Abgründiges Wendland

Mit Regiokrimis kann man herumkommen, sich in vertrauten Gefilden bewegen oder aber neue Landstriche für sich entdecken. Mit Sia Pionteks „Die Sehenden und die Toten“ habe ich mich auf mir bislang unbekanntes Terrain begeben: ins Wendland. Die Landschaft im östlichen Niedersachsen lag lange an der innerdeutschen Grenze und wurde medial vor allem durch die Anti-Atom-Proteste in der Nähe von Gorleben bzw. durch das Hüttendorf „Republik Freies Wendland“ im Jahr 1980 bekannt.

Doch das Wendland ist auch geprägt von der idyllischen Lage an der Lüneburger Heide und malerischen Fachwerkhäusern. Sia Piontek – ein Pseudonym, hinter dem sich die ehemalige Verlagsprogrammleiterin Claudia Wuttke verbirgt – hat ihren ersten Fall mit Ermittlerin Carla Seidel und Tochter Lana in ihre eigene Wahlheimat verlegt, zumal sie selbst dort und in Hamburg lebt.

„Wustrow südlich von Lüchow war so trostlos wie viele der Ortschaften, die nicht mit altem Fachwerk und Baumalleen gesegnet waren. Eingerahmt von kleinen Wäldchen, Wiesen und Feldern, tauchte es aus dem Nichts auf und wirkte unpassend in der ansonsten idyllischen Natur. Nicht mal die gelben Anti-Castor-Kreuze waren hier zu sehen, die durchaus zum typischen wendländischen Charme gehörten.“

(S.92)

Falls man Regiokrimis weiter unterscheiden möchte in eine humorvoll-lustige und im Gegensatz dazu die eher düster-abgründige Kategorie, hat sich Piontek mit ihrem Auftakt zu ihrer geplanten Wendland-Reihe für Letzteres entschieden.

Polizistin Carla Seidel hat ihrer Vergangenheit als Mordermittlerin in Hamburg den Rücken gekehrt, sich für einen ruhigeren Posten und einen Neustart für sich und ihre Tochter im Wendland entschieden. Schnell wird klar, dass sie selbst und auch ihre hochsensible Tochter Lana Traumata zu verarbeiten haben.

Als dann jedoch auch dort, wo sich nur vermeintlich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, ein Mord geschieht und die grausam zugerichtete Leiche eines 18-Jährigen mit Spiegelscherben in den Aughöhlen gefunden wird, muss Carla auf die Routinen ihres alten Lebens zurückgreifen und macht sich schnell an die Aufklärung der Straftat.

„Hier draußen in der Natur hörte ihr Schluchzen niemand, sah niemand, wie sie sich immer wieder mit den Fingerknöcheln verzweifelt gegen die Stirn schlug. Was war falsch mit ihr? Warum konnte sie die Erinnerungen nicht einfach in ihrem Innern begraben?“

(S.172)

Dass jedoch auch Lana, für die bereits das Meistern ihres schulischen Alltags eine große Herausforderung darstellt, beginnt, auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen, bringt Tochter und Mutter erneut in Gefahr und spült alte Erinnerungen bzw. Schatten der Vergangenheit wieder an die Oberfläche…

Piontek hat für ihr Krimidebüt keine strahlenden Heldinnen in den Mittelpunkt gestellt, sondern mit ihren beiden Hauptfiguren Carla und Lana ein Mutter-Tochter-Paar erschaffen, das gemeinsam schon einiges mitgemacht hat und mit einer dunklen Vergangenheit leben und klarkommen muss. Durch die Figurenkonstellation wird abwechselnd sowohl die polizeiliche Ermittlungsarbeit als auch die Jugendszene dargestellt.

Das Wendland selbst präsentiert sich zwar mit hübschen Fachwerkhäusern, aber eben auch von einer düsteren Seite – denn nicht nur das Mordopfer, sondern auch weitere junge Leute waren in dunkle Machenschaften verstrickt.

