken oder Angeln erfordern Zeit. Insofern ist es wirklich ein Text mit viel Tiefgang, den man mit Ruhe auf sich wirken lassen sollte.
      Ich wünsche Dir ebenfalls ein ruhiges und schönes Pfingstwochenende!

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  1. Ich grüße einfach mal aus der schönen Saale-Unstrut-Region. Das Schloss Goseck samt Kirche und Gingko ist wirklich beeindruckend und auch nicht weit entfernt von Freyburg, wo der Schweigenberg zu finden ist. Die Schuhindustrie war einst in Weißenfels beheimatet, auch in der Nähe. Viele Grüße

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    1. Die Grüße freuen mich sehr. Dankeschön! Leider bin ich bis jetzt durch diese schöne Region immer nur durch bzw. daran vorbei gefahren, aber ich sollte mir wirklich einmal die Zeit für einen eigenen und ausgiebigen Besuch dort nehmen. Zu sehen gibt es sicherlich mehr als genug und guten Wein auch… Herzliche Grüße ins schöne Saale-Unstrut-Gebiet und schöne Pfingsttage!

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      1. Unbedingt solltest Du einmal hierher kommen, und wenn Du Tipps brauchst, schreibe mich an. Hier gibt es viel zu erleben. Und die Literatur-Städte Weimar und Jena sind nicht weit, auch Leipzig und Halle nicht. Und ich würde mich sehr freuen, Dich einmal persönlich kennenzulernen. Viele Grüße und einen schönen Pfingstmontag

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      2. Oh, wie mich das freut. Dankeschön, Constanze. Auch wenn die Urlaubsplanung für dieses Jahr schon relativ weit gediehen ist, komme ich bei Zeiten sicherlich gerne auf Dein wunderbares Angebot zurück. Weimar und Leipzig mochte ich sehr und Jena kenne ich bisher noch gar nicht. Ein persönliches Treffen in Deiner schönen Heimat wäre natürlich das Tüpfelchen auf dem i, zumal ich Deinen Blog und auch Deinen Literaturgeschmack sehr schätze und mich da sehr stark wiederfinde. Ganz herzliche Grüße und Dir auch einen sonnigen Pfingstmontag! Barbara

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  2. Ist jetzt 10 Jahre her, dass Frau Seglitz micht fragte, ob ich mich nicht mal rächen wolle an den Richtern, die mich damals verurteilten. Ich hab sie verständnislos angeschaut. Die Richter haben ja nicht ein gutes Recht eines schönen Sozialismus gebeugt oder gebrochen oder … Sie haben ein grottenschlechtes Recht eines Sozialismus angewandt, der nun mal so häßlich war wie er war (Wenn ich heute diese Monologe der Figur Arne lese. Seine Tiraden darüber, dass der Richter die schönen und hehren Ideale des Sozialismus beschmutzt habe … So ein Unsinn. Ich kenne keinen Haftkameraden, der Sozialismus für gut befindet.) Und als Frau Seglitz mich fragte, ob ich denn nun gar nichts lobenswertes finde an der DDR-Diktatur. Da habe ich sie noch verständnisloser angeschaut. https://www.zeitzeugenbuero.de/zeitzeugensuche/zeitzeuge/walther-bodo

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    1. Danke für diese Rückmeldung und die persönliche Sicht des Zeitzeugen, die um so mehr zeigt, wie wichtig es ist, Geschichte aufzuarbeiten.

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  3. „Geschichte aufarbeiten“ ist immer schlechte Literatur.

    Ich lass mal dahingestellt, obe es „wichtig ist“, dass Frau Seglitz die Geschichte einer missglückten Beziehung „aufarbeitet“.

    Jedenfalls ist so was immer schlechte Literatur.

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    1. Bodo Walther verwechselt (seine) Realität mit der Realität meines Romans. Arne Schütz ist nicht Bodo Walther, sondern eine literarische Figur mit eigenen Freiheiten. Arne Schütz darf Meinungen haben und Dinge tun, mit denen Bodo Walther nicht einverstanden ist. Bodo Walther kann sich als Zeitzeuge austoben, er kann seine persönlichen Meinungen und Erfahrungen kundtun, aber darf nicht verlangen, dass eine fiktive Person sagt, was er gesagt hätte und gern sagen würde. Sein Einspruch lässt nur auf mangelnde Kenntnis dessen schließen, was Literatur ist und will. Ein Roman ist keine journalistische Reportage und kein historischer Beitrag, was erzählt wird, hat eine eigene Wahrheit. In meinem Roman „Schweigenberg“ erzähle ich eine Geschichte aus vier verschiedenen Blickwinkeln, in jeder Figur verbinden sich Erzähltes, Gehörte und Erfundenes, Barbara Pfeiffer hat das in ihrem Beitrag über mein Buch gut herausgearbeitet. Danke!

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