All deine Farben

Wenn es einem Buch gelingt, mir von der ersten Seite an Gänsehaut laufen zu lassen, dann gehört es zweifellos zu den wichtigsten und wunderbarsten Büchern des Lesejahres: So passiert ist mir das mit Annabel Wahba’s Debütroman „Chamäleon“, in welchem sie autobiografisch eine Chronik ihrer ägyptisch-deutschen Familiengeschichte erzählt.

Am Totenbett ihres krebskranken Bruders André beginnt Annabel wie Scheherazade in „Tausendundeine Nacht“ gegen den Tod anzuerzählen. Sie reist zurück zu ihren Wurzeln, zurück zu den Generationen ihrer Großeltern und Eltern. Behutsam, liebevoll und mit einer magischen, melodiösen Sprache setzt sie ihrer Familie ein Denkmal, das überdauern wird.

„Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Wenn ich nun an deinem Bett sitze und dir die Geschichte unserer Familie erzähle, erzähle ich nicht um mein Leben, sondern gegen deinen Tod. Bald wirst du nicht mehr da sein. Ich kann dich nicht festhalten, aber ich will festhalten, was wir beide erlebt haben. Auch du sollst weiterleben, und mit dir das ägyptisch-deutsche Chamäleon.“

(S.16)

Sie beginnt ihre Erzählung mit der Großmutter Elisabeth, einer patenten, zupackenden Frau, die im München der Kriegs- und Nachkriegszeit und nachdem sie im Krieg 1941 ihren Mann verloren hat, ihre vier Kinder alleine ernähren und großziehen musste. Da half es, die Kinder in der schweren Zeit zu drei ledigen Großcousinen auf einen Pfarrhof aufs bayerische Land schicken zu können, so dass zumindest die Lebensmittelversorgung für den Nachwuchs etwas besser war.

Und da ist die ägyptische Großmutter Faktoria, die für Annabel und ihre Geschwister viel weiter weg und eine weitgehend unbekannte Frau war und die sich – wie die Autorin später erfuhr – doch im fernen Ägypten ähnliche Sorgen um die Versorgung und Gesundheit ihrer Kinder machen musste. So sorgte sie zum Beispiel mit einem versetzten Schmuckstück für die rettende Medizin, die Annabel’s Vater dem sicheren Tod entreißen konnte.

Und so erzählt sie über die Kindheit und Jugend ihrer Eltern: über Amir, der in Ägypten aufwächst und schließlich studieren kann – das Studium wird ihn später nach Deutschland bringen. Und über Maria, die in Bayern schon die Sehnsucht nach der Ferne entwickelt und bereits in jungen Jahren als Au Pair nach New York geht.
Für Annabel sind die Geschichten der Mutter aus der New Yorker Zeit etwas ganz Besonderes:

„Nicht nur unser ägyptischer Vater machte unsere kleine bayerische Welt größer, sondern auch Mama mit ihren Geschichten aus New York. Ich glaube, keiner unserer Erdinger Freunde hatte damals eine Mutter, die schon am Broadway gewesen war.“

(S.82)

Bei einer Floßfahrt auf der Isar lernen sich die Eltern schließlich kennen und lieben und sie stehen aufregende und schwere Zeiten gemeinsam durch. So kehrt Amir mit seiner Frau und dem ersten Nachwuchs wieder nach Ägypten zurück. Doch über die Zeit hinweg wird klar, dass Ägypten ihnen langfristig keine Sicherheit und Perspektive bietet, so dass sie Ende der Sechziger Jahre aus dem Land fliehen und nach Deutschland zurückkehren.

Nach langen Kämpfen, vielen schlaflosen Nächten wird die Familie schließlich mit ihren mittlerweile vier Kindern Adam, Anouk, André und Annabel – Autorin Annabel ist das Nesthäkchen – im bayerischen Erding heimisch. Doch auch Annabel und ihre Geschwister haben es aufgrund ihrer Herkunft nicht immer leicht.

Für den vollkommen unrealistischen und utopischen Fall, dass ich dieses Jahr nur fünf Bücher lesen oder empfehlen könnte: Annabel Wahba’s „Chamäleon“ wäre auf jeden Fall eines davon. Es hat mich zutiefst berührt und gerade in den bayerischen Momenten und Aspekten erkenne ich vieles aus meiner Kindheit und Umgebung wieder. Es fällt leicht, mir vorzustellen, wie die ägyptische und die bayerische Kultur zunächst aufeinanderprallten und sich über die Jahre und Jahrzehnte hinweg doch auch mischten und vereinen ließen – gleichsam ein buntes Ganzes ergeben, wie das farbenfrohe, unglaublich schöne Umschlagbild, das sonnenbeschienene, ägyptische Palmen vor die schneebedeckten, bayerischen Berge blendet und – gleichsam dem Leben der ägyptisch-deutschen Geschwister – zu einem farblich-fröhlichem, freundlichen Gesamtkunstwerk werden lässt.
Allein dieses traumhafte Cover hätte für mich schon einen Preis für die gelungene, graphische Gestaltung verdient – ein richtiger Hingucker, den ich im Buchladen sofort in die Hand nehmen würde.

„Chamäleon“ lässt mich ins Schwärmen geraten, weil die Autorin, die seit 2007 Redakteurin im ZEITmagazin ist, mit solcher Liebe, einem solch wachen, aufmerksamen Blick für Details und einer so treffenden Stilistik und Sprache ihre Familie so lebendig beschreibt, dass sie einem unweigerlich schon nach wenigen Sätzen ans Herz wächst. Man liebt, lacht und leidet mit und kann – wie der Sultan in Tausendundeiner Nacht – einfach nicht genug davon bekommen.
Und so trauert man am Ende nicht nur mit Annabel um ihren viel zu früh verstorbenen Bruder, sondern ist auch traurig darüber, dass das zauberhafte Buch und die wunderbare Reise schon zu Ende ist.