„Die Sehenden und die Toten“ ist ein gelungener Reihenauftakt, den man mit Spannung trotz immerhin gut 400 Seiten wirklich schnell wegschmökern kann. Die privaten Hintergründe von Carla und Lana bieten sicherlich noch Potenzial für folgende Fälle und auch die bislang kriminologisch wenig beackerte Region des Wendlands ist eine geglückte Abwechslung in der Krimilandschaft bzw. macht neugierig.

„Die Hitze wollte und wollte kein Ende nehmen. Obwohl es erst kurz vor sieben Uhr morgens war, kurbelte Carla beide Fenster ihres Polo herunter, aber der Windhauch, der durch den Wagen zog, hatte nichts Erfrischendes an sich, und es zeigte sich keine Wolke am Himmel, die auf ein erlösendes Gewitter hingedeutet hätte.“

(S.114)

Auch wenn über der Handlung oft brütende Hitze liegt: „Die Sehenden und die Toten“ ist sicherlich kein typischer Sommer- oder klassischer Regiokrimi, sondern trägt stellenweise Züge des Thrillers, baut Spannung auf und strahlt eine bedrohliche Atmosphäre aus, welche die Leserschaft in Atem hält. Eine – wie auch das Umschlagbild signalisiert – düstere und thematisch bedrückende Krimilektüre, die nicht frei von Brutalität über Brüche in Lebensläufen und von menschlichen Abgründen erzählt und die somit zweifelsohne auch in die dunkle Jahreszeit oder einen bevorstehenden Leseherbst passt.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Goldmann Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Sia Piontek, Die Sehenden und die Toten
Goldmann Verlag
ISBN: 978-3-442-20664-3

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Sia Pionteks „Die Sehenden und die Toten“:

Für den Gaumen:
Tochter Lana ist geradezu süchtig nach „Ramen“ (S.61), doch leider gibt es meist nur die Instant-Variante und nicht die frisch zubereitete Art der japanischen Nudelsuppe, wie man sie zum Beispiel als Rezept auf essen und trinken findet.

Zum Weiterklicken oder Weiterschauen:
Eine Besonderheit im Wendland sind die Rundlingsdörfer – eine besondere dörfliche Siedlungsform – wie zum Beispiel das Rundlingsdorf Satemin. Auf der Homepage des Ortes gibt es mehr zur Geschichte und fotografische Impressionen…

„Das Dorf Satemin lag vier Kilometer westlich von Lüchow und war der größte und vermutlich schönste Rundling im ganzen Wendland. Kein Wunder, dass es komplett unter Denkmalschutz stand. Zwölf stattliche Vierständerhäuser reihten sich im Halbkreis um einen großzügig angelegten Dorfplatz, der durch die prächtigen Eichen und Linden und eine weitläufige Rasenfläche wie eine Parkanlage wirkte.“

(S.30)

Zum Weiterlesen (I):
Literarische Anspielungen spielen in „Die Sehenden und die Toten“ immer wieder eine Rolle, so vergleicht der Gerichtsmediziner Paul das Mordopfer mit einer Figur aus Thomas Manns Werk (wobei im folgenden Beispiel zwar auch explizit auf die Visconti-Verfilmung angespielt wird):

„(…) Um ihn herum war nur Schönheit. Das klang so ätherisch. (…)
„Der Junge war tatsächlich auffallend schön. Kennst du den Film Der Tod in Venedig? Ich finde, Justus ähnelt diesem Tadzio.“

(S.39)

Thomas Mann, Der Tod in Venedig
S.Fischer
ISBN: 978-3-10.397184-2

Zum Weiterlesen (II):
Auch wenn es in Sia Pionteks Krimi überhaupt nicht um die Anti-Atom-Proteste geht, musste ich dennoch – auch aufgrund des dörflichen Schauplatzes – immer mal wieder an Christoph Peters‘ „Dorfroman denken, den ich vor längerer Zeit hier auf dem Blog vorgestellt habe. Dieser thematisiert die Zerrissenheit einer Dorfgemeinschaft in den Siebzigern vor dem Hintergrund der Anti-Atomkraft-Bewegung im nordrhein-westfälischen Kalkar.

Christoph Peters, Dorfroman
Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87596-5

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