Elizas Erwachen

Zadie Smith hat sich für ihr neuestes Werk „Betrug“ die Gattung des historischen Romans gewählt. Auf den ersten Blick eine vielleicht überraschende Entscheidung, die sich jedoch bei der Lektüre als wahrer Glücksgriff erweist. Wie hoch aktuell, brisant, intelligent, spannend und augenöffnend die Schilderung einer wahren, historischen Begebenheit sein kann, hat sie mit diesem Roman eindrucksvoll bewiesen.

Als geschichtlichen Rahmen und Aufhänger ihrer Geschichte hat Smith den Tichborne-Fall bzw. Prozess in London 1873 ausgesucht. Ein legendäres Gerichtsverfahren, in welchem ein Mann des Betrugs und der Erbschleicherei angeklagt wurde, der behauptete, der seit zehn Jahren verschollene, bei einem Schiffsunglück ertrunkene Sohn und legitime Erbe der wohlhabenden Lady Tichborne zu sein.

„Doch keine andere Geschichte fesselte sie so wie die Saga rund um den Tichborne-Anwärter. Die hatte wirklich alles zu bieten: feine Pinkel, Katholiken, Geld, Unzucht, Verwechslungen, eine Erbschaft, hochrangige Richter, Snobs, ferne Länder, den ‚Kampf ehrlich arbeitender Leute‘ – der Gegenpol zur ‚selbst verschuldeten Armut‘ – und ‚die Macht der Mutterliebe‘.“

(S.62)

Und sie stellt mit Eliza Touchet, der schottischen Haushälterin und Schwägerin des Schriftstellers William Ainsworth, ebenfalls eine reale, historische Person in den Mittelpunkt ihrer Erzählung. Touchet, die früh verwitwet auch ihren Sohn ans Scharlachfieber verloren hat, ist die gute Seele des Ainsworth’schen Haushalts, kümmert sich um die Kinder und die wechselnden Frauen des Hauses.

„Das Glück zu wissen, dass sie bald wieder umkehren würde, zurück in ein Haus, wo ausgekochte Lumpen und geschossene Kaninchen an Schnüren hingen, wo es trocknende Wäsche gab und rundliche Kinderfüßchen, kleine, vom Essen verklebte Hände, den Duft nach Speck, Erbsensuppe und schlichte Bach-Akkorde, die ungelenk, aber gutwillig auf dem Klavier gespielt wurden.“

(S.43)

Zudem ist sie kritische Leserin von William Ainsworths Werken und geschätzte Beraterin in literarischen Fragen. Selbst bei den illustren Männerrunden im Literatenkreis wird ihre Meinung gehört. Sie besucht Versammlungen der Abolitionisten, ist politisch interessiert und ein wacher Geist. Gemeinsam mit Mrs. Ainsworth – ihrer Schwägerin – beginnt sie, die Gerichtsverhandlungen des Tichborne-Falls in London zu besuchen.

Der Gerichtsprozess entwickelt sich zum großen, gesellschaftlichen Ereignis, zu einem Riesenspektakel mit enormer medialer Aufmerksamkeit und gleicht einer hervorragenden, stets ausverkauften Theateraufführung. Die Besucherränge sind rappelvoll, da gibt es Knabbereien und es wird wild debattiert und kommentiert. Jeder und jede hat eine Meinung und schlägt sich auf eine Seite. Klare Lagerbildung – der Fall Tichborne dominiert die Presse und spaltet die Nation.

„Es fiel äußerst schwer, kein Mitleid mit diesem Mann zu haben. Er war so offensichtlich überfragt, verstrickte sich in einer Lüge, die immer weitere Kreise zog und selbst seine beträchtliche Leibesfülle längst überstieg. Ganz zu schweigen von all den leichtgläubigen, wenig gebildeten, dabei aber sicherlich wohlmeinenden Menschen, die sich seiner Sache auf so törichte Weise verschrieben hatten…“

(S.213/214)

Eliza ist fasziniert von Andrew Bogle, dem Diener Tichbornes, einem ehemaligen Sklaven aus Jamaika, der als Zeuge im Prozess auftritt und gehört wird. Sie sucht Kontakt zu ihm und versucht, sich ihre eigene Meinung zu bilden.

