Septemberbowle 2024 – Mützenrevival und Schneespitzenberge

Wenn man nicht Nachrichten schauen würde, wäre dieser September für mich wirklich großartig gewesen. Es gab sonnige Altweibersommertage, aber auch der Herbst hat bereits Einzug gehalten. Für so manchen Spaziergang wurde schon die Mütze wieder aus dem Schrank geholt und sogar den ersten Schnee habe ich schon gesehen (wenn auch nicht vor der Haustür, sondern auf einigen Tiroler Bergspitzen).

Ich habe mich geradezu kaiserlich amüsiert bei einer grandiosen, farbenfrohen und fröhlichen Aufführung von Paul Linckes Operette „Frau Luna“ im Tiroler Landestheater in Innsbruck.

Königlich ging es auch zu, denn mittlerweile ist die „BBC Last night of the Proms“, die dieses Jahr auf 3sat in voller Länge ausgestrahlt wurde, fester Bestandteil meines Septembers. Solisten waren die Sopranistin Angel Blue und der Pianist Sir Steven Hough – ein schöner, gelungener und musikalisch abwechslungsreicher Abend (der übrigens noch bis 13.10.24 in der 3sat Mediathek abrufbar ist).

Einen guten Film, der in den letzten Monaten der DDR 1989 spielt, habe ich auch gesehen: „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ (ARTE Mediathek bis zum 6. Oktober 2024) unter anderem mit Sabin Tambrea, der auch in meiner Lektüreliste nochmal auftauchen wird.

Bzw. eigentlich sogar zwei gute Filme, denn auch „Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“ auf ARTE fand ich wirklich interessant und mit Audrey Tautou in der Hauptrolle fein besetzt.

Doch auch mein Lese-September war wirklich stark (ohne Enttäuschungen) und es ist eine bunte, vielseitige Herbstmischung zusammengekommen:

So habe ich mit Eleanor Cattons „Der Wald“ einen wirklich packenden Umweltkrimi aus Neuseeland gelesen, der mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat. Wie die Autorin Aktivisten und Kapitalisten aufeinanderprallen lässt, ist wirklich spannend.

Ein echtes Glanzlicht war aber auch der neue Roman von Paolo Cognetti „Unten im Tal, in welchem der Autor wieder seine Stärken auf gewohntem Terrain – der italienischen Bergwelt – ausspielen konnte. Ein wunderbares, zutiefst menschliches Buch, das perfekt in den Herbst bzw. eine dunkle Jahreszeit passt.

Und mit Marta Barones Debüt Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand ging es gleich nochmal ins Piemont, allerdings in die Hauptstadt. Eine Tochter, die sich auf die Spuren ihres verstorbenen Vaters begibt, der in den Siebzigern in einer linksradikalen Gruppierung aktiv war und dafür vor ihrer Geburt auch eine Haftstrafe verbüßen musste. Ein sehr persönliches Buch, aber auch ein eindringliches Dokument eines besonderen Kapitels italienischer Zeitgeschichte.

Ein Roman, der reichlich Stoff für rege Diskussionen im Lesekreis bot, war „Diese eine Entscheidung“ der französischen Autorin Karine Tuil. Die dramatische Geschichte einer Untersuchungsrichterin in Paris, die über die Entlassung eines potenziellen islamistischen Terroristen entscheiden muss und an einem Scheidepunkt ihres Lebens steht, hat bei mir tiefen Eindruck hinterlassen.
Eine ausführliche Besprechung gibt es unter anderem bei Literaturleuchtet.

Doch es durfte auch leichtfüßig und humorvoll zugehen im September und das zauberhafte Buch Schöne Bescherung auf Compton Bobbinvon Nancy Mitford ließ sogar schon mal eine erste Einstimmung bzw. Vorahnung für Weihnachten aufkommen. Eine wunderbare Wiederentdeckung des witzigen und amüsanten Romans aus dem Jahr 1932, der nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschienen ist, die Lachmuskeln kitzelt und etwas Weihnachtsglanz ins Gemüt zaubert.

Ein ganz großartiges Buch für Genießer ist Stevan Pauls „Die Kichererbsen der Señora Dolores – kulinarische Geschichten, die sich einfach grandios wegschmökern lassen und die Appetit machen auf mehr. Da trifft es sich gut, dass die passenden Rezepte gleich noch mit dabei sind. Kulinarik trifft Literatur – ein Buch wie gemacht für meine Kulturbowle, daher gibt es hierzu in Kürze auf jeden Fall eine ausführliche Besprechung.

