Lebensweisheit und Wirtshausdunst

Spätestens seit „Der Trafikant“ ist Robert Seethaler vielen ein Begriff und so erwarten zahlreiche Menschen jedes neue Buch von ihm mit großer Spannung und kribbeliger Vorfreude – so auch ich. Dass es dieses Mal ins Wien der Sechziger und Siebziger Jahre sowie in die Welt der Gastronomie ging, war da für mich noch das Tüpfelchen auf dem i bzw. das Häuberl Schlagobers auf der Torte und ich habe „Das Café ohne Namen“ Seite für Seite mit großem Genuss gelesen bzw. geradezu verschlungen.

„Im Gastraum wehte der Dunst aus der Küche wie ein warmer Schleier und bildete mit dem Zigarettenqualm, dem Geruch von Zwiebeln, Bier und Bohnenkaffee und dem in Wellen aufbrandenden Lärm der Gespräche eine Atmosphäre von dampfiger Heimeligkeit.“

(S.50/51)

Robert Simon ist Kriegswaise und in einem Heim der Barmherzigen Schwestern aufgewachsen. Zunächst hält er sich als Hilfsarbeiter mit kleinen Gelegenheitsjobs auf dem Markt über Wasser. Doch insgeheim träumt er davon, sein eigenes Lokal zu eröffnen und als Wirt hinter der Schank zu stehen.

„Mit dem Café hatte er sich seinen Traum verwirklicht, doch nun wurde ihm die schlichte Tatsache bewusst, dass jeder Traum verschwindet, sobald er sich erfüllt.“

(S.157)

Als sich die Chance dazu bietet und er ein Café im Viertel pachten kann, packt er diese Gelegenheit beim Schopf. Aller Anfang ist schwer, die Tage sind lang, doch nach und nach erarbeitet er sich eine treue Stammkundschaft. Und er bekommt Hilfe in Person der zupackenden Mila, die schnell nicht mehr wegzudenken ist aus der Wirtschaft.

„Ungefähr um diese Zeit merkte Simon, dass sich sein Lebensrhythmus auf sonderbare Weise verformt oder verzogen hatte. Während dieTage sich immer weiter zu dehnen und zu strecken schienen, flogen die Jahre nur so dahin und hinterließen kaum mehr als ein paar verwehte Erinnerungsspuren.“

(S.156)

Die Jahre vergehen, die Gäste kommen und gehen. Da wird geplaudert, gelästert, geklatscht und getratscht. Es gilt, so manchen Schicksalsschlag wegzustecken und doch gibt es auch immer wieder einen Grund zu feiern.

„Man sollte sich immer ein bisschen mehr Hoffnung als Sorgen machen. Alles andere wäre doch blödsinnig, oder?“

(S.26)

„Das Café ohne Namen“ wird zum Dreh- und Angelpunkt des Grätzls. Es wird gelacht, geweint, gehasst und geliebt – während sich rundum die Geschichte weiterdreht und sich die Welt verändert. In Wien stürzt 1976 die Reichsbrücke ein und auch Robert Simons Leben nimmt noch einmal eine neue Wendung.

„Am besten ist, man sucht sich ein schattiges Platzerl im Leben und hält still.“

(S.176)

Es ist zauberhaft, wie Robert Seethaler die Wirtshausatmosphäre lebendig werden lässt und die Geschichten der Gäste stellvertretend für so viele Lebensgeschichten zu einer wunderbaren Wiener Melange vermischt.

Da findet man die Kartenspieler, die Säufer mit Prinzipien, Grantige und Gutgelaunte, Temperamentvolle und Traurige, Stille und Laute, Zynische und Lebensfrohe – die Gäste spiegeln den Querschnitt der Bevölkerung wider. Es sind die einfachen Leute, die im „Café ohne Namen“ verkehren, ihr Feierabendbier trinken oder sich im Winter beim Punsch wärmen.

„Schmerzen sind bloß kleine Bosheiten des Lebens. Richtig schlimm wird es erst, wenn du sie nicht mehr spürst.“

(S.138)

Der Wirt ist immer da, schenkt ein, hört zu und steht hinter seiner Theke. Er schafft den Raum für Begegnung, bereitet die Bühne für die Geschichten, die das Leben schreibt. Er trotzt Katastrophen und Schicksalsschlägen und hält sich unspektakulär und dezent im Hintergrund.

Robert Simon ist – wie so viele Figuren Seethalers – ein bodenständiger, bescheidener, geerdeter und zufriedener Mensch, der sein Schicksal weitestgehend selbst in die Hand nimmt – auch wenn so mancher Traum vielleicht doch noch offen bleibt.

„Vor zehn Jahren war es ein staubiges Loch, jetzt sitzen dort jeden Abend außer Dienstag Menschen, um wenigstens für ein paar Stunden den ganzen Schlamassel um sie herum zu vergessen. Es ist warm, die Fenster sind im Winter dicht und es gibt etwas zu trinken, und vor allem kann man reden, wenn man es nötig hat, und schweigen, wenn einem danach ist. Die Welt dreht sich immer schneller, da kann es schon passieren, dass es einige von denen, deren Leben nicht schwer genug wiegt, aus der Bahn wirft. Ist es da nicht gut, wenn es einen Platz gibt, an dem man sich festhalten kann?“

(S.239/240)

Solange Seethaler solche Bücher schreibt, an denen man sich festhalten und erfreuen kann, ist das Leben schon ein klein wenig besser. Denn kaum jemand beherrscht es, das Leben mit Tiefen, aber auch Höhen und vor allem das kleine Glück so schön zu beschreiben.

