Durchgangsstation Auswandererhallen

Wie mag es wohl sein, alle Brücken hinter sich abzubrechen und die Heimat zu verlassen ohne zu wissen, was einen auf der anderen Seite des Ozeans erwartet? Anfang des 20. Jahrhunderts ließ Albert Ballin auf der Elbinsel Veddel die Auswandererhallen errichten. Claudia Weiss erzählt in ihrem historischen Roman „Jenseits von Hamburg“ von diesem Ort und von Menschen, die sich dort begegnen.

1906 – in Hamburg kommen täglich viele Menschen an, die sich nichts sehnlicher wünschen als einen Neuanfang in Amerika. Die Auswandererhallen sind überfüllt und für viele wird die Woche, die sie dort vor ihrer Ausreise verbringen müssen, um alle Formalitäten zu erledigen, zu einer Belastungsprobe und zum Wendepunkt des Schicksals.

Die junge Dascha hat gemeinsam mit ihrer Mutter Ljuba bereits einen langen und strapaziösen Weg hinter sich, als sie in Hamburg ankommt. Sie mussten sich heimlich und voller Angst aus ihrem bisherigen Leben in Russland davon stehlen. Eine gefährliche Flucht aus Gründen, die nicht einmal Dascha zur Gänze kennt und über die nach und nach immer mehr ans Tageslicht kommt.

„Erleichtert – zum wievielten Mal bloß auf dieser Reise? – sah Dascha das Empfangsgebäude der Auswandererhallen vor sich. Es war groß und stattlich, unten aus rotem Backstein, oben weiß verputzt. Seinen gewaltigen Turm samt Uhr hatte sie bereits durch das kleine Wagenfenster erspäht. Aber in voller Größe, nur ein paar Schritte von ihr entfernt, war es weitaus imposanter.“

(S.31)

Wird den beiden die Flucht gelingen? Reicht das Geld, das sie bei sich haben? Oder werden die Verfolger und die Vergangenheit die beiden Frauen doch noch einholen? Und bleiben bzw. sind sie gesund genug, um die Einwanderungskriterien zu erfüllen?

„Der Grat zwischen Achtung und Ächtung kann sehr schmal sein. Manchmal ist es ratsam, den Zeichen der Zeit zu folgen, um im Strom des Lebens zu bleiben.“

(S.120)

In den Hamburger Auswandererhallen begegnen sie vielen Menschen – Jungen und Alten, Kindern und Erwachsenen – mit unterschiedlichsten Schicksalen, doch alle eint die große Sehnsucht nach Amerika, nach einer neuen Zukunft, nach Freiheit, Sicherheit und Wohlstand.

„Komm, Ljuba, es geht immer irgendwie weiter. Hab Vertrauen. Es reicht, den Weg zu sehen, wenn man ihn beschreitet.“

(S.248)

Die junge Dascha trifft unter anderem auf die beiden jüdischen Brüder David und Mashel, die nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Eltern auf grausame Art verloren haben und schwer traumatisiert sind – eine Begegnung, die ihr Leben verändert.

Und auch der Polizeikommissar, der für die Sicherheit und Ordnung in den Auswandererhallen zuständig ist, trägt eine traurige Vergangenheit mit sich herum, die ihn fast zu erdrücken droht. Mit ihm hat die Autorin dem Roman eine weitere spannende Perspektive hinzugefügt, die der Leserschaft besonderere Blicke hinter die Kulissen und in das Getriebe dieses besonderen Orts ermöglicht.

Claudia Weiss ist promovierte und habilitierte Historikerin und hat sich viele Jahre mit Russland als Schwerpunkt beschäftigt. Das Buch profitiert davon, dass sie das Wissen über ihr Fachgebiet und Aspekte ihrer wissenschaftlichen Arbeit ins Buch einfließen lässt.
So erfährt der Leser nebenbei auch einiges über russische Geschichte, unter anderem auch über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Weiss hat Charaktere geschaffen, mit denen man bangt und hofft, die einem ans Herz wachsen und denen man wünscht, dass ihre Träume in Erfüllung gehen.
Man leidet mit diesen Menschen, die alles zurückgelassen haben und alles, was sie besitzen, am Körper tragen. Die ihr letztes Hab und Gut dafür einsetzen, ein neues Leben in Amerika zu beginnen und die leider unter anderem auch Opfer von bösartigen Kriminellen werden, die versuchen, die Notlage und unübersichtliche Situation auszunutzen.