Gleiches gilt für Neige Sinno und ihr Buch Trauriger Tiger, das mich immer noch nach den geeigneten Worten suchen lässt und mit zum Traurigsten und Eindringlichsten zählt, das ich seit langem gelesen habe. Denn die Autorin setzt sich mit ihrer persönlichen Kindheit auseinander, in der sie über Jahre Opfer schweren sexuellen Missbrauchs war. Ein starkes, wichtiges Stück Literatur, aber sehr schmerzvoll zu lesen und ein Buch, bei dem man sich vorab wirklich bewusst sein sollte, was einen erwartet.

Ins ferne Haiti ging es mit Gary Victors „Eine Violine für Adrien“. Ein wilder Ritt durch eine fremde Welt und spannende Literatur, welche die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen lässt und durch so manchen Abgrund und dunkle Ecken führt. Auch hierzu in Kürze mehr.

Der Schauspieler Sabin Tambrea begegnete mir diesen Monat gleich mehrfach in unterschiedlichen Formaten. Im oben bereits genannten Film, bei einem Auftritt in der NDR Talkshow, der mich dazu bewegte, sein gerade erschienenes Buch „Vaterländer“ zu lesen und auch im ZEIT Podcast „Was machst du am Wochenende?. In „Vaterländer“ erzählt er die bewegte und berührende Geschichte seiner Familie, seiner Großeltern, aber vor allem auch seiner Eltern, die in den Achtziger Jahren aus Rumänien nach Deutschland flohen, um ihren Kindern dort ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Ein Buch, das ebenfalls aus mehreren Gründen eine ausführliche Besprechung verdient hat, zu der ich hoffentlich noch die Zeit finden werde.

Und auch von der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 hatte ich mir diesen Monat zwei Werke ausgesucht (weitere werden noch folgen und liegen schon zur Lektüre bereit), die es allerdings leider dann nicht auf die Shortlist geschafft haben.
Bei Ulla Lenzes Roman „Das Wohlbefinden“ hat mich unter anderem der Schauplatz der Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz gereizt. Heute ein Lost Place, über den man im Buch auch etwas geschichtlichen Hintergrund erfährt. Starke Frauenfiguren – in Vergangenheit und Gegenwart – stehen im Mittelpunkt des Romans, den ich wirklich schnell und gerne gelesen habe.

Der zeitgeschichtliche Hintergrund war es auch, der mich zu André Kubiczeks „Nostalgia“ greifen ließ: hier erzählt der Autor über seine Kindheit und Jugend im Potsdam der Siebziger und Achtziger Jahre und setzt vor allem seiner Mutter, die der Liebe wegen aus Laos in die DDR gekommen war, ein literarisches Denkmal. Ein einfühlsames Buch darüber, was es bedeutet fremd zu sein. Berührend.

Was bringt der Oktober?

Einen Opernbesuch in München, auf den ich mich schon sehr, sehr freue.
Und endlich auch für mich das erste Stück der neuen Spielzeit in meinem Heimattheater: das Landestheater Niederbayern startet mit einer britischen Komödie „Mord auf Schloss Haversham – The Play that goes wrong“ von Henry Lewis, Jonathan Sayer & Henry Shields. Im Londoner Westend bereits ein Riesenerfolg, findet das Stück jetzt seinen Weg nach Niederbayern.

Für den Lesekreis werde ich mich im Oktober der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk und ihrem „Gesang der Fledermäuse“ widmen.

Ich freue mich auf Kürbisgerichte, Spaziergänge durch raschelndes Laub und das herbstliche Farbfeuerwerk, darauf mir Zeit für Musik und Theater zu nehmen, sowie gemütliche Stunden mit einer Tasse Tee und einem guten Buch zu verbringen.
In diesem Sinne wünsche ich allen einen feinen Oktober mit goldenem Licht, warmen Farben, einer guten Zeit in der Natur und der Muße für schöne kulturelle Erlebnisse!

Die ausführlichen Rezensionen sind jeweils auf den farbig hinterlegten Titeln verlinkt und ein Klick führt direkt zum jeweiligen Beitrag, wo dann auch die entsprechenden bibliographischen Angaben zu finden sind.

