Etagen der Einsamkeit

Was bedeutet es, ein Flüchtling zu sein? Seine Heimat, seine Familie, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen? Sich Schleppern anzuvertrauen und letztlich in einem fremden Land Asyl zu suchen? Amir Gudarzi, der 1986 im Iran geboren wurde und sein Land während der Proteste 2009 mit Kanada als Ziel verließ und in Österreich strandete, beschreibt in seinem autofiktionalen Roman „Das Ende ist nah“ die Geschichte einer Flucht, seiner Flucht und all das mit Authentizität und einer Eindringlichkeit und Intensität, die man nur äußerst selten zu lesen bekommt. Der Debütroman des Theaterautors ist ein unfassbar starkes Buch und eine Lektüre, die betroffen macht, aufwühlt, verstört und bewegt.

„Noch nie habe ich den Wunsch, mich mit Menschen auszutauschen, so deutlich verspürt. Aber die Möglichkeit dazu gibt es nicht. Mit denen im Heim kann ich nicht reden, weil sie mich trotz der gemeinsamen Sprache nicht verstehen. (…) Ich habe mich durch mein Wissen, durch meinen Intellekt definiert, vielleicht weil ich meine soziale Herkunft verstecken wollte. Nun, wo ich durch Sprach- und Statusverlust ein Nichts geworden bin, habe ich mich verloren.“

(S.136)

Als LeserIn begegnet man der Hauptfigur A. zunächst in Teheran, erfährt Details der Familiengeschichte, der Kindheit. Lernt ihn kennen als feinfühligen, sensiblen jungen Mann, der die Theaterschule besucht, Bücher liest, gerne in Museen und ins Theater geht, aufgrund seiner Interessen und Weltanschauung aneckt und als Außenseiter gilt.

Sachlich nüchtern, aber eindringlich werden in Momentaufnahmen Szenen der Gewalt, das Blut und die Atmosphäre während der Proteste 2009 im Iran beschrieben. Es kommt der Moment, in dem A. nichts anderes übrig bleibt, als das Land zu verlassen.

Er möchte nach Kanada und strandet doch in Wien bzw. dann in der Flüchtlingsunterkunft in Traiskirchen. Er schildert die Zustände in der Einrichtung, die Begegnungen mit Behördenvertretern, die Kommunikationsschwierigkeiten, die Bürokratie, die Angst, die Sorge und die Einsamkeit in der Fremde.

Und er schildert die Szenen, in welchen er auf Ignoranz, auf Diskriminierung und offene Ablehnung bis hin zur Aggression stößt: schmerzhafte, tieftraurige aber doch wahre und authentische Momente.

Zudem erzählt der Roman auch die Geschichte von Sarah, einer jungen Frau, die sich hoffnungslos in A. verliebt, ihm zu helfen versucht bzw. ihn unterstützt, in Österreich Fuß zu fassen.

„Aber ich brauche sie, ohne sie wäre ich verloren. Sie ist mein einziger Ausweg aus dem Leben eines Flüchtlings. Bei ihr kann ich kurz vergessen, wer ich bin und was ich bin. Besser gesagt, was ich alles nicht bin. Den Verlust meiner Identität. Bin ich ein Künstler? Was bedeutet es, ein Künstler zu sein? Was sehen die Menschen hier in mir?“

(S.226)

Sie wird zu seinem Anker und einer wichtigen Bezugsperson und doch kann er ihre Liebe nicht auf Augenhöhe und in gleicher Weise erwidern.

Gudarzi entwickelt die Geschichte Schritt für Schritt, Szene für Szene und führt sie letztlich zu einem dramatischen Ende, das in einem Strudel alles mit sich reißt.

