Die Sonne scheint, es ist Sommer und man bekommt Lust auf literarische Leichtigkeit. Ich zumindest. Kann das ein Klassiker? Absolut, und wie! Denn einer meiner allerallerliebsten Klassiker ist für mich genau das: sommerliche Leichtigkeit pur. Eines meiner immerwährenden Herzensbücher geschrieben von einem Lieblingsautor, der mich zeit meines Lebens begleitet hat und auch immer begleiten wird: Erich Kästner. Und so war für mich schnell klar, als mich Birgit Böllinger fragte, ob ich in ihrer Reihe „Mein Klassiker“ ein Buch meiner Wahl vorstellen möchte, dass es „Der kleine Grenzverkehr“ sein würde.
Nach fünf Minuten Schwanken zwischen Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ gaben die Sommerzeit und die langen hellen Tage im Juni den Ausschlag pro Kästner.
Das Buch ist in Tagebuchform aus Sicht des Georg Rentmeister im Sommer 1937 verfasst und erschien 1938 ursprünglich unter dem Titel „Georg und die Zwischenfälle“. Erst später bekam der Roman, der durch Erich Kästners Aufenthalt bei den Salzburger Festspielen 1937 in vielen Aspekten autobiografisch inspiriert ist, den Titel „Der kleine Grenzverkehr“.
„In Österreich ins Theater gehen, in Deutschland essen und schlafen: die Ferien versprechen einigermaßen originell zu werden! Mein alter Schulatlas hat mich davon überzeugt, daß Reichenhall und Salzburg keine halbe Bahnstunde auseinanderliegen. Eisenbahnverbindungen sind vorhanden. Der Paß ist in Ordnung. So werde ich denn für meine Person den sogenannten kleinen Grenzverkehr permanent gestalten.“
(S.20)
Und schon das Vorwort des Autors für die Ausgabe aus dem Jahr 1948 macht klar, dass es in wechselvollen Zeiten entstand:
„Als ich dieses kleine Buch, während der Salzburger Festspiele Anno 1937, im Kopf vorbereitete, waren Österreich und Deutschland durch Grenzpfähle, Schlagbäume und unterschiedliche Briefmarken „auf ewig“ von einander getrennt. Als das Büchlein im Jahre 1938 erschien, waren die beiden Länder gerade „auf ewig“ miteinander verbunden worden. Man hatte nun die gleichen Briefmarken und keinerlei Schranken mehr. Und das kleine Buch begab sich, um nicht beschlagnahmt zu werden, hastig außer Landes.“
(S.7)
Ein verspätet gestellter Antrag bei der Devisenstelle zwingt den jungen Georg Rentmeister für seinen Besuch der Salzburger Festspiele zu einem außergewöhnlichen Arrangement: er bezieht Quartier im bayerischen Bad Reichenhall und pendelt per Zug täglich nach Salzburg, wo ihn sein Freund Karl weitgehend freihält und mit Eintrittskarten versorgt. Denn mit zehn Mark für vier Wochen kommt man nicht weit.
In seinem Tagebuch berichtet er über seinen Sommer in Salzburg und schon bald auch ausführlich über seine Begegnung mit dem Stubenmädchen Konstanze, das ihm den Kopf gehörig verdreht und über erstaunliche Sprachkenntnisse und Bildung verfügt…
„Verliebtheit gehört ins Gebiet des akuten Irreseins. Die Infektion des Gemüts deformiert das Verstandes- und Willensleben des Kranken bis zur Unkenntlichkeit.“
(S.29)
Besuche im Café Glockenspiel, sowie im Theater und Konzert, ein Ausflug zum Baden an den nahen Wolfgangsee, Georg und Konstanze genießen den Salzburger Sommer und spielen schließlich selbst Hauptrollen in einem ganz besonderen Theaterstück.