Gaumen-Highlight September:
Im Supptember – äh, … September – gab es eine feine Paprikasuppe nach einem Rezept von Ali Güngörmüs – farbenfroh im Teller, wärmend im Bauch und somit perfekt für den Herbst.

Musikalisches im September:
In Paul Linckes „Frau Luna“ ist auch ein Stück aus einem anderen seiner Werke („Im Reich des Indra“) eingebaut: „Wenn auch die Jahre enteilen … Es war einmal“ – in der aktuellen Innsbrucker Inszenierung ein ruhiger, romantischer Gänsehautmoment.

„Wie hört man immer gerne beim Abendsonnenstrahl
aus grauer Märchenferne den Gruß: Es war einmal!“
Der Jugend Herz ohn‘ Fehle wird müd‘ der Märchen nie,
verschließ auch deine Seele nicht ihrer Poesie.
Nicht kann die Welt dir geben nur Glanz und Gold allein
und doch strahlt deinem Leben oft Märchensonnenschein:

Wenn auch die Jahre enteilen, bleibt die Erinnerung noch,
selige Träume verweilen ewig im Herzen dir doch.
Schwindet auch trüg’risch von hinnen was heut‘ noch dein Ideal,
denke: die Märchen beginnen alle: Es war einmal!“

(Auszug aus dem Libretto von Heinrich Bolten-Baeckers zu Paul Lincke „Wenn auch die Jahre enteilen… Es war einmal“ aus „Im Reich des Indra“)

Septembermorgen

Im Nebel ruhet noch die Welt.
Noch träumen Wald und Wiesen.
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmem Golde fließen.

Eduard Mörike (1804 – 1875)

7 Kommentare zu „Septemberbowle 2024 – Mützenrevival und Schneespitzenberge

    1. Ja, da war schon einiges an Nostalgie dabei, da hast Du recht, Alexander. Ist bei mir aber ja durchaus nichts Ungewöhnliches. 😉
      „Trauriger Tiger“ ist wirklich eine heftige Lektüre, da muss man sich vorher im Klaren sein und definitiv wappnen (finde ich).
      Ich wünsche Dir natürlich ebenfalls einen schönen Feiertag und sende herzliche Grüße aus dem jetzt gerade etwas grauen und vernieselregneten Niederbayern nach Berlin!

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    1. Dankeschön! Ich bin schon immer ein Schnell- und Vielleser und da ich vergleichsweise sehr wenig fernsehe, bleibt diese Zeit für Bücher. So vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich meine Nase nicht in ein Buch stecke… herzliche Grüße!

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  1. Liebe Barbara,

    vor vier Jahren habe ich Olga Tokarczuks Roman „Gesang der Feldermäuse“ besprochen.

    Dieser außergewöhnliche Roman verbindet kriminalistische Spannung mit philosophischen Betrachtungen zur Stellung des Menschen in Natur und Gesellschaft. Einerseits finden wir hier schmerzhaft-glasklare Psychogramme einiger recht unangenehmer Zeitgenossen, andererseits auch einen feinen, schelmischen Humor sowie eine anrührende Zärtlichkeit gegenüber Tieren und tiefe Demut vor der Natur.

    Obwohl sich die Handlung über ein ganzes Jahr erstreckt und der Wechsel der Jahreszeiten die landschaftliche Kulisse verändert und begrünt, wirken die Szenerien stets wie Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit einigen Tupfern belebenden Rots, also ähnlich, wie der Kampa-Verlag die Titelbildgrafik gestaltet hat. Zwar gibt es den literarischen Begriff  „In-Schwarz-Weiß-geschrieben“ nicht, aber hier erscheint er mir angebracht.

    Nachfolgend der Link zu meiner Rezension: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2020/01/12/gesang-der-fledermaeuse/

    Nachtaktive Grüße von
    Ulrike

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    1. Liebe Ulrike,
      Vielen Dank für Deine Ausführung und Deine Sicht auf den Roman der Literaturnobelpreisträgerin. Da ich meist die Bücher, die im Lesekreis besprochen werden, nicht näher hier auf der Bowle vorstelle, haben alle Interessierten jetzt die Möglichkeit, sich bei Dir näher zu informieren. Dankeschön dafür! Stoff für Diskussionen und Lesekreise bietet er ohne Zweifel genug. Herzliche Morgengrüße! Barbara

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