Schmerzhafte Spurensuche

Falls ich da war, habe ich nichts gesehen“ ist ein Zitat aus einer sizilianischen Geschichte, welche der Vater der Autorin Michela Marzano ihr und ihrem Bruder in der Kindheit oft erzählte und welche in der Familie zum geflügelten Wort wurde, wann immer ein Schuldiger für ein Malheur oder Vergehen gesucht wurde:

„Ich war nicht da, falls ich da war, habe ich nichts gesehen, und falls ich etwas gesehen habe, erinnere ich mich nicht.“

(S.28)

Worte, die in ihrer Absurdität wie Hohn in den Ohren klingen und symbolisch und stellvertretend für Verleugnen, Verschweigen und Verdrängen stehen.

Michela Marzano stammt aus Lecce (bzw. der italienischen Region Salento, in welcher auch Tabak angebaut wurde) und was sie in ihrem autobiografischen Buch bzw. über die Geschichte ihrer Familie erzählt, ist im wahrsten Sinne des Wortes starker Tobak.

„Jeder Autor, jede Autorin weiß, dass ein Buch immer auch der Versuch ist, mit sich selbst ins Reine zu kommen, dass man sich mit den eigenen Dämonen konfrontiert, die eigene Angst und Scham in das Erzählte projiziert.“

(S.42)

Rein zufällig entdeckt Marzano (1970 in Rom geboren), die mittlerweile in Frankreich lebt und als Dozentin und Journalistin bzw. Autorin arbeitet, dass ihr Vater (Geburtsjahr 1936) mehr als nur einen Vornamen besitzt: Ferruccio Michele Arturo Vittorio Benito. Sie traut ihren Augen nicht, als sie den letzten Vornamen Benito auf der Taufurkunde entdeckt. Diese Entdeckung, dass ihr Vater auch den Namen Benito Mussolinis trägt, wird zu einem Schlüsselerlebnis und sie beginnt zu recherchieren, tief in Archiven, in alten Dokumenten, vergrabenen Kisten im Keller ihrer Familienangehörigen zu graben.

„Die Italiener:innen sprechen sich schnell von ihren Sünden frei. Doch damit wird dem Widerstand, wird allen anderen, die sich dem Regime entgegengestellt haben, die ins Exil geschickt oder im Ausland gefangen genommen wurden, die umgebracht oder auf andere Art und Weise gebrochen wurden, unrecht getan.“

(S.44)

Und je tiefer sie gräbt, desto klarer wird, dass sie bisher in vollkommen falschem Glauben über die Geschichte und politische Überzeugung ihrer Vorfahren gelebt hat. Als sie entdeckt, dass ihr Großvater ein Faschist der ersten Stunde war und sogar beim Marsch auf Rom dabei war, bricht für sie eine Welt zusammen.

„Mein Großvater war dabei. Und ehrlich gesagt ist es mir egal, ob er aus Gutgläubigkeit handelte, ob er dem Duce vertraute, als er erklärte, die faschistische Gewalt sei gar nichts im Vergleich zu dem, was die Bolschewiki in den Jahren 1919 und 1920 angerichtet hätten. Mein Großvater war dabei, und letzten Endes gibt es keine Entschuldigung dafür. (…) Ich kann und will keine Entschuldigung finden, denn es wäre nicht gerecht. Alles, was ich empfinde, ist Scham.“

(S.78)

Ihr Weltbild gerät ins Wanken, war sie doch bisher der festen Überzeugung in einer politisch links orientierten Familie aufgewachsen zu sein.

Indem sie die Ergebnisse ihrer individuellen Recherchen darlegt, ergibt sich auch ein grundsätzliches Bild des Umgangs der italienischen Gesellschaft mit der Vergangenheit.

