Römische Lebensader

Der Tiber – in Rom von den Einheimischen liebevoll einfach nur „il fiume“ genannt – steht im Mittelpunkt von Birgit Schönaus facettenreichem Buch „Die Geheimnisse des Tibers – Rom und sein ewiger Fluss“. Er ist die Lebensader der Stadt und bietet der Autorin, die seit langem in Italien lebt, als Italienkorrespondentin gearbeitet hat und jetzt für die ZEIT schreibt, das Gerüst, um an seinen Ufern entlang römische und italienische Geschichte zu erzählen.

Der Fluss, der wie seine Stadt, als ewig gilt – auch wenn er mal mehr, mal weniger Wasser führt – verdient es, selbst einmal ins Zentrum der Betrachtung gerückt zu werden. Und so widmet sich Schönau in dreizehn Kapiteln diesem Strom, der mit 405 km der drittlängste Fluss Italiens ist (nach dem Po und der Etsch) und von seiner Quelle im Apennin bis zur Mündung bei der Hafenstadt Ostia ins Tyrrhenische Meer fließt, und eine natürliche Kulisse bildet für all die Geschichte und Geschichten, welche die italienische Hauptstadt zu bieten hat.

„Der Fluss passt sich jedem Thema an, er kann romantisch sein oder bedrohlich, proletarisch oder glamourös.“

(S.248)

Sie erzählt von der Bedeutung des Tibers als wichtigem Transport- und Versorgungsweg in die Stadt – Korn, Marmor, Holz – Nahrung wie Baumaterial kam per Schiffen in die Stadt. Auch die Rolle als Ernährer wird thematisiert: so waren nicht nur die Mühlen am Flussufer existenziell für die römische Bevölkerung, sondern auch die Fische und das Wasser aus dem „Tevere“ waren fester Bestandteil des Speiseplans.
Und da Rom ohne Vatikan nicht denkbar ist, beschäftigt sie sich natürlich auch mit den vielen Pilgern, dem Staat in der Stadt und ihrem Verhältnis zum „fiume“.

Und selbst den Toten im Tiber – Bekannten wie Unbekannten – hat sie ein Kapitel gewidmet:

„Der Tiber hat die Erinnerung an sie und die vielen anderen nicht gelöscht. Er bewahrt das Gedächtnis der Stadt, auch wenn er sich stets erneuert. Der Fluss urteilt nicht, demütigt nicht, vertuscht nicht. Er ist weder Richter noch Henker, sondern fließt einfach weiter. Für ihn sind alle gleich, Täter und Opfer, Reiche und Arme, Tyrannen und Gerechte. Und Lebende wie Tote.“

(S.196)

Auch die zerstörerische Macht des Flusses, der mit verheerenden Hochwassern große Schäden anrichtete, und seine zunehmende Verschmutzung als „Cloaca maxima“ und Müllkippe kommt zur Sprache, ebenso wie die teils ausgegrenzten BewohnerInnen am Ufer – sei es die jüdische Gemeinde im Ghetto am Fluss oder die Prostituierten im Hortaccio, die Inhaftierten in den Gefängnissen oder die Kranken in den Hospitälern, die ebenso am Fluss liegen, z.B. auf der Tiberinsel im Krankenhaus Fatebenefratelli.

Schönau schafft als profunde Kennerin der Stadt und ihrer Historie eine ausgewogene Balance zwischen gut lesbarer Geschichtsvermittlung und markanten, teils witzigen Anekdoten, die lange im Gedächtnis haften bleiben. So ist das fundiert recherchierte Sachbuch mit umfangreichen Quellenangaben und weiterführenden Lektüreanregungen, alles andere als trocken, sondern wirklich flüssig und kurzweilig zu lesen.

Sie macht die Opulenz, Dekadenz und das pralle Leben in der Stadt und entlang des Flussufers spürbar und erzählt zum Beispiel auch vom tragischen und mysteriösen Ende Pier Paolo Pasolinis an der Tibermündung im Jahr 1975 oder dem Tiberspringer Maurizio Palmulli, der sich seit vielen Jahren immer am Neujahrstag mutig von der Ponte Cavour per Kopfsprung in die kalten Fluten des Tibers stürzt (einen expliziten Beitrag hierzu gibt es auf Birgit Schönaus Blog „Fussballoper“ und ein Video des 2023-Sprungs hier auf Youtube).

„Es muss ein wildes Leben am Tiberufer gewesen sein, ein freies Badevergnügen zum kleinen Preis für alle, die sich den Urlaub am Meer nicht leisten konnten.“

(S.237)

So bekommt man nicht nur einen Crashkurs in römischer Geschichte, von Romulus und Remus über die Schlacht an der milvischen Brücke bis hin zu den Borgia-Päpsten und Mussolini, sondern auch zahlreiche Eindrücke römischen Lebens damals wie heute.

Besonders mochte ich, wie Schönau auch immer wieder anhand von Bildern, Fotos aber auch von Gemälden, die in schwarz-weiß Abbildungen im Buch enthalten sind, die Entwicklung des Flusses nachvollzieht.
Zudem widmet sie sich ausführlich auch der Darstellung des Flusses in Kunst und Kultur, Literatur und Film – so erhält man bei der Lektüre ein Füllhorn an weiterführenden Anregungen auf allen Kunstgebieten.

