Schon das Cover des Romans macht einem klar, worum es in Christoph Peters’ „Dorfroman“ gehen wird: da steht ein Kernkraftwerk auf der grünen Wiese – der schnelle Brüter in Kalkar, der nie in Betrieb ging. Doch in diesem Roman steckt noch so viel mehr als nur die Geschichte der Anti-Atomkraft-Proteste am Niederrhein. Es ist auch ein Buch übers Rebellieren und Erwachsenwerden, über das Verhältnis zu den Eltern, über Entwurzelung und die Veränderungen einer Dorfgemeinschaft, sowie der deutschen Gesellschaft in den Siebziger und Achtziger Jahren.
„Natürlich habe ich zu wenig gefragt und zu wenig zugehört. Jahrzehntelang wollte ich meiner Mutter, meinem Vater in erster Linie erklären, wer ich selber war, weil ich sie und ihre Vorstellungen von der Welt ja kannte, wohingegen ich dachte, dass meine eigenen Überlegungen und Entschlüsse für sie mindestens ebenso interessant und überraschend sein müssten wie für mich. Auch jetzt, wo es fast zu spät ist, frage ich nur selten, obwohl ich es mir oft vornehme (…)“
(S.95)
Nach vielen Jahren besucht der Sohn, der seine niederrheinische Heimat vor langer Zeit in Richtung Berlin verlassen hat, seine Eltern im kleinen Dorf Hülkendonck. Er erinnert sich an die Zeit in den Siebziger Jahren, als plötzlich der geplante Bau des schnellen Brüters in unmittelbarer Nachbarschaft nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Eltern und der ganzen Dorfgemeinschaft überschattete und komplett auf den Kopf stellte.
Mit 15 Jahren ist er kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen – er fängt und sammelt Schmetterlinge, ist ein großer Fan von „Lassie“ und den Tiersendungen von Heinz Sielmann und doch wird auch das andere Geschlecht zunehmend interessant. Das Leben im Dorf ist geprägt von Landwirtschaft, dem sonntäglichen Kirchenbesuch und überschaubaren Freizeitmöglichkeiten für die Jugend.
Als plötzlich die Diskussionen um den Kraftwerksbau das ganze Dorf spalten – der Vater sitzt im Kirchenvorstand, befürwortet den Verkauf der Kirchengrundstücke an die Betreibergesellschaft und wird zur Zielscheibe zahlreicher Anfeindungen – lernt der Junge auch die Bewohner des Protestcamps und die andere Seite kennen. Diese völlig andere Welt und Weltanschauung fasziniert ihn. Im Lager trifft er auf die Aktivistin Juliane, die einige Jahre älter ist als er und in die er sich rettungslos verliebt.
„Wenn mein Vater wollte, dass ich ihm bei seinen Heimwerkerprojekten half, versuchte ich immer, mich zu drücken, aber das hier war etwas anderes. Es ging nicht darum eine Bar in Eiche rustikal in unserem Keller einzubauen oder die Wohnzimmer mit Holzdecken zu verdüstern, sondern um die Rettung der Welt: alternative Energien, Selbstversorgung, Barrikaden. Und um eine Frau.“
(S.183)
Christoph Peters hat einen tiefgründigen Roman geschrieben, der mich aufgrund der intensiven Schilderung der damaligen Gesellschaft und der zeitgeschichtlichen Hintergründe der Siebziger Jahre wirklich gefesselt hat. Man spürt den Aufruhr im Dorf und versteht die Animositäten zwischen den Nachbarn, den Atomkraft-Gegnern und Befürwortern, die Rebellion der Jugend gegen die Eltern und den alternativen Lebensentwurf der Bewohner des Protestlagers. Sehr glaubwürdig und einfühlsam beschreibt er auch die innere Zerrissenheit des Heranwachsenden, der sich in vielerlei Beziehung zwischen den Welten fühlt – nicht mehr Kind und doch auch nicht erwachsen – schwankend zwischen der tiefen Liebe zu seinen Eltern und dem Glauben daran, dass diese und die Kirchengemeinde stets das Richtige tun, und der jungen, noch frischen, aufregenden Liebe zu Juliane und deren kritischer Ansicht zur Kernkraft.
Sprachlich passt sich Peters einer gewissen jugendlichen Naivität des jungen Erzählers an, was bis auf sehr wenige Stellen, die mir persönlich für einen 15-Jährigen vielleicht doch etwas zu kindlich wirkten und mich daher kurz stutzen ließen, wirklich sehr gut funktioniert. Der Roman liest sich daher sehr flüssig und stimmig und es gibt viele wunderbar formulierte Stellen, die mich sehr unmittelbar berührt und bewegt haben. Gerade die Gefühlswelt des Jungen und auch der reflektierte Rückblick des mittlerweile erwachsenen Sohnes, der die inzwischen alt gewordenen Eltern nach langer Zeit wieder besucht, ist von Peters mit feinem Auge und sicherem Gespür großartig eingefangen worden. So lässt er in kleinen Szenen große Emotionen entstehen, die unter die Haut gehen.