„Warum suche ich dann so verbissen nach Erklärungen? Warum kann ich nicht akzeptieren, dass die Geschichte meiner Familie genauso düster ist wie die Geschichte Italiens?“

(S.146)

Marzano beschreibt ihre Spurensuche sehr persönlich, lässt tief in ihre Seele und ihre Gefühlswelt blicken und offenbart ihrer Leserschaft, wie sehr sie die Nachforschungen und Entdeckungen beschäftigen. Ihr Buch wird so auch zu einer Analyse ihrer selbst, in der sie versucht, ihre bisherige Lebensgeschichte und Entwicklung besser zu verstehen.

Bei der Lektüre wird klar, dass auch ihre Kindheit und ihr Heranwachsen stark durch die familiäre Geschichte beeinflusst wurden, ohne dass ihr dies zu diesem Zeitpunkt bewusst war. Es ist die Prägung durch das Elternhaus, die Härte gegen sich selbst, die Disziplin und der Ehrgeiz, sich in den Augen der Eltern – insbesondere auch des Vaters – als würdig zu erweisen, der unter anderem zum Auslöser einer Essstörung wird. Auch darüber schreibt Marzano sehr offen, ebenso wie über ihre Gefühle darüber, selbst nie Mutter geworden zu sein.

„Unsere Wurzeln bestimmen nicht unser Wesen, schließlich sind wir keine Bäume. Aber trotzdem tragen wir das Erbe unserer Familie in uns. Wir sind die Früchte der Geschichte, die sich von Generation zu Generation weitervererbt, die in uns allen fortbesteht und in uns lebt; sogar wenn wir uns nicht selbst an diese Geschichte erinnern können, formt sie unser Wesen und leitet unser Handeln, sie schlägt sich in unserer Sprache nieder, in unserer Art, die Dinge zu benennen.“

(S.152)

Obwohl es ein zutiefst persönliches Buch aus Sicht der Autorin ist, steht es wohl exemplarisch für viele italienische Familiengeschichten und Schicksale. Marzano merkt an, dass eine ehrliche und ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit in vielen Fällen bislang nicht stattgefunden hat.

Es ist bewundernswert, wie Marzano sich mutig den Dämonen ihrer Vergangenheit stellt – trotz allen Widerstands auch innerhalb der eigenen Familie und trotz des Schmerzes, der damit verbunden ist.

„Wenn wir uns der Vergangenheit nicht stellen, geben wir ihr Macht über uns. Wenn wir denken, wir haben die Vergangenheit ausgelöscht, flammt sie um so heller auf. Früher oder später holt sie uns ein. Und dann müssen wir unsere Rechnung begleichen.“

(S.149/150)

Für mich war es hochinteressant zu lesen, wie in Italien mit dem Thema geschichtlicher Aufarbeitung bzw. der faschistischen Vergangenheit umgegangen wird bzw. wurde, kenne ich doch diesbezüglich primär die deutsche Sicht (und aus erster Hand bzw. eigener Erfahrung vor allem die meiner, d.h. einer bestimmten Generation).

„Falls ich da war, habe ich nichts gesehen“ ist ein schonungsloses und wichtiges Buch, das eindringlich und unmissverständlich klar macht, welchen Stellenwert die Erinnerungskultur in Italien, aber auch anderen Ländern, haben sollte. Ein Weckruf, von dem man sich wünscht, dass er Gehör findet. Ein Buch, das ich uneingeschränkt empfehlen kann und aus tiefer Überzeugung heraus auch empfehlen möchte.

Eine weitere Besprechung des Buchs findet man bei Birgit Böllinger.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eichborn Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Michela Marzano,
Falls ich da war, habe ich nichts gesehen
Aus dem Französischen von Lina Robertz
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0150-1

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Michela Marzano „Falls ich da war, habe ich nichts gesehen“:

Für den Gaumen (I):
Im Salento bzw. in Apulien sind „orecchiette con le cime di rapa“ (S.114) Tradition – hausgemachte Nudeln mit Stängelkohl. Zudem gibt es:

Auberginen-Parmigiana und die Kräuterkrapfen, zwei Spezialitäten aus dem Salento“

(S.95)

Für den Gaumen (II):
In den Kuchen gibt Michelas Mutter den italienischen Likör „Alchermes“, der laut Wikipedia aus „Zucker, Zimt, Gewürznelken, Kardamom, Vanille, Rosenwasser und dem Farbstoff Kermes“ besteht, der ihm wiederum die rote Farbe verleiht.