„Das Spektakel eines Mannes aus Cork, der sich mit der herrschenden Klasse anlegte, belebte den drückend heißen Sommer und erwies sich als erfreuliche Ablenkung vom monetären Notstand.“

(S.444)

Es ist eines dieser Bücher, in denen so viel drinsteckt, dass man sich schwer tut, wo man anfängt, was man erwähnt und hier in den Beitrag packt, der dem Roman vermutlich ohnehin nicht gerecht werden kann, wenn er nicht den Rahmen sprengen soll. Jede und jeder wird das Buch anders lesen, seine eigenen Entdeckungen machen, eine eigene Perspektive wählen und persönliche Schwerpunkte setzen. Und es ist großartig, wenn ein Roman so vielseitig, facettenreich und schillernd ist, dass er ein so breites Angebot an die Leserschaft machen kann.

Ungeheuer stark ist, wie Zadie Smith uns anhand der historischen, wahren Begebenheit aus dem 19. Jahrhundert Parallelen zum Hier und Jetzt schafft und uns so auch die Missstände bzw. Probleme der heutigen Zeit vor Augen führt. Da finden sich Rassismus, krude Verschwörungstheorien, Fake News, Desinformation und Sensationsgier.

Schauplätze sind das viktorianische England bzw. das pulsierende London dieser Zeit ebenso wie Jamaika, denn „Betrug“ behandelt auch das Thema der Sklaverei und schildert die Geschichte und historische Hintergründe des Abolitionismus.

Smith hat zudem ein Buch über eine starke, intelligente Frau und eine Emanzipationsgeschichte geschrieben. Elizas Erwachen, die Entwicklung, die sie im Roman durchlaufen darf, ist fein herausgearbeitet. Smith zeichnet sie als charakterstarke, vielschichtige und hochinteressante Figur, wichtige Gefährtin sowie als zentrale Person bzw. Dreh- und Angelpunkt im Ainsworth’schen Haushalt.

„Sie würde William davon erzählen, wenn sie wieder zu Hause war. Er würde sie verstehen. Das tat er immer. Sie teilten Zeitgenossenschaft, und die zählte aus Mrs. Touchets Sicht zu den engsten Verhältnissen, die in dieser verkommenen Welt überhaupt möglich waren. Inmitten von zwei Ewigkeiten aus Nichts teilten William und sie eine nahezu identische Zeitspanne des Daseins.“

(S.428)

Als Literatur- und Bücherliebhaberin habe ich vor allem aber auch Smiths stimmungsvolle Schilderungen des Literaturbetriebs im Großbritannien des 19. Jahrhunderts sehr gern gelesen. Da sitzt die britische Literatenszene bei gutem Essen, Portwein oder etwas Stärkerem zusammen und debattiert bzw. tauscht sich aus über die neuesten Werke, arrivierte und aufsteigende Autoren und in seltenen Fällen auch Autorinnen. Man begegnet Charles Dickens, William Thackeray, George Eliot und einigen mehr und bekommt Einblicke in die literarische Welt des viktorianischen Zeitalters.

„Betrug“ ist aber auch ein Aufruf zu Toleranz und zum genauen Hinschauen, der klar macht, wie schwer es – damals wie heute – war, Wahrheit und Lüge bzw. Falschinformationen zu unterscheiden und wie wichtig es gerade deshalb ist, wachsam bzw. kritisch zu bleiben und sich zu informieren.