Niemand – auch wenn u.a. Herbert Rosendorfer in seinem „Salzburg für Anfänger“ zugegebenermaßen nahe herankommt – hat für die Stadt Salzburg in meinen Augen schönere, poetischere Worte gefunden als Erich Kästner:
„Der Zusammenklang der verschiedenen Farben und Farbtöne, die alle ins Heitere zielen, vollendet, was eigentlich keiner Vollendung bedarf. Die Dächer schimmern grün, schiefergrau und mennigerot. Über allem ragen die marmorweißen Türme des Doms, das dunkelgrau, weinrot und weiß gesprenkelte Dach der Franziskanerkirche, die altrosa Türme der Kollegenkirche mit ihren weißen Heiligenfiguren, der graugrüne Turm des Glockenspiels und andre rostrote und oxydgrüne Kuppeln und Turmhelme. Man sieht eine Symphonie.“
(S.22/23)

Die Hauptfigur Georg kommt neben den Schönheiten der Stadt auch in den Genuss zahlreicher Aufführungen und Höhepunkte der Salzburger Festspiele: er sieht den „Faust“, den „Jedermann“ von Hofmannsthal, hört das Domkonzert mit einer Beethovenmesse, zudem natürlich Mozart und geht in die Oper zum „Rosenkavalier“ – ein Programm, um das ich ihn heute noch beneide.
Für mich ist daher „Der kleine Grenzverkehr“ auch ein Buch über Kultur, Musik, Kunst, Theater, Oper und Literatur sowie deren Stellenwert und Schönheit. Wenn Georg (alias Erich Kästner) mit dem Maler Karl (alias Walter Trier, der Schöpfer der weltberühmten Illustrationen für Kästners Kinderbücher) und Konstanze – schon der Name ist ja einer Mozartoper entsprungen – durch Salzburg zieht und die kulturellen Angebote genießt, wäre man selbst gerne dabei.
Das Buch steht unter dem Motto „Hic habitat felicitas“ (Hier wohnt das Glück) – laut Anmerkung Kästners wurde es auf einem altrömischen Mosaikfußboden in Salzburg gefunden, als man den Grundstein zum Mozart-Denkmal legte (vgl. S. 16).
Und das trifft es genau, denn für mich wohnt das Glück in diesem Buch, in dieser schönen sommerlichen Liebesgeschichte, die für kurze Zeit alle Sorgen vergessen lässt, ein Lächeln ins Gesicht zaubert und Balsam für die Seele ist.
Zugegeben, wer bei Salzburg nur an den legendären Schnürlregen und die zähflüssigen Touristenströme in der Getreidegasse denkt, der wird dem Buch vielleicht nicht so viel abgewinnen können. Aber wer wie ich die Stadt an der Salzach kennt und schätzt, Erich Kästner mag und die gut 100 Seiten zum Beispiel an einem schönen Sommerabend auf einen Rutsch genießt, der wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit für immer ins Herz schließen.
Aber bitte Risiken und Nebenwirkungen beachten: Das Buch weckt ein riesiges Verlangen, schnellstmöglich wieder einmal nach Salzburg zu fahren, durch den Mirabellgarten zu flanieren, sich in ein Kaffeehaus oder in einen Biergarten zu setzen und das eindrucksvolle Panorama und rege Treiben um sich herum auf sich wirken zu lassen.
Obwohl ich ich irgendwann aufgehört habe zu zählen, wie oft ich das Buch bereits gelesen habe, hat es mich bei der Lektüre für diesen Beitrag wieder aufs Neue begeistert. Der Zauber dieses Sommer-Kästners (für den Winter ist es übrigens „Drei Männer im Schnee“) hat auch nach 85 Jahren nichts von seiner Magie und Leichtigkeit verloren und wirkt bei mir immer und in allen Lebenslagen wie Medizin: meine persönliche literarische Kästner’sche „Hausapotheke“!
In diesem Sinne wünsche ich allen viel Freude bei der Kästner-Lektüre bzw. in Salzburg und einen schönen Sommer!

Herzbowle
Wer meine Herzbowle noch nicht kennt oder neu auf meine Kulturbowle gestoßen ist: hier geht’s zur ersten Folge mit Astrid Lindgrens sommerlichem Schärenroman „Ferien auf Saltkrokan“, hier zur zweiten mit Helene Hanffs „84, Charing Cross Road“ und zur dritten mit Erich Kästners „Drei Männer im Schnee“.