Im Anhang findet sich darüber hinaus u.a. eine Zeittafel, die vom Gründungsdatum 753 v. Christus („sieben, fünf, drei – Rom schlüpft aus dem Ei“) bis ins Heute reicht – und mit dem historischen Tiefstand des Tiberpegels im Jahr 2022 nach 195 Tagen ohne Regen – leider einen traurigen Abschluss findet.
Darüber hinaus fügt Schönau noch eine Übersicht und Beschreibung aller heute existierenden 29 Tiberbrücken im römischen Stadtgebiet mit Anmerkungen zu Besonderheiten und Geschichte hinzu.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen der Lektüre sei zweifelsohne gesagt, dass man sich am liebsten sofort auf den Weg nach Rom machen möchte, um abzutauchen – vielleicht nicht in den Tiber – aber in die Geschichte und die Atmosphäre dieser ewigen Stadt und sich die beschriebenen Schauplätze und Stellen am Tiberufer selbst live und persönlich vor Ort anzusehen.

Für alle wie mich, die nicht genug von Rom bekommen können und die Faszination für diese Stadt teilen, ist „Die Geheimnisse des Tibers“ eine sehr lesens- und empfehlenswerte Lektüre, die ich als ungemein inspirierend und bereichernd empfunden habe – wie man an der Fülle der Inspirationen im zweiten Teil meiner Rezension unschwer erkennen kann.

„An seinen Ufern setzt die Vergangenheit Rost an, während er einfach weiter fließt, der eigenen Auflösung entgegen.“

(S.256)

Ich bedanke mich sehr herzlich beim C.H. Beck Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Birgit Schönau, Die Geheimnisse des Tibers –
Rom und sein ewiger Fluss

C.H.Beck
ISBN: 978-3-406-80837-1

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Birgit Schönaus „Die Geheimnisse des Tibers“:

Für den Gaumen:
Kulinarische Anregungen kommen dieses Mal aus der Römerzeit bzw. aus Ostia – manches ist uns heute noch vertraut, anderes nicht (oder kennt jemand „piperatum“?):

„Ein gelbgrundiges Fresko an der Wand im Gastraum zeigt, was hier einst bestellt werden konnte: Oliven und Rüben, Wein und runder Käse. Im lauschigen Innenhof durften die Gäste, auf gemauerten Bänken sitzend, an einem kühlenden Brunnen ihr Mahl verzehren und dazu piperatum trinken, eine Art Gewürzwein mit Honig und Pfeffer.“

(S.34)

Zum Weiterschauen:
Auf der Homepage der Tate Gallery, finden sich zahlreiche Skizzen und Gemälde von William Turner (1775-1851), auf denen er den Tiber festgehalten hat. Schönau beschreibt den Zauber seiner Gemälde wie folgt:

„Er malte die menschenleere Flusslandschaft im Norden der Stadt ebenso entrückt wie den innerstädtischen Fluss, in Farben wie Feuer. Bei Turner ist der Tiber ganz Mythenstrom, eine Ausgeburt der Phantasie (…)“

(S.251)

Zum Weiterklicken:
Römische und italienische Einblicke gibt Birgit Schönau – neben ihren journalistischen Beiträgen (u.a. in der ZEIT) – auch auf ihrem Blog Fussballoper – es lohnt sich, auch dort einmal reinzuklicken.

Zum Weiterlesen (I):
Schönaus Buch erinnert mich wieder einmal daran, dass ich schon seit langem Ingeborg Bachmanns Gedichte lesen möchte. Sie zitiert das schöne Gedicht „Römisches Nachtbild“ aus dem Jahr 1956, das mit folgenden Worten endet:

„So gewiß ist’s, daß nur die Liebe und einer den anderen erhöht.“

(aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Römisches Nachtbild“)

Ingeborg Bachmann, Sämtliche Gedichte
Piper
ISBN: 978-3-492-23985-1

Zum Weiterlesen (II):
Und ein weiterer Name bzw. Autor, der schon länger auf meiner erweiterten Leseliste steht, ist ebenfalls wieder in Erinnerung gerufen worden: Pier Paolo Pasolini (1922 – 1975), der letztes Jahr seinen 100-jährigen Geburtstag gefeiert hätte. Als Hauptwerk gilt sein Roman „Ragazzi di vita“ aus dem Jahr 1955, der Not und Elend in den römischen Vorstädten beschreibt.

„Im Tiber verschmelzen Pasolinis Leben und Werk, an der Mündung entsteht der Mythos um seinen Tod. In seinen letzten Stunden am Abend des 1. November 1975 fuhr Pasolini den Tiber hinunter, in Begleitung seines Mörders – oder zumindest eines seiner Mörder, denn das Rätsel ist noch immer nicht gelöst.“

(S.262)

Pier Paolo Pasolini, Ragazzi di vita
Aus dem Italienischen von Moshe Khan
Wagenbach
ISBN: 978-3-8031-2614-6

6 Kommentare zu „Römische Lebensader

  1. Vielen, lieben Dank, liebe Barbara, für diesen Tipp! 💛 Birgit Schönau hat auch das tolle “Neros Mütter – Julia und die Agrippinas, drei Frauenleben im Alten Rom” geschrieben, das immer noch auf meiner Unbedingt-Lesen-Liste steht. Jetzt kommt also noch ein weiteres Buch von ihr hinzu. 😉 Liebe Grüße und einen entspannten Ausklang des Sonntagabends, Eva

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    1. Liebe Eva, sehr gern geschehen. Ja, Birgit Schönaus Buch „Neros Mütter“ steht auch auf meiner Leseliste. Sicherlich auch spannend, mal etwas mehr über die Frauen im „alten Rom“ zu erfahren, die in Geschichtsschreibung und Literatur ja oft im Schatten der Männer stehen. Dir auch einen schönen, restlichen Sonntagabend, eine gute Woche und herzliche Grüße! Barbara

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    1. Das freut mich sehr, Sabine, dass ich Dich dafür begeistern konnte.
      Rom ist für mich ein Sehnsuchtsort und ich fand gerade die Querbezüge zu Geschichte, Kunst, Literatur etc. wirklich sehr inspirierend und lesenswert.
      Herzliche Grüßen und eine gute Woche! Barbara

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