Liechtensteinische Muttergefühle

Wie verändert sich das Leben und der Alltag einer Schriftstellerin, wenn sie Mutter wird und was geschieht dabei mit ihrer Kreativität, ihrem Körper, ihrem Geist? Die 1987 geborene liechtensteinische Autorin Anna Ospelt hat sich in ihrem außergewöhnlichen poetischen Prosawerk „Frühe Pflanzung“, das sich in meinen Augen einschlägiger Genreeinordnungen entzieht, genau mit diesen Fragen auseinandergesetzt.

Während der Schwangerschaft und dem ersten Lebensjahr ihrer Tochter hat sie eine Art Journal oder Tagebuch mit kurzen Notizen und Beobachtungen geführt. Sie schreibt in kurzen Abschnitten bzw. Absätzen, manchmal nur einen einzigen Satz oder gar nur zwei Worte und doch stecken in diesen knappen Formulierungen und notierten Wahrnehmungen tiefgründige Gedanken und Gefühle.

Anna Ospelt hört tief in sich hinein, nimmt ganz wachsam und bewusst wahr, was in ihr und um sie herum geschieht – sie beobachtet aufmerksam, reflektiert und notiert.

Gleich der Auftakt im ersten Teil des Buchs ist sehr bewegend und berührend, zumal sie beschreibt, wie sie eine Fehlgeburt verarbeitet, bevor sie erneut schwanger und schließlich Mutter einer gesunden Tochter wird.

Eine intensive Zeit und ein außergewöhnlicher Lebensabschnitt, den sie mit ihren poetischen Notaten in kurzen, konzentrierten Sätzen einfängt und im Zusammenspiel mit Beobachtungen in der Natur durchlebt und so zu ihrem Werk verarbeitet:

„Die poetische Bepflanzung der Schwangerschaft.“

(S.24)

Es sind Seelenzustände, die sie beschreibt, Gefühlswelten einer Schwangeren und Mutter: Wochenbett, Stillen, Schlafmangel, das erste Lebensjahr des Kindes, kleine Alltagsfluchten, erste Schritte zurück ins Berufsleben.

Draußen durchläuft die Natur den Zyklus der vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter ziehen vorbei mit entsprechender Flora, bunten Blättern, Sonne, Regen, Schnee.

Naturbeobachtung und Innenschau gehen Hand in Hand und auch Lektüreerlebnisse und Zitate von Friederike Mayröcker, Antonia Baum oder Inger Christensen finden ihren Niederschlag in Ospelts Reflexionen.

„Frühe Pflanzung“ ist ein sehr intimes und persönliches Buch, das tief in die Seele der Autorin blicken lässt. Ein mutiges Buch, ein ambivalentes Buch, das sowohl Freude und Glück über das Kind zum Ausdruck bringt, aber auch Raum lässt für Selbstkritik, Zweifel und das zeitweise Hadern mit der Mutterrolle bzw. Gedanken zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

„Woher kommt das verpflichtende Gefühl, in der Selbstaufgabe Glückseligkeit finden zu müssen? Woher kommt die Enttäuschung darüber, diese Pflicht nicht zu erfüllen?“

(S.36)

So thematisiert sie direkt und ehrlich auch ihr schlechtes Gewissen, ihre Selbstzweifel, ihre Müdigkeit aufgrund zahlloser durchwachter Nächte, ihre Sehnsucht nach ihrer beruflichen Tätigkeit, nach kleinen Freiräumen im Alltag, nach Zeit für sich selbst und ihr Schreiben.

Ospelt verklärt nichts, beschreibt sehr offen, wie sowohl das Lesen, aber auch das Schreiben, ihr trotz allem Halt gegeben haben, gleichsam Rettung und Anker sein konnten.

„Wie als Teenager nutze ich das Lesen als Refugium. Lese mich aus dem Alltäglichen davon.“

(S.47)

Anna Ospelts Buch ist aufgrund seiner puristischen, prägnanten Erzählform besonders – gleicht manchmal nahezu der Form des Journaling oder Nature Journaling – auch gerade dann wenn auch Fotos Einzug finden, wie zum Beispiel Bilder von Eicheln.

„Eicheln sind Erzählkapseln.“

(S.17)

Doch Ospelt macht nicht Halt bei der reinen Naturschilderung und -beschreibung, sondern findet ihren ganz individuellen Weg, diese Naturbeobachtungen mit ihren persönlichen Erfahrungen, ihrer Stimmungslage und ihren Gedanken zur Mutterschaft und ihrer Lebenssituation verschmelzen zu lassen.

So hat Ospelt mit ihren kurzen Notaten und Gedankengängen oft selbst kleine Erzählkapseln geschaffen. Denn in so manchem Satz steckt so viel Verborgenes zwischen den Zeilen bzw. zwischen den Worten.

Gerade durch diese reduzierte Form destilliert die Autorin so die wesentlichen Aspekte und ihre Kernaussagen besonders stark heraus, kreiert gleichsam eine Essenz, die auf engstem Raum große Wirkung entfaltet.

