Deutsch-deutsche Perspektiven

Manchmal ergänzen sich Bücher ganz unverhofft in besonderem Maße. Ich habe im vergangenen Herbst direkt nacheinander Michael Görings Roman „Dresden“ und Lutz Seilers Buch „Stern 111“ gelesen, für das er 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. Beide Romane eröffnen jeweils eine vollkommen unterschiedliche Perspektive auf die deutsch-deutsche Geschichte, die Wendezeit und den Mauerfall.

Michael Göring Jahrgang 1956, in Westfalen aufgewachsen, leitete unter anderem die ZEIT-Stiftung, hat in seinem Roman „Dresden“ auch persönliche Erfahrungen einfließen lassen. Bereiste er doch selbst in den 70er und 80er Jahren mehrmals Dresden und die DDR. Er erzählt aus der Perspektive des Westbesuchers.

Und zwar aus der Sicht von Fabian, der 1975 als Student mit seinem Kumpel Till zum ersten Mal die Familie Gerstberger in Dresden besucht. Was aus Neugier und als Abenteuer beginnt, wird bald zu einer tiefen Freundschaft und dauerhaften Verbindung.

„Provokationen waren hier unangebracht, das wusste doch jeder, das spürte man schon seit der allerersten Minute an dieser Grenze, lange bevor man im Land war.“

(aus Michael Göring „Dresden“, S.32)

Er freundet sich mit dem Sohn Kai an, verliebt sich in Anne, die Tochter des Hauses, die jedoch bereits vergeben bzw. verlobt ist und beneidet die ostdeutsche Familie um ihren Zusammenhalt.

„In Familie sind wir groß, das braucht man hier“, erwiderte Anne und lachte dabei kurz, es ging dennoch tief in ihn hinein.“

(aus Michael Göring „Dresden“, S.228)

Doch über die Jahre – er besucht die Familie Jahr für Jahr – wird er auch Zeuge, wie sich die Stimmung im Land zunehmend verändert, erlebt auch die Schattenseiten, Unzufriedenheit und Verzweiflung. Und im Herbst 1989 ist die Mauer plötzlich offen.

Göring hat aus der Westperspektive ein Buch über die deutsch-deutsche Geschichte geschrieben, angefangen bei geschmuggelten Kassetten mit Westmusik bis hin zu gescheiterten Fluchtversuchen und den spürbaren Konsequenzen, aber er hat zugleich auch einen Roman über das Erwachsenwerden, die Beziehung zwischen Söhnen und Vätern und auch über Familien geschrieben.

In Lutz Seilers preisgekröntem Roman „Stern 111“ geht eine Familie plötzlich getrennte Wege, denn die Eltern lassen Carl alleine im Häuschen in Gera zurück. Er soll dort die Stellung halten, während sie sich auf den Weg über die Grenze ins Notaufnahmelager und später in weitere Durchgangswohnheime machen. Sie haben entschieden, ihr Glück im Westen zu suchen und neu anzufangen.

„Für einen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass die Welt, der er angehörte, klammheimlich verschwunden und er einer der Übriggebliebenen war, ein Stück faules Treibholz auf dem großen breiten Strom der neuen Zeit.“

(aus Lutz Seiler „Stern 111“, S. 54)

Carl entflieht schnell der Enge und der Einsamkeit des verwaisten Elternhauses und geht nach Berlin. Dort taucht er ab in der Kneipenwelt und Hausbesetzerszene. Er träumt davon, Schriftsteller zu werden und das kann er – davon ist er fest überzeugt – am besten in Berlin.

„Dabei tat dieser Frau, die seine Mutter war, das Unterwegssein in der Fremde offensichtlich gut, es beruhigte sie. Eine Unruhe, die bis dahin tief in ihr verschlossen gewesen sein musste, wurde frei, fand einen Takt und verwandelte sich, wenn nicht in Ausgeglichenheit, so doch in eine lebbare Form des Daseins, Schritt für Schritt.“

(aus Lutz Seiler „Stern 111“, S.289)

Berlin in der Nachwendezeit – alles im Umbruch und alles scheint möglich.
Während seine Eltern im Westen hart arbeiten und kämpfen, um sich ein neues Leben aufzubauen und dabei einige Rückschläge einstecken müssen, verliebt Carl sich in Effi, sucht seinen Platz im Leben und seinen Weg durch das wilde Berliner Großstadtchaos.

Es ist diese Heimatlosigkeit, das Suchende und vor allem auch die außergewöhnliche Atmosphäre Berlins nach dem Mauerfall, die Lutz Seiler ganz großartig eingefangen hat – ein pulsierendes, lebendiges Buch. Auch beim Lesen kommt man nicht zur Ruhe.

Auch wenn es viele Seiten lang dauert, bis man als eventuell Unwissende*r erfährt, was es mit dem Titel „Stern 111“ auf sich hat: Das erste Radiogerät der Familie wird zum Symbol.

„Stern 111 ist etwas, das gut und richtig war im alten, vorigen Leben. Eine Erinnerung für unterwegs. Ein Leitstern für die Reise.“

(aus Lutz Seiler „Stern 111“, S.340)

Lutz Seiler wurde 1963 in Gera geboren und ist in Ostthüringen aufgewachsen. Was er schreibt, wirkt ungemein authentisch. Für „Kruso“ hat er 2014 den Deutschen Buchpreis erhalten – in „Stern 111“ gibt es – wenn man gut aufpasst – einen kurzen Gastauftritt einer Figur aus seinem Erfolgsroman zu entdecken.

Gerade den Kontrast zwischen der Perspektive des Westbesuchers in „Dresden“, der seine Sicht auf die DDR beschreibt und der ostdeutschen Familie in „Stern 111“, welche die Heimat verlässt und ihr Glück im Westen bzw. im wiedervereinten Berlin sucht, fand ich bei der Lektüre sehr reizvoll. Beide Bücher eignen sich wunderbar für eine atmosphärische Zeitreise zurück in die deutsch-deutsche Geschichte.

Weitere Besprechungen zu „Stern 111“ gibt es unter anderem bei Zeichen & Zeiten und Literaturreich.

Mit Michael Görings „Dresden“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 23 für 2023erfüllt – Punkt Nummer 10) auf der Liste: Ich möchte ein Buch mit Dresden als Schauplatz lesen. Ich denke, nachdem das Buch bereits den Titel trägt und der überwiegende Teil der Handlung dort spielt – zweifelsohne erfüllt.

Mit Lutz Seilers „Stern 111“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 23 für 2023erfüllt – Punkt Nummer 9) auf der Liste: Ich möchte ein Buch mit Berlin als Schauplatz lesen. Immer wieder liest man, dass es sich bei Seilers Buch um einen Berlin-Roman handelt, da kann ich mich nur anschließen.

Buchinformationen:
Michael Göring, Dresden
Osburg Verlag
ISBN: 978-3-95510-243-2

Lutz Seiler, Stern 111
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42925-9

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Wozu inspirierten bzw. woran erinnerten mich die beiden deutsch-deutschen Bücher:

Für den Gaumen (I):
In „Dresden“ gibt sich Gabi alle Mühe, ihren Westbesuch mit ganz besonderen und schwer erhältlichen Leckereien zu bewirten, so gibt es „Rinderbraten“ (S.68) und „bulgarischen Rotwein“ (S.68).

Für den Gaumen (II):
In „Stern 111“ gibt es bodenständige Hausmannskost:

Bratkartoffeln mit Spiegelei (Inges Rezept mit viel Kümmel), dazu Gurken aus der Büchse.“

(aus Lutz Seiler „Stern 111“, S.185)

Zum Weiterhören:
Musik spielt in Görings Roman „Dresden“ eine wichtige Rolle, so kommt zum Beispiel dem Leonard Cohen Song „Suzanne“ eine ganz besondere Bedeutung zu. Aber da Fabians Patensohn bei den Kruzianern – d.h. im Dresdner Kreuzchor – singt, wird auch klassische Musik gehört, wie z.B. „Mendelssohns Elias“ (S.229).

Zum Weiterlesen:
Elke Heidenreich ist bekanntlich ein großer Fan von Dylan Thomas. Jetzt begegnete er mir auch in Lutz Seilers Roman wieder:

„Er hatte „Unter dem Milchwald“ von Dylan Thomas gelesen.“

(aus Lutz Seiler „Stern 111“, S.173)

Dylan Thomas, Unterm Milchwald
Ein Stück für Stimmen. Zweisprachige Ausgabe
Übersetzt aus dem Englischen von Jan Wagner
Hanser
ISBN: 978-3-446-27415-0

Ein Kommentar zu „Deutsch-deutsche Perspektiven

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