Seite an Seite mit Malnata

Mit Beatrice Salvioni hat Italien zweifelsohne eine grandiose neue literarische Stimme mehr. Ihr Debütroman „Malnata“, der bereits vor Erscheinen in 20 Länder und mittlerweile in 35 Länder verkauft wurde, ist eines dieser Bücher, die man nicht mehr vergisst. Ein starkes, impressives Werk, das einen nicht mehr loslässt und mit einer Hauptfigur, die einem nicht mehr aus dem Kopf geht.

Italien, Lombardei, 1935. Francesca wächst sehr behütet in einem strengen Elternhaus auf. Als sie das Mädchen, das im Ort von allen nur die „Malnata“ genannt wird, weil sie angeblich den Menschen um sich herum Unheil bringt, näher kennenlernt, ist sie fasziniert. Von der Freiheitsliebe, vom Mut und der Stärke, mit der Maddalena – wie ihr richtiger Name lautet – allen Anfeindungen und Widrigkeiten trotzt.

Barfuß, mit schmutzigen Füßen steht sie mit beiden Beinen nicht nur im Fluss, um Fische zu fangen, sondern auch im Leben und eröffnet auf ihre Weise Francesca eine vollkommen neue Welt.

„In der Welt der Malnata wetteiferte man darum, von Katzen gekratzt zu werden, Schmerz leckte man sich einfach zusammen mit dem Blut von der Haut. Eine Welt, in der man nicht spielen konnte, jemand anders zu sein, und in der man Männern und Jungs in die Augen sah, wenn man mit ihnen sprach. Ich beobachtete ihre Welt vom Rande aus. Und ich konnte es kaum erwarten, mich ganz hineinfallen zu lassen.“

(S.62)

Bestandene Mutproben und gemeinsam geschlagene Schlachten schweißen die beiden Mädchen – auch gegen den Willen von Francescas Eltern, welche diese Verbindung untersagen möchten – immer mehr zusammen. Sie werden Freundinnen und Francesca lernt Maddalenas Familie kennen, versteht nach und nach immer besser, warum die „Malnata“ zu der wurde, die sie ist.

Als Ernesto – Maddalenas großer Bruder, der ihr den fehlenden Vater ersetzt, in den Krieg ziehen muss, leidet Francesca nicht nur mit ihr, sondern sie verspricht ihm auch, auf seine Schwester aufzupassen.

„Warum fängst du jetzt plötzlich an zu beten?“
„Ich will nur, dass sie ihn mir zurückbringt“, sagte sie mit düsterer Miene. „Um eine weitere Gnade werde ich in meinem ganzen Leben nicht bitten.“

(S.131)

Der Autorin ist es auf großartige Weise gelungen, den Zwiespalt der damaligen Gesellschaft zwischen katholischem Glauben, Religiosität, einer gewissen Scheinheiligkeit und dem Aberglauben einzufangen, der in Form von Verwünschungen, Flüchen oder überlieferten Ritualen, welche Unheil abhalten oder die Wahrheit ans Licht bringen sollten, immer noch im Alltag sehr präsent war.

Sogar Maddalena selbst setzt vorsichtshalber auf beide Welten, sucht Hilfe im Gebet, aber auch bei Hilfsmitteln wie abgeschnittenen Gänsezungen unter dem Kopfkissen.

„Ernesto sagt immer: ‚Worte sind keine Kleinigkeit, Maddalena. Man darf sie nicht einfach gedankenlos dahinsagen. Dann werden sie gefährlich.‘ Und er hat recht. Aber sie können auch etwas bewirken. Meinst du nicht?“

(S.156)

Salvionis Stilistik ist frech, frisch und transportiert den Trotz und das Aufbegehren der Mädchen auf unnachahmliche Weise. Gerade die Sprache macht den Roman so lebhaft, energisch und vibrierend, dass man von Seite zu Seite immer tiefer in Malnatas Welt abtaucht und ihrem Bruder Ernesto nur recht geben kann: diese Worte haben Kraft und sie können etwas bewirken.

„Ich wusste nicht, ob man die Muttergottes darum bitten durfte, jemanden zur Hölle zu jagen. Aber da auch sie eine Frau war, würde sich mich bestimmt verstehen.“

(S.238)

Auch wenn Salvioni ihre Geschichte in den Dreißiger Jahren angesiedelt hat, ist ihr mit „Malnata“ ein zeitloses Werk gelungen, das Frauen eine Stimme gibt, Missstände (damals wie heute) anprangert und doch auch mit der hoffnungsvollen Botschaft verbindet, welche Kraft Freundschaften – und vor allem auch Frauenfreundschaften – entfalten können.

Salvioni ist Jahrgang 1995, besuchte in Turin die renommierte und von Alessandro Baricco gegründete Schreibschule Holden und hat mit „Malnata“ wirklich ein eindrucksvolles Debüt vorgelegt.

Josephine Tey schrieb einst über Debütromane:

„Bei den meisten Autoren sind die ersten Bücher die besten. Das sind nämlich die, die sie wirklich schreiben wollten.“

(aus Josephine Tey „Alibi für einen König“, S.242)

Bleibt zu hoffen, dass Beatrice Salvioni dieser Aussage trotzen bzw. weiter ihren literarischen Weg gehen wird und wir noch viel Gutes von ihr zu lesen bekommen werden. Ich werde ihr Werk sicher mit Spannung weiterverfolgen.