Wie man vielleicht merkt, fällt es mir nicht leicht, diesen zarten Band mit gerade einmal ca. 90 Seiten, den der Limmat Verlag als Hardcover mit wunderbaren, abstrakten Blüten auf dem Umschlag sehr schön gestaltet hat, formal einzuordnen oder exakt zu beschreiben, zumal ich mich nicht erinnern kann, bisher Ähnliches gelesen zu haben. Eine schwebende, emotionale, intensive, anregende und nachhallende Lektüre, die man sich selbst erlesen und somit selbst erfahren sollte und für die es auch einer gewissen Aufgeschlossenheit und Neugier bedarf, weil sie sich fernab ausgetretener Pfade und der üblichen Roman-, Gedicht- oder Erzählformen bewegt.

Sicher aber auch ein Buch, das man ebenso mehrfach mit Gewinn zur Hand nehmen und – wie bei Gedichten – wieder Neues entdecken kann. Gerade auch durch den dritten Teil, der die Stimmungen der vier Jahreszeiten lebendig werden lässt.

Und weil es so schön ist, noch ein kurzes Beispiel hierfür als appetitanregender Abschluss:

„Schnee fällt zwischen die Zeilen.
Das Wort knistert.“

(S.84)

Seit langem ist es mir mit diesem Buch auch endlich wieder einmal gelungen, meine literarische Europareise fortzusetzen. Denn Anna Ospelt ist in Vaduz in Liechtenstein geboren und lebt auch dort.

Die bisherigen Stationen meiner Europabowle oder Literarischen Europareise haben mich nach Finnland, Irland, Italien, Österreich, Dänemark, Rumänien, Griechenland, in die Schweiz, nach Spanien, Slowenien, Frankreich, Schweden und Norwegen geführt – wer neu auf die Kulturbowle gelangt ist und noch weiterreisen oder nachlesen möchte, was bisher geschah, kann dies auf den farbig hinterlegten Länderbezeichnungen gerne tun. Weitere Stationen sind in Planung und werden folgen.

Ich bedanke mich sehr herzlich bei der Autorin Anna Ospelt und beim Limmat Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Anna Ospelt, Frühe Pflanzung
Limmat
ISBN: 978-3-03926-052-2

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Anna Ospelts „Frühe Pflanzung“:

Für den Gaumen:
Kulinarik spielt im Buch keine große Rolle, denn da isst die Mutter zwar mal ein „Müsli“ (S.46), aber im Zentrum stehen klar die Bedürfnisse des Kindes, welchen sie sich unterordnet.

Zum Weiterschauen:
Es gibt ein Gemälde von Paul Klee namens „Junge Pflanzung“, auf das sich Anna Ospelt im Buch bezieht (S.17) und das vielleicht ja auch bei der Titelauswahl ein wenig Pate gestanden haben könnte.

Zum Weiterlesen:
Bereits 2020 erschien Anna Ospelts Buch „Wurzelstudien“, in welchem sie sich mit ihren eigenen Wurzeln und denen in der Natur gleichermaßen beschäftigt und dies ergänzt durch zahlreiche Fotografien.

Anna Ospelt, Wurzelstudien
Limmat
ISBN: 978-3-85791-893-3

6 Kommentare zu „Liechtensteinische Muttergefühle

  1. Was für schöne Zitate. Ich mag diese Form der Literatur – ich mag Miniaturen, kleines Leuchten und Glänzen, Erzählkapseln, wie du es nennst, oder kleine Perlen. Es erscheint mir wie die Essenz der Prosa in Form der Lyrik verpackt. Edmond Jabès ist auch so einer, Philippe Jaccottet oder Jules Renard. Ich werde Anna Ospelts Buch anschauen. Ich bin gespannt. Danke für den Tipp!

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    1. Danke, Alexander. Für mich war es eine wirklich besondere Lektüre. Die reduzierte Form hat wirklich ihren eigenen Reiz, aber man muss sich darauf einlassen, sich Zeit nehmen, die Worte wirken lassen und die Erzählkapseln (der Ausdruck stammt von Anna Ospelt – da will ich mich nicht mit fremden Federn schmücken😉) quasi für sich selbst öffnen… Herzliche Grüße und einen guten Start ins Wochenende!

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  2. Manchmal war ich ganz froh, dass ich all die Mühen vergessen hab. Tatsächlich bleiben einem aus dieser ersten Zeit eher die schönen Erinnerungen (ja, da waren auch die ganzen harten Dinge, incl. Geburt) aber vielleicht vergessen wir vieles Negative extra, damit wir mehr Kinder bekommen. Als würde uns die Biologie austricksen. Denn sonst merken wir uns oft eher das Negative im Leben.
    Liebe Grüße
    Nina

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    1. Ich finde, dass die Autorin eine sehr aufrichtige Art gefunden hat, die auf mich sehr überzeugend wirkt, das Thema zu verarbeiten und die positive Seiten kommen auch nicht zu kurz. Und Du hast recht, denn sicherlich hilft es, sich eher an Positives zu erinnern – das gilt auch für andere Aspekte im Leben. Herzliche Grüße und eine gute Woche! Barbara

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