Das Buch gibt einen guten Eindruck der Atmosphäre an diesem besonderen Ort – einer Art Zwischenwelt zwischen altem und neuem Leben mit völlig eigenen Regeln und Gesetzen. Sie macht die Gefühlslage der Menschen, ihre Sorgen, Ängste sowie ihre Zweifel und Verzweiflung, aber auch ihre Hoffnung und Zuversicht spürbar.
Die Schicksale von Dascha, Ljuba, David und Mashel stehen stellvertretend für viele, viele andere Menschen und Lebensgeschichten, die an diesem Ort eine entscheidende Wendung genommen haben.

Ein geschichtlich hochinteressantes Buch, das berührt und die emotionale Ausnahmesituation und die Verletzlichkeit der Auswanderer mit großem Einfühlungsvermögen und Respekt in Form eines Romans in das Bewusstsein der LeserInnen rückt. Ein historischer Roman mit Tiefgang über einen ganz besonderen Ort der deutschen Geschichte, der über viele Jahre Zwischenstation, „Hafen der Träume“ (wie heute ein Teilbereich der Dauerausstellung in der BallinStadt heißt) und das Tor zur Neuen Welt für Millionen von Menschen gewesen ist.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Gmeiner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Claudia Weiss, Jenseits von Hamburg
Gmeiner
ISBN: 978-3-8392-0416-0

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Jenseits von Hamburg“:

Für den Gaumen:
Essen hält bekanntlich Leib und Seele zusammen und Kommissar Kiliszewski, dem es das Leben nicht immer gut gemeint hat, benötigt etwas Bodenständiges, um seiner Sorgen Herr zu werden und etwas auszunüchtern:

„Eine halbe Stunde bevor die letzte Fähre zurück auf die Veddel fuhr, hatte ihm der Wirt eine Portion Rührei mit Bratkartoffeln und einen Kaffee mit den Worten „Das Leben geht weiter, Herr Kommissar“ vorgesetzt (…)“

(S.73)

Für einen Museumsbesuch:
In der BallinStadt Hamburg gibt es heute ein Auswanderermuseum, das ich bisher leider noch nicht besucht habe, aber das bei einem nächsten Hamburgbesuch sicherlich auf meiner Besichtigungswunschliste stehen wird. Vor Ort besteht unter anderem die Möglichkeit, mehr über den Gründer Albert Ballin sowie die Geschichte der Auswandererhallen zu erfahren und gegebenenfalls Ahnenforschung zu betreiben bzw. Einblick in die Hamburger Passagierlisten zu erhalten. Bis dahin lohnt sich ein Besuch auf der Website des Museums.

Zum Weiterlesen:
Wer sich weiterhin literarisch mit Hamburg und deutscher Zeitgeschichte beschäftigen möchte, der kann dies unter anderem mit Hartmut Höhnes Krimi „Mord im Gängeviertel“ tun, der während der Hamburger Sülzeunruhen 1919 spielt und den ich auch bereits hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe:

Hartmut Höhne, Mord im Gängeviertel
Gmeiner
ISBN: 978-3-8392-0175-6

4 Kommentare zu „Durchgangsstation Auswandererhallen

  1. Macht neugierig. Ein großes, interessantes Thema. Ein Dankeschön auch für die Empfehlung meines Buches „Mord im Gängeviertel“ zum Weiterlesen.

    Gefällt 1 Person

    1. Gern geschehen. Hamburg hat so viele interessante Facetten und Themen zu bieten, so dass ich sowohl literarisch als auch in der Realität immer wieder gerne hinreise. Bei einem nächsten Besuch stehen die Auswandererhallen bestimmt auf meinem Besichtigungsprogramm. Herzliche Grüße!

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