„Die meisten Erwachsenen glauben, wir Kinder würden in einer Art Phantasieland leben, das mit der wirklichen Welt nichts zu tun hat, obwohl sie doch selbst einmal Kinder gewesen sind und es eigentlich besser wissen müssten.“
(S.249)
Peters hat zahlreiche gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen in seinem „Dorfroman“ eingefangen: die abnehmende Bedeutung der katholischen Kirche und auch des dörflichen Gemeinschaftslebens, den Wegzug der jungen Generation aus den Dörfern in die Städte, die Mobilität und Entwurzelung, die zunehmenden Möglichkeiten der Lebensgestaltung, die auch ein höheres Maß an Entscheidungen erfordern, das lange Nachwirken der Zeit des Nationalsozialismus weit in die Siebziger hinein, die Anti-Atomkraft-Bewegung – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen und es lässt sich vieles auf den gut 400 Seiten entdecken, über das es sich nachzudenken lohnt.
Ein vielschichtiges, emotionales und interessantes Buch, das viele Facetten zu bieten hat und das daher wohl von jedem Leser mit anderen Schwerpunkten und Akzenten gelesen wird und sicherlich unterschiedliche – aber bestimmt nachhaltige – Eindrücke hinterlässt.
Weitere Besprechungen des Romans finden sich unter anderem bei Birgit Böllinger, Literaturreich und Letteratura.
Buchinformation:
Christoph Peters, Dorfroman
Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87596-5

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Dorfroman“:
Für den Gaumen:
Kulinarisch war die Verpflegung im „Dorfroman“ eher pragmatisch-bodenständig, so gibt es unter anderem „Serbische Bohnensuppe aus der Dose mit Bockwürstchen und Toast“. Klingt für mich nicht sehr verlockend – bei Dosensuppe bin ich – ehrlich gestanden – raus.
Zum Weiterschauen:
In Bayern ist die Anti-Atomkraft-Bewegung untrennbar mit dem Protest gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf verbunden. Der Film „Wackersdorf“ aus dem Jahr 2018 gibt einen interessanten, gut gemachten Einblick in die Geschehnisse in der Oberfalz der 80er Jahre, als der Landrat Hans Schuierer zunehmend Zweifel an der Harmlosigkeit der geplanten Anlage bekommt, Nachforschungen anstellt und sich schließlich auf die Seite der WAA-Gegner stellt.
Zum Weiterlesen:
Der Großvater versucht im Roman, seinen Enkel für Goethe’s „Wahlverwandtschaften“ zu begeistern, muss aber schnell feststellen, dass er bei ihm gegen Heinz Sielmann’s „Ins Reich der Drachen und Zaubervögel“ nicht ankommt. Zu letzterem Werk kann ich nichts sagen, aber die „Wahlverwandtschaften“ habe ich vor vielen Jahren gerne gelesen – allerdings war ich da auch schon ein wenig älter als der Junge im Roman.
Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften
insel Taschenbuch 4522
ISBN: 978-3-458-36222-7
Dosensuppe … da gibt es wohl Ausnahmen, die durchaus akzeptabel sind. Ob da die Bohnensuppe dazugehört? Für mich ein absolutes No-Go: Dosenravioli. Sollte ich die jemals, lange vor Italien, probiert haben, meine ich mich zu erinnern, dass es eine üble Pampe war. 😉
Diesmal war es keine kulinarisch inspirierende Literatur, aber inhaltlich umso interessanter. Werde ich mir vormerken.
Danke und einen schönen Abend, liebe Barbara!
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Liebe Anke, ja thematisch ist das Buch wirklich sehr reichhaltig, da ist es durchaus auch einmal zu verschmerzen, wenn die Kulinarik etwas zu kurz kommt. Ganz herzliche Grüße ins kulinarisch von mir sehr geliebte Italien! Buona notte! Barbara
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Recht schönen Dank, Barbara,
für Deine aktuelle Buchbesprechung – Vieles ist unmittelbar nachzuvollziehen.
Buch hier und Film Wackersdorf da. Und die Wahlverwandtschaften!
Schönen Feiertag
Bernd
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Gern geschehen, Bernd. Der „Dorfroman“ ist wirklich ein Buch, das in vielen Aspekten zum Nachdenken anregt. Ich wünsche Dir auch einen schönen und entspannten Feiertag morgen! Herzliche Grüße, Barbara
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Serbische Bohnensuppe (allerdings selbstgemacht und nicht aus der Dose) hat meine Oma früher regelmäßig gekocht. Gerne auch in größeren Mengen, weil die sich so gut einfrieren ließ und aufgewärmt fast noch besser schmeckte. Bockwürstchen und Toastbrot gab es bei uns aber leider nie dazu.
Einen schönen Feiertag wünsche ich Dir!
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Bei einer selbstgemachten serbischen Bohnensuppe bin ich definitiv auch gerne dabei – gab’s aber bei uns bisher noch nicht. Mal sehen, das wäre mal wieder eine Gelegenheit, das Rezept von Günter’s schönem Blog „Ein Nudelsieb bloggt“ auszuprobieren:
https://einnudelsiebbloggt.com/2021/01/29/serbische-bohnensuppe/
Dir ebenfalls einen schönen Feiertag – bei dem leicht regnerischen Wetter könnte man ja sogar eine wärmende Suppe vertragen.
Herzliche Grüße!
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Klingt ein bisschen wie „Grenzgang“, was ich geliebt habe. So gut?
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„Grenzgang“ habe ich bisher nicht gelesen, daher kann ich es leider nicht vergleichen. Aber mir hat der „Dorfroman“ wirklich gut gefallen – die Beschreibung der Ausnahmesituation im Dorf und die Zerrissenheit des heranwachsenden Jungen, der merkt, dass er sich zunehmend von vielem entfernt, das bisher für ihn selbstverständlich war. Das ist sehr intensiv und stimmig vom Autor eingefangen.
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