„Du hingegen bist weit weg von deinen Eltern, von deinem Land. Du darfst eigentlich gar nicht hier wohnen, du darfst nicht reisen, du darfst nicht auffallen, du hast kaum Freunde um dich herum, du verstehst die Sprache nicht, du hast kein Geld, du siehst anders aus, du empfindest selten Freude, du bist einsam, du bist abhängig, du bangst um dein Land, du bangst um deine Zukunft, um deine Eltern, du hast Angst, abgeschoben zu werden, du hängst in der Luft, du bist in einem Transitzustand, der lange dauern kann, du siehst andere Flüchtlinge, die schon viel länger warten als du, du willst nicht weiterleben, du bist verwirrt, du bist erschöpft, du bist am Ende. Aber du musst trotzdem weitermachen, weiterkämpfen.“

(S.338)

Auf den gut 400 Seiten ist so vieles enthalten: das Heimweh, die Sorge um das zurückgelassene Land im Aufruhr und um die Eltern, die Einsamkeit, das Außenseiterdasein, die Existenzangst, der Hunger, die Abhängigkeit von anderen Menschen, die offene Ablehnung und Gewalt, die er im Iran, aber auch in Österreich erfahren muss. Spannungsfelder und Zerreißproben, die der Erzähler in tiefgründigen Selbstreflexionen darlegt.

Besonders berührt haben mich die Stellen, in welchen er schildert, wie er als schreibender Künstler durch den Verlust der Sprache vorübergehend auch seine Identität verloren hat, wie er den Kontrast zwischen dem melodischen Farsi und dem vermeintlich harten Österreichischen Dialekt sowie die Bedeutung von Texten und Poesie beschreibt und darüber, wie er sich letztlich über das Erlernen der neuen Sprache auch seine Identität als Künstler und sein Leben zurückholt.

„Wenn ich in dem Haus, wo ich wohne, oder beim Austragen der Pizzen die Treppen hinaufgehe, ist es, wann immer ich die nächste Etage erreiche, wie ein merkwürdiges Ereignis. Neue Gedanken tauchen auf, als ob jede Etage ein neuer Abschnitt wäre. Jede Etage verändert die Zeit.“

(S.357)

Der Roman ist in fünf Teile gegliedert, welche die Bezeichnungen von Stockwerken in einem klassischen Wiener Altbauhaus tragen: „Mezzanin“, „Erste Etage“, zweite, dritte bis hin zur „Vierten Etage“. Die Geschichte schreitet von Stockwerk zu Stockwerk fort, erzählt von Etappen des Weges und verschiedenen Lebensabschnitten.

Immer wieder wird auch die Perspektive gewechselt: so wechselt der Autor zwischen Passagen, die distanziert über die Person A. erzählen, gefühlsbetonteren Abschnitten in der Ich-Perspektive und Kapiteln, die aus Sarahs Sicht erzählt werden.

Gudarzis Roman ist vielschichtig und man hat bei der Lektüre das Gefühl, bei der Entstehung des Romans – von der ersten Idee bis zum letzten Wort auf der letzten Seite – im Grunde dabei gewesen zu sein. Der Autor hat sich seine Geschichte auf autofiktionale Art und Weise gleichsam von der Seele geschrieben und die LeserInnen mitgenommen. Ein schmerzhafter, steiniger Weg, doch die Sprache (auch wenn es jetzt eine neue ist) und das Schreiben geben ihm Halt und letztlich auch eine neue Heimat.

„Mein Schreiben ist wie das Öl in der Lampe, das das Licht am Leben erhält.“

(S.405)

Amir Gudarzi ist mittlerweile ein österreichischer (seit 2017 besitzt er die österreichische Staatsbürgerschaft), mit vielen Preisen ausgezeichneter Dramatiker, dessen Werke an deutschsprachigen Bühnen gespielt werden und der in der Spielzeit 2023/2024 Hausautor am Nationaltheater Mannheim ist.

Der Theaterautor, der in Teheran szenisches Schreiben studierte, hat in seinem ersten Roman Szenen geschaffen, die sich bei der Lektüre tief einbrennen.
„Das Ende ist nah“ ist ein unfassbar kluges, intelligentes Buch, das einem an vielen Stellen wie ein Schlag in die Magengrube den Atem nimmt, das man mit einem Kloß im Hals liest und das aufwühlt. Es ist ein unfassbar starker Roman, es ist schonungslos und sensibel zugleich und lässt einen gerade aufgrund der Authentizität und der glaubwürdig geschilderten Erlebnisse und Gedankengänge des einsamen Flüchtlings nicht mehr los.