„Für mich war Ägypten lange nur eine romantische Vorstellung, das Land der Pharaonen, mit dem ich irgendetwas zu tun habe, aber nicht so recht wusste, was – außer dass ich Muluchiya mag. Als Kind suchte ich in meinem Spiegelbild manchmal nach Ähnlichkeiten mit Nofretete und bildete mir ein, dass unsere Nasen sich glichen. Aber viel mehr war da nicht.“

(S.89/90)

Wer keine Angst vor großen Gefühlen, dafür aber einen Sinn für schöne Sprache und unfassbar gut erzählte Familiengeschichten hat, wer mehr darüber erfahren möchte, was Herkunft oder Migration bedeutet und wer einfach ein wunderbares, emotionales Buch lesen möchte, dem kann ich „Chamäleon“ wärmstens empfehlen.
Es ist eines der besten Bücher des Jahres und für mich definitiv eines meiner absoluten Leseglanzlichter 2022!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eichborn Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Annabel Wahba, Chamäleon
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0097-9

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Annabel Wahba’s „Chamäleon“:

Für den Gaumen (I):
Die bayerische Seite der kulinarischen Anklänge im Buch sind mir sehr vertraut und fühlen sich für mich nach zu Hause an – zwei Großmutter-Gerichte im besten Sinn:

„Ich weiß nicht, was dir von Oma noch in Erinnerung ist, aber wenn ich an sie denke, dann sehe ich sie in der Küche stehen und Grießnockerlsuppe und Apfelstrudel zubereiten.“

(S.19)

Für den Gaumen (II):
Das ägyptische Nationalgericht Muluchiya kannte ich hingegen bisher nicht, da musste ich erst einmal recherchieren:

„Ich liebe es, wie du die fein gehackten grünen Blätter in einer Hühnersuppe kochst und dazu in Butter gebratenen Reis servierst.“

(S.89)

Zum Weiterhören oder für einen Theaterbesuch:
Annabel’s Mutter hatte in ihrer New Yorker Zeit die Gelegenheit, am Broadway Musicals zu sehen, unter anderem „My Fair Lady“ mit Julie Andrews in der Hauptrolle. Ein zeitloser Klassiker, der auch heute noch gerne auf den Spielplänen steht.

Zum Weiterlesen:
Vielleicht sollte man diese moderne, literarische Inspiration als Anlass nehmen, auch in den Klassiker selbst wieder einmal hineinzulesen und die Geschichten aus „Tausendundeine Nacht“ neu für sich zu entdecken:

Tausendundeine Nacht
Aus dem Arabischen von Claudia Ott
C.H.Beck
ISBN: 978-3-406-72290-5

11 Kommentare zu „All deine Farben

      1. Entschuldige, liebe Barbara. Ich wollte noch mehr als schreiben, dann schrie Signorino nach mir und gedankenverloren klickte ich wohl auf Senden. 😄 Ich wollte dir für diese schöne Rezession danken und werde mich sogleich daran machen, dieses Buch zu kaufen. Deine Buchbesprechung macht richtig Lust darauf, dieses Buch zu lesen. Und wenn es als einer deiner Favoriten 2022 gehandelt wird, muss es einfach klasse sein. 😍

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      2. Liebe Eva, kein Grund sich zu entschuldigen. Das passiert schnell mal… Ich freue mich sehr, wenn ich Deine Neugier auf das Buch wecken konnte, denn für mich ist es wirklich herausragend und etwas Besonderes, so dass ich meine Begeisterung dafür einfach gerne teile und weitertrage. Ich bin gespannt, wie es Dir gefällt und Deine Meinung im Anschluss an die Lektüre würde mich sehr interessieren. Liebe Grüße und ein schönes Wochenende! Barbara

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  1. Liebe Barbara,
    nun habe ich nach deiner fabelhaften Rezession das Buch gelesen und muss sagen: Es ist wahrlich ein Diamant. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich die Schauplätze in Erding kenne, von denen Annabel Wahba spricht, aber vermutlich liegt es an ihrer packenden, liebevollen Art zu erzählen. Mir standen bereits die Tränen in den Augen nach den ersten Seiten, ich lachte, ich fieberte mit, ich freute mich, dass die Flucht aus Ägypten gelang u. war doch traurig, dass Amir seine Eltern und Geschwister dort vorerst zurücklassen musste. Ich kann dir heute nur absolut beipflichten , als du mir im September schriebst, dass das Buch zu deinen Favoriten 2022 gehört. Es ist wahrlich ein zauberhaftes Buch und gehört zu den schönsten Büchern, die ich je lesen durfte. Liebe Grüße und einen schönen Sonntagabend; Eva

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    1. Liebe Eva, oh, wie mich das freut. Dankeschön, dass Du Deinen Leseeindruck hier mit mir teilst. Das finde ich wunderbar und so wie mich das Buch sehr berührt hat, berührt es mich jetzt auch, dass ich die Begeisterung und die Freude an diesem Diamanten an Dich weitergeben konnte. Das sind diese Momente, in welchen das Bloggen besonders viel Spaß macht. Ganz lieben Dank und herzliche Grüße nach Frankfurt an diesem schönen Sonntagabend, den Du mir jetzt noch zusätzlich versüßt hast. Barbara

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