Mit Erich Kästners „Der kleine Grenzverkehr“ habe ich zudem wieder einen weiteren Punkt meiner „23 für 2023“ erfüllt – Punkt Nummer 1) auf der Liste: Ich möchte einen Klassiker lesen. Wenn ich einen Roman in der Reihe als „Meinen Klassiker“ auf Birgit Böllingers Blog vorstellen darf, dann darf ich sicherlich auch diesen Punkt meiner Liste als erfüllt betrachten.

Buchinformation:
Erich Kästner, Der kleine Grenzverkehr
dtv
ISBN: 3-423-11010-4
Meine Ausgabe ist schon etwas älter, aber aktuell ist der Roman in einer Ausgabe des Atrium Verlags erhältlich:
Erich Kästner, Der kleine Grenzverkehr
Atrium Verlag
ISBN: 978-3-03882-015-4
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Erich Kästners „Der kleine Grenzverkehr“:
Für den Gaumen:
Im Bad Reichenhaller Hotel trinkt Georg ein ganz besonderes Getränk, das mir bei allen bisherigen Lektüren offen gestanden noch gar nicht so ins Auge gestochen war:
„Eben bin ich aus Salzburg zurückgekommen; nun hock’ ich, Mitternacht ist vorbei, in der Hotelbar und trinke das vielgeliebte „Charlottenburger Pilsner“, wie die Freunde die herzhafte Mischung aus Sekt und Bier getauft haben.“
(S.22)
Zum Weiterschauen:
1943 wurde „Der kleine Grenzverkehr“ nach einem Drehbuch von Erich Kästner mit Hertha Feiler und Willy Fritsch verfilmt. Ich habe den Film, der während der Zeit des Nationalsozialismus entstand, bisher nicht gesehen.
Zudem gibt es wohl auch eine weitere Verfilmung aus dem Jahr 1956 mit Marianne Koch und Paul Hubschmid unter dem Titel „Salzburger Geschichten“, die ich jedoch ebenfalls nicht kenne, weil ich mir bei diesem Buch meine eigenen Bilder im Kopf nicht durch andere ersetzen lassen möchte.
Zum Weiterhören:
Beim Domkonzert hört Georg neben der C-Dur-Messe op. 86 von Beethoven auch die „Gesänge nach Petrarca“ von Cornelius.
Zum Weiterlesen:
Der nächste Winter kommt bestimmt und auch dafür gibt es den perfekten Kästner, den ich bereits hier in der Herzbowle vorgestellt habe und der für gute Laune sorgt: „Drei Männer im Schnee“.
Erich Kästner, Drei Männer im Schnee. Inferno im Hotel
Atrium Verlag
ISBN: 978-3-03882-016-1
Nochmals tausend Dank für diesen wunderschönen Gastbeitrag in der Reihe #MeinKlassiker! Und wie die Kommentare dort zeigen: Die Kästner-Besprechung begeistert auch andere. Mich ließ sie sofort an das winterliche Pendant denken und was finde ich hier verlinkt: Die drei Männer im Schnee 🙂 Ich hätte mir das fast denken können, dass da eine gemeinsame Vorliebe besteht.
Herzliche Grüße!
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Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen. Es hat großen Spaß gemacht, dieses Buch, das mir schon so lange ans Herz gewachsen ist, wieder zu lesen und dieses Mal auch den Zauber in Worte zu fassen, den es auf mich ausübt.
Zudem finde ich die Idee der Reihe #MeinKlassiker auch einfach wunderbar. Es ist so schön zu entdecken, welche Klassiker anderen LiteraturfreundInnen und BloggerkollegInnen besonders am Herzen liegen. Insofern freue ich mich schon sehr und bin neugierig auf alle weiteren Beiträge zur Reihe!
Ebenfalls sehr herzliche Grüße!
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Kâstner kann so viel mehr. Man muss ihm die Chance geben, nicht an die Kinderbücher zu denken
Liebe Grüße
Nina
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Das stimmt, ich mag auch die Gedichte und die Werke für Erwachsene sehr.
Aber ich liebe auch seine Kinderbücher… Viele Grüße! Barbara
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