Es ist diese Kunst zu formulieren, dieser ganz besondere Seethaler-Sound, der mich immer wieder aufs Neue begeistert und diese Gabe, Zeit und Raum so sinnlich zu beschreiben, dass man sofort meint, selbst dabei gewesen zu sein.
Für mich zählt „Das Café ohne Namen“ daher zu den schönsten Büchern, die ich dieses Jahr gelesen habe und jetzt heißt es wieder warten und vorfreuen auf das, was hoffentlich noch kommt.

Weitere Besprechungen gibt es unter anderem bei Explorierendes Lesen und Buch-Haltung.

Buchinformation:
Robert Seethaler, Das Café ohne Namen
Claassen
ISBN: 978-3-546-10032-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Robert Seethalers „Das Café ohne Namen“:

Für den Gaumen (I):
In Robert Simons Wirtshaus gibt es eine besondere Spezialität, die bei den Gästen sehr beliebt ist: den „Österreicher“:

„(…) ein mit Zwiebeln belegtes Schmalzbrot, das, weil Mila es vor dem Servieren mit breiten Streifen aus rotem Paprikapulver überstreute, von den Gästen Österreicher genannt wurde.“

(S.50=

Für den Gaumen (II):
Zu einem weiteren Verkaufshit wird der wärmende Punsch, den Robert auf Anregung seiner Vermieterin auf die Karte setzt:

„Ein Winter ohne Punsch ist kein richtiger Winter. Nur darf es nicht irgendein Punsch sein. Es muss der beste sein, alles andere ist die Mühe nicht wert.“

(S.49)

Zum Weiterhören:
Bei einer Feier werden Platten aufgelegt und zum großen Partyhit wird – ganz der Zeit entsprechend – „Chirpy Chirpy Cheep Cheep“ aus dem Jahr 1970. Die bekannteste Version des Songs stammt von der Band Middle of the Road.

Zum Weiterlesen:
Es ist nicht das erste Buch von Robert Seethaler, das ich hier auf meiner Kulturbowle vorstelle. Einer meiner allerersten Beiträge auf diesem Blog im August 2020 hat sich mit seinem Roman Der letzte Satz beschäftigt, der von Gustav Mahlers letztem Lebensabschnitt handelt. Der Roman wurde damals in Bloggerkreisen durchaus kontrovers diskutiert, ich mochte ihn jedoch sehr gerne.

Robert Seethaler, Der letzte Satz
Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-26788-6

23 Kommentare zu „Lebensweisheit und Wirtshausdunst

  1. Melange ist immer gut – erst vor ein paar Wochen mit großem Genuss getrunken auf der wunderbaren Terrasse des Salzburger Café Bazar.

    Sommerliche Grüße!

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  2. Ich stimme sehr zu. Café ohne Namen war mein erstes Buch von ihm und ich habe es sehr genossen, auch habe ich mitgelitten und mitgelacht und war mitentsetzt. Ich werde vielleicht „Der letzte Satz“ mal lesen, wenn es die Zeit zulässt, ansonsten warte ich ebenfalls gespannt auf das nächste Buch. Ich mag solche lebensnahen und lebensechten und lebensbejahenden Büchern. Ein sehr schöne Besprechung. Ich mag, dass du viele Zitate gebracht hast – Mila, im übrigen, ist mir besonders ans Herz gewachsen, wie sie sich verabschiedet, am letzten Tag, da werden mir glatt jetzt wieder die Augen feucht … Viele Grüße!

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    1. Danke, Alexander. Ich war mir bei Deiner Besprechung ehrlich gestanden nicht ganz sicher, ob und wie sehr Du es wirklich mochtest. Aber um so schöner, wenn es Dir doch gefallen hat und natürlich freue ich mich auch über das Lob für meinen Beitrag. 🙂
      Bei Seethaler musste ich einfach viel zitieren, weil es so viele feine Stellen gibt, die es verdienen, festgehalten zu werden. Ganz herzliche Grüße!

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    1. Danke für den Link und die Richtigstellung – da kann man bei Namensgleichheit, der selben Stadt und bei zwei Schriftstellern schon mal durcheinanderkommen. Herzliche Grüße ins schöne Wien und hoffentlich bald ein wenig Abfrischung!

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  3. Ich war mal in Thomas Bernhards Lieblingskaffeehaus „Bräunerhof“ in Wien. Leider nur einmal. Wenn ich dort in der Nähe wohnen würde und auch noch Thomas Bernhard hiesse, würde ich da jeden Tag mal vorbeischauen. Denk ich mal so. Ach ja, die Verfilmung von „Der Trafikant“ hat mir sehr gut gefallen. Die Trafiken in Österreich mag ich auch überhaupt. Schade dass ich nicht mehr rauche. In meinen „Tabac“-Laden im Elsass gehe ich nur, wenn ich mal wieder zu schnell gefahren bin und ein französisches Knöllchen – contravention, PV – bezahlen muss. Das wollte ich jetzt nur mal so eingeflochten haben. Merci.

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    1. Danke fürs „Einflechten“. Die Kaffeehäuser in Wien sind einfach etwas Wunderbares und schon für sich genommen eine Reise wert – den Bräunerhof nehme ich mal gerne mit als Tipp für die nächste Reise. 🙂Zudem mochte ich den Roman „Der Trafikant“ sehr – ich habe ihn wie immer gelesen, bevor ich den Film gesehen habe – und wie meistens mochte ich das Buch (noch ein Stückchen) lieber als den Film. Aber beides ist definitiv zu empfehlen.

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