Weitere Besprechungen des Romans findet man bei Letteratura und Buch-Haltung.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim dtv Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Amir Gudarzi, Das Ende ist nah
dtv
ISBN: 978-3-423-29034-0

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Amir Gudarzis „Das Ende ist nah“:

Für den Gaumen (I):
Zu A.s Erinnerungen an den Iran, zählt der Geruch von Ghormeh Sabzi (S.91), einem persischen Kräutereintopf mit Bohnen und Lammfleisch, den er gerne mochte. Laut Wikipedia besteht er aus drei verschiedenen Hauptkräutern: Petersilie, Bockshornklee und Ackerlauch.

Für den Gaumen (II):
Dagegen ist die Verpflegung in der Flüchtlingsunterkunft weniger aromatisch und auf Dauer eintönig:

„Die erhaltenen Essenstationen umfassen, wie sich bald herausstellen wird, immer das Gleiche: Tiefkühlhendl, Zwiebeln, Kartoffeln, Reis, Nudeln, Bohnen und Linsen in der Dose, Milch, Tomatensoße, Mehl und Äpfel. Fast hätte ich die Fischstäbchen vergessen.“

(S.111)

Zum Weiterlesen:
Im August vergangenen Jahres habe ich Annabel Wahbas großartiges Buch „Chamäleon“ gelesen, das eine andere Geschichte über Migration und Herkunft erzählt. Die Geschichte ihrer deutsch-ägyptischen Familie wird aus einem anderen Blickwinkel erzählt, berührte mich aber ebenfalls zutiefst.

Annabel Wahba, Chamäleon
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0097-9

7 Kommentare zu „Etagen der Einsamkeit

  1. Liebe Barbara,
    vielen Dank für Deine Vorstellung dieses sehr berührenden Romans mit eindringlichen Zitaten und dem programmatischen Bild der Etagen und Treppen. Den endzeitlichen Buchtitel betreffend wünsche ich dem Autor, dass er auf seiner Lebensleiter noch viele Sprossen erklimmen wird. Am Mannheimer Theater gibt es eine weitere Stufe; wer denkt da nicht an Schillers Räuber?
    Verfolgung und Flucht sind ein Drama seit Menschengedenken, wovon uns die Bibel erzählt oder Aischylos mit den Schutzsuchenden. Möge es dem studierten Dramatiker Amir Gudarzi gegeben sein, dies persönlich wie stellvertretend für die vielen Betroffenen zu formulieren.
    Hmm, persische Küche. Die ist nicht leicht zu zaubern mit Einheitsrationen in den Gemeinschaftsunterkünften. Das gab es früher auch in Bayern.
    Erinnerung: Unsere Mutter hatte eine geflüchtete Familie aus Sri Lanka quasi adoptiert – oder war es andersherum? Sagen wir wechselseitig. Sie tauschte oder löste monate-, wenn nicht jahrelang Konservenwaren aus. Infolgedessen durfte ich meine damalige Wohngemeinschaft mit Dosen-Eintöpfen und Säften zu 8% Fruchtsaftgehalt versorgen.
    Nochmal vielen Dank, mit Vorfreude auf Deine nächste Lektüre
    Bernd

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    1. Lieber Bernd,
      ich habe zu danken für diese schöne Rückmeldung und die persönliche Erinnerung, die Du hier mit uns teilst.
      Mich hat das Buch wirklich sehr berührt, da es – genau wie Du schreibst – stellvertretend für viele Betroffene steht und gelesen werden kann.
      Es ist beeindruckend, wie Gudarzi – nun in der neuen Sprache angekommen – diese eindringlichen, treffenden und doch teils auch wieder poetischen Worte findet, sein Schicksal zu beschreiben. Herzliche Grüße und einen guten Start in die neue Woche! Barbara

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