„Malnata“ zählt für mich ohne jeden Zweifel zum Stärksten, was ich dieses Jahr bisher gelesen habe. Die Geschichte über die Mädchen und Frauen, die so viel aushalten müssen und doch diesen Widrigkeiten mit einem ordentlichen Maß an Trotz und Mut begegnen und selbstbestimmt ins Leben gehen, hat mich im Sturm erobert und nicht mehr losgelassen. Schon nach wenigen Seiten konnte und wollte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

„Malnata“ ist wie seine Heldinnen Francesca und allen voran Maddalena ein kraftvolles, trotziges und vermeintlich lautes Buch, das nicht nur einen enormen erzählerischen Sog besitzt, sondern trotz aller Härte auch durch leise, kluge und sehr berührende Stellen überzeugen kann. Die klare, ausdrucksstarke Stimme Salvionis prangert an, ohne je platt zu sein – ein kluges, wichtiges, zugleich hochspannendes und lesenswertes Buch, das ich wärmstens empfehlen kann.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Penguin Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Beatrice Salvioni, Malnata
Aus dem Italienischen von Anja Nattefort
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-60271-2

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Beatrice Salvionis „Malnata“:

Für den Gaumen (I):
Wenn hochrangiger Besuch geladen wird, gibt es klare Anweisungen an Carla die letzte verbliebene Bedienstete im Haushalt von Francesca bzw. ihrer Eltern. Francesca hingegen ist nur mäßig begeistert:

„(…) und etwas Anständiges kochen: klare Suppe mit Tortellini, darin frisches Hack und Gemüse, aber ohne Brühwürfel, die nur etwas für arme Leute seien. Und als Hauptgang gefüllten Braten, den ich eklig fand.“

(S.63)

Für den Gaumen (II):
In Feierlaune wünscht sich der Vater jedoch ein anderes Menü:

„Eines Tages kam mein Vater mit einer Flasche Sekt nach Hause, eine von diesen teuren Sorten, und verkündete, es gebe etwas zu feiern. Er legte die Schallplatte mit den berühmten Opernarien auf und bat Carla, den Tisch schön einzudecken und das Safranrisotto zu kochen, das er so gerne aß.“

(S.122)

Zum Weiterschauen:
Selten habe ich die Gestaltung eines Buchumschlags so gelungen und passend gefunden wie bei „Malnata“. Der trotzige und skeptische Blick des Mädchens, das dunkle, kontrastreiche Schwarz-Weiß dieses Fotos hat mich sofort in den Bann gezogen. Schöpferin bzw. Fotografin des Bildes war eine der berühmtesten Fotografinnen und Fotojournalistinnen Italiens: Letizia Battaglia (1935 – 2022). Berühmt wurde sie (Quelle: Wikipedia) für ihre eindrucksvollen Schwarzweißaufnahmen des sizilianischen Lebens aber vor allem auch für Bilder über die Mafia. Zu ihrem Tod im Jahr 2022 würdigten sie die Süddeutsche und der Spiegel mit Nachrufen. Auf der Homepage des International Centre of Photography (ICP) sind einige Beispiele ihrer Arbeiten zu sehen. Auch die Aufnahme, welcher der Ausschnitt für den Buchumschlag entnommen ist, ist dort in ihrer Gesamtheit zu sehen: „Young girl with soccer ball in La Cala neighborhood where drugs are sold, Palermo, Sicily“ – aufgenommen 1980.

Zum Weiterlesen:
Vor ein paar Wochen hatte ich ebenfalls einen italienischen Roman hier auf dem Blog vorgestellt, der die Ermächtigung einer Frau schildert: Sibilla Aleramos „Eine Frau erschien jedoch bereits 1906, galt damals als unerhört bzw. geradezu skandalös und erregte im literarischen Europa ordentlich Aufmerksamkeit.

Sibilla Aleramo, Eine Frau
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
Eisele Verlag
ISBN: 978-3-96161-185-0

3 Kommentare zu „Seite an Seite mit Malnata

  1. Komisch, ein Buchcover mit dem gleichen Titel zu sehen (es ist ja hier keine Übersetzung, sondern das Original), von dem ich das italienische schon länger vor dem inneren Auge habe. Da ist auch ein (das) Mädchen abgebildet, sie schaut aber genervt weg und nicht in die Augen des Betrachters. Ich nehme es mal als Zeichen an mich: Jetzt muss ich mir dieses Buch, das mir auch schon persönlich von einer Freundin empfohlen wurde, endlich holen. Vielleicht im Original bei uns in der Bibliothek. Danke für die Erinnerung und hab einen schönen Sonntag, liebe Barbara!

    Gefällt 1 Person

    1. Dankeschön, liebe Anke! Gerade dieses Foto von Letizia Battaglia passt für mich perfekt zu Malnata. Ich bin mir sicher, dass Dich die Geschichte – unabhängig vom Titelbild – ebenso packen wird. Der Roman beginnt mit einem heftigen Paukenschlag, da schluckt man schon mal, aber dann kann man sich dem Sog nicht mehr entziehen. Eine großartige neue Stimme aus Deiner Wahlheimat! Herzliche Sonntagsgrüße nach Italien! Buona serata! Barbara

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar