Narbengewebe der Geschichte

Keloide sind Narbengewebe, die sich nach Verletzungen oder operativen Eingriffen bilden können. Die Medizinerin Kristin Rubra hat in ihrem Debütroman „Keloid – vom überleben und lieben“ über Narben der Geschichte geschrieben. Entstanden ist ein eindringlicher und intensiver Roman, der zum Nachdenken anregt.

Anfang der 80er Jahre geht die junge Deutsche Christina nach Michigan, um dort Medizin zu studieren – eine prägende Zeit, die ihr Leben – wie ein Tornado, der über den amerikanischen Bundesstaat fegt und sie und ihre Freunde nur knapp verschont – für immer durchwirbeln wird.
Denn sie verliebt sich in ihren Kommilitonen Jamie, der aus einer jüdischen Familie stammt und sich in experimentellen Kunstwerken von der traumatischen Last befreien möchte, die ihn von Kindesbeinen an umgibt.

„Ich war siebzehn. Ich hatte Abitur gemacht. In einer Samt- und Seidenstadt am Niederrhein. Und ich kannte diesen Mengele nicht. Der im Unterricht behandelte Geschichtsstoff endete um 1925. In meiner Familie wurde oft vom Krieg erzählt, von Luftschutzbunkern, von Kinderlandverschickung, von Dingen, die es nicht zu kaufen gab… Aber nicht, wie es zu diesem Krieg kommen konnte.“

(S.16)

Die stürmische, junge Liebe wird überschattet von einem Ungleichgewicht: Denn Christina hat im Deutschland der Sechziger und Siebziger nur wenig über die Zeit des Holocaust mitbekommen und begegnet nun Leon, dem Vater ihres Freundes, der selbst als ehemaliger GI bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau dabei gewesen war. Ihm fällt es schwer zu akzeptieren, dass sich sein Sohn nun gerade in eine Deutsche verlieben musste und er lässt Christina die Ablehnung spüren.

Die junge Liebe zerbricht, Christina kehrt als Ärztin nach Deutschland zurück und einige Jahre später liegt eben jener Leon, den sie an einer besonderen Narbe erkennt, plötzlich auf ihrem OP-Tisch, ist nach einem Unfall auf ihre Hilfe angewiesen.

„Was fühlt ihr Ärzte eigentlich, wenn ihr die Leute anstecht und in sie hineinschneidet?“

(S.123)

Die Machtverhältnisse haben sich umgekehrt und zwischen den beiden entspinnt sich ein ganz besonderes und hochemotionales Verhältnis.
Aus kapitelweise wechselnder Perspektive erzählt Rubra die Geschichte von Leon und Christina:
Leon, der ihr nach und nach die Geschichte seiner jüdischen Familie schildert. Wertvolle Anekdoten und Lebensschicksale seiner Verwandten, die er gleichsam wie die Edelsteine in seiner Sammlung schätzt und hütet.
Und Christina, die sich im harten, schnellen und oft nüchternen Klinikalltag als rationale Medizinerin von diesen Geschichten berühren und diese – nachdem so lange so vieles totgeschwiegen wurde – nun in ihr Leben lässt.

„Aber Krieg ist nicht was, das du hinter dir lässt. Zum Beispiel, weil sie irgendwann Frieden schließen. Du wirst nicht geheilt davon. Es zerstört deine Fähigkeit zu lieben und zu vertrauen. Nicht die Sehnsucht danach. Die bleibt dir. Aber du kannst es nicht mehr. Als ob der Krieg dir die dafür angelegten Neuronen rausbrennt. Und es frisst sich in deine Gene. Schnürt deinen Kindern die Luft ab.“

(S.148)

Das Spannungsfeld zwischen der jungen, zunächst unbedarften Deutschen und dem jüdischen US-Amerikaner, der die Schrecken des zweiten Weltkriegs unmittelbar erleben musste, ist fein herausgearbeitet und zieht bei der Lektüre unweigerlich in den Bann. Es ist hoch interessant zu verfolgen, wie sich die Beziehung der beiden Charaktere nach und nach verändert.

Rubra hat ein schonungsloses, psychologisch hochspannendes und vielschichtiges Buch geschrieben. Der Text trägt unverwechselbare Merkmale der Ärztin – zumal Rubra selbst in USA studiert hat, seit vielen Jahren im klinischen Bereich tätig ist und daher anzunehmen ist, dass ihr Erstling auch autofiktionale Züge trägt.

Denn da wird sehr authentisch der Klinikalltag beschrieben. Es gibt kurze, knackige Dialoge, Fachjargon und Medizinersprech. Auch sprachlich hat hier die Autorin, die nicht nur Medizin, sondern auch Creative Writing studiert hat, ihren ganz persönlichen Stil gefunden, den ich so bislang noch nicht gelesen habe.

Es gibt Textstellen, die wie Peitschenhiebe durch Mark und Bein gehen, drastische Szenen, die gleichsam in grellem OP-Licht, hart, kalt und schnell, den Finger in Wunden legen, die noch nicht verheilt sind.

Und doch ist Rubras Debüt auch ein Roman, der klar macht, dass die Zeit Wunden zwar nicht spurlos heilen, aber nach und nach doch zumindest mit einem Narbengewebe verschließen kann. Zurück bleiben Narben der Erinnerung, die auch Anlass zu Austausch und Verständigung sein können.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag STROUX Edition, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Kristin Rubra, Keloid – vom überleben und lieben
STROUX Edition
ISBN: 978-3-948065-33-1

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Kristin Rubras „Keloid – vom überleben und lieben“:

Für den Gaumen:
In der Studentenbude bleibt nicht immer Zeit fürs Kochen. Gerade während des Lernens muss es manchmal schnell gehen:

„Ich war hungrig, wollte aber nicht in die Kantine. Ich klopfte bei meiner Nachbarin, die immer etwas zu essen da hatte, und bekam einen Rest Pizza vom Vortag. Ich meinem Zimmer hatte ich noch zwei Äpfel und eine Banane.“

(S.24)

Zum Weiterhören:
Im Radio läuft auch in den Achtzigern Santanas „Samba Pa Ti“, das im Jahr 1970 erschienen ist. Gleich bei den ersten Takten erkennt man das Stück, das zu den bekanntesten des Gitarristen gehört.

Zum Weiterlesen:
Selten musste ich so lange überlegen, welche weiterführende Leseempfehlung ich am Ende noch geben möchte, denn „Keloid“ ist wirklich einzigartig, speziell und gerade aufgrund des Stils schwer zu vergleichen. Doch die Art der schonungslosen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Perspektive der nachgeborenen Generation ließ mich dann nach einer Weile an Michela Marzanos großartiges Buch Falls ich da war, habe ich nichts gesehen“ denken, das ich letztes Jahr hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe und das auf sehr lesenswerte Weise den Umgang in Italien mit dem faschistischen Erbe beschreibt.

Michela Marzano, Falls ich da war, habe ich nichts gesehen
Aus dem Französischen von Lina Robertz
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0150-1

4 Kommentare zu „Narbengewebe der Geschichte

  1. Ich schätze den Stil der Autorin wie auch die Handlung des Romans. Sie erzählt ohne moralische Belehrung, wie die finstere Vergangenheit des Nationalsozialismus in Menschen unserer Zeit weiterlebt. Bilder aus der deutschen Geschichte mischen sich beim Lesen mit Bildern unseres eigenen Daseins, das Leid in der Geschichte der Anderen wird in eigener Betroffenheit  Gegenwart.

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    1. Vielen Dank! Auch in meinen Augen hat die Autorin ihren ganz persönlichen sprachlichen und erzählerischen Stil gefunden, der auch nach der Lektüre noch lange nachhallt.

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