Zum Weiterlesen (I und II):
Durch Marzanos Buch wurde ich erneut an zwei Klassiker erinnert, die jetzt wieder auf meiner Leseliste gelandet sind und sich mit dem Faschismus und der Shoah aus italienischer Sicht beschäftigen:
Giorgio Bassanis „Die Gärten der Finzi-Contini“ und Primo Levis „Ist das ein Mensch?“
Denn es ist an uns, die Erinnerungskultur wach und lebendig zu halten.

Giorgio Bassani, Die Gärten der Finzi-Contini
Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter
Wagenbach WAT
ISBN: 978-3-8031-2404-3

Primo Levi, Ist das ein Mensch?
Übersetzt von Heinz Riedt
dtv
ISBN: 978-3-423-12395-2

12 Kommentare zu „Schmerzhafte Spurensuche

    1. Das mit dem Verlinken war mir eine Ehre.
      Ja, ich finde es so wichtig, dass man sich immer wieder mit diesen Themen auseinandersetzt.
      Und vermutlich hat hier jeder auch seine ganz persönlichen Erfahrungen gemacht.
      Ich fand das Buch sehr, sehr mutig und beeindruckend, wie offen die Autorin auch mit ihren persönlichen Gedanken, Zweifeln und Gefühlen umgeht und sich offenbart. Herzliche Grüße!

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    1. Das stimmt, es ist keine leichte Kost und es geht einem lange nach. Zumindest ging es mir so.
      Aber ich war und bin beeindruckt, mit welcher Offenheit und mit welchem Mut die Autorin sich hier offenbart und auch die Brücken zu ihrer ganz persönlichen Lebensgeschichte schlägt.
      Aber selbstverständlich sollte man wissen, auf was man sich einlässt und sollte in der entsprechenden Verfassung für die Lektüre sein.
      Auch dafür habe ich vollstes Verständnis. Viele Grüße! Barbara

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  1. Um genau dieses Thema, das Verdrängen, Verleugnen der eigenen Geschichte, geht es auch im Buch, das ich gerade gelesen habe. (Es scheint, alle Großväter seien Partisanen gewesen.) Die Protagonisten in Francesca Melandris Roman „Alle, außer mir“ sind zwar fiktiv, aber die geschilderten historischen Ereignisse, den italienischen Faschismus, Kolonialismus, Rassismus betreffend, auch bei Zeitzeugen recherchiert und sehr erschütternd. Angesichts besorgniserregender Tendenzen heute ist es gut, dass sich endlich offen mit der Vergangenheit auseinandergesetzt wird. Denn Unwissenheit bildet den Nährboden für neues, „salonfähiges“ nationalistisches Gedankengut.
    Danke für die Besprechung, liebe Barbara!

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    1. Dankeschön Anke, für diese weiterführende Anregung und literarische Ergänzung zum Thema. Ich habe „Alle, außer mir“ vor meiner Bloggerzeit ebenfalls gelesen und kann mich da nur anschließen: auch Melandris Buch ist unbedingt lesenswert. Literatur, die so wichtig ist und der ich viele LeserInnen und Aufmerksamkeit wünsche. Herzliche Grüße nach Italien und buona serata! Barbara

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  2. Ja, danke Barbara,
    für die aktuelle, berührende Besprechung mit Kommentar. Solche Spurensuchen und Funde sind schmerzhaft.
    Der Buchtitel und das erste Zitat erinnern mich auch an Sprüche, die zuletzt aus München zu hören waren.
    Viele Grüße aus Nürnberg
    Bernd

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    1. Danke, Bernd.
      Sie sind zwar schmerzhaft, aber von großer Bedeutung.
      Denn ja, gerade auch die aktuelle Lage zeigt (leider) erneut, wie ungemein wichtig und wertvoll solche Bücher sind.
      Herzliche Grüße nach Nürnberg! Barbara

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