„Das einzige Ziel im Leben musste sein, offen zu bleiben, niemals nach dem Erscheinungsbild oder einem schlechten Ruf zu urteilen und seine Entscheidungen niemals nach bloßem Anschein zu treffen. Dieses Prinzip hatte sie bis ins reife Alter sehr ernsthaft verfolgt, als die allermeisten vernünftigen Menschen längst von ihr abgelassen hatten.“

(S.447)

„Betrug“ ist mit ca. 520 Seiten ein echter Schmöker und doch ist es ein Buch, dem man die stattliche Seitenzahl nicht anmerkt. Nur allzu gerne lässt man sich fallen in diese Geschichte, vertraut man sich der Orange Prize Gewinnerin (2006 für „On beauty“ bzw. „Von der Schönheit“) und erfahrenen Autorin an. Und einmal begonnen, ist da dieser Sog, der einen schnell und leicht durch die Seiten fliegen lässt.

Ein starkes, intelligentes Buch mit Humor und Witz, ein historischer Roman vom Feinsten und gleichzeitig eben noch so viel mehr als das!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Zadie Smith, Betrug
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00544-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Zadie Smiths „Betrug“:

Für den Gaumen:
Gerade die Weihnachtszeit fordert Eliza einiges an Vorbereitung ab und alljährlich stellt sie sich unter anderem folgende Fragen:

„Wer würde all die Bänder zurechtschneiden und die zerdrückten Ilexbeeren aus den Ritzen der Bodendielen klauben? Wer all die Würstchen in ihre Schlafröcke befördern? Wer beim Einkauf an Nelken und Orangen denken?“

(S.434)

Nelken und Orangen waren naheliegend, aber die Würstchen im Schlafrock haben mich ehrlicherweise überrascht. Gab es die im 19. Jahrhundert in Großbritannien schon? Dank Wikipedia-Recherche weiß ich jetzt, dass „Sausage rolls“ dort zu diesem Zeitpunkt wirklich schon auf dem Speiseplan standen und auch die amerikanischen „pigs in a blanket“ wohl in diese Richtung gehen. Wieder was gelernt.

Zum Weiterlesen (I):
Es wird erwähnt, dass Eliza Touchet gerne die Bücher einer Autorin liest, die unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichte: Die Werke von Mary Ann Evans (1819 – 1880) alias George Eliot sind heute um einiges bekannter als die ihres männlichen Kollegen William Ainsworth. Ihr Werk „Middlemarch“ aus dem Jahr 1974 wurde 2015 von Literaturkritikern und -wissenschaftlern zum bedeutendsten britischen Roman gewählt. Der sollte wohl also auch mal auf meine persönliche Leseliste…

George Eliot, Middlemarch
Aus dem Englischen von Melanie Walz
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-27274-5

Zum Weiterlesen (II):
Charles Dickens spielt im Roman neben William Ainsworth eine zentrale Rolle. Im Nachwort schreibt Zadie Smith:

„2009 wurde ihre Ausgabe der ‚Weihnachtsgeschichte‘ von 1842, mit der Widmung an „Mrs. Touchet“, für den höchsten Preis verkauft, der je bei der Auktion eines der Werke Dickens’ erzielt wurde.“

(S.522)

Ich habe fest vor, mich diesem Klassiker dieses Jahr wieder einmal zu widmen.

Charles Dickens, Der Weihnachtsabend
Übersetzt von Eike Schönfeld
Mit farbigen Illustrationen von Flix
Insel-Bücherei
ISBN: 978-3-458-20010-9

7 Kommentare zu „Elizas Erwachen

    1. Liebe Anna, das freut mich und es war wirklich eine faszinierende und besondere Lektüre. Es hat sich den Platz auf der Wunschliste verdient. 🙂 Herzliche Grüße und Dir ebenfalls einen schönen Sonntagabend! Barbara

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    1. Liebe Nina!
      Das ist er wirklich – ein historischer Roman, der aus dem üblichen Rahmen fällt und unserer heutigen Gesellschaft zugleich trefflich den Spiegel vorhält! Herzliche Grüße und viel Freude beim Lesen! Barbara

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