Orgelmusik hat meist etwas Festliches, Feierliches, einen ganz besonderen Klang, der Emotionen und Erinnerungen weckt. Doch wie oft stellt man sich die Frage, wie diese Töne erzeugt werden? Und welche Künstler bzw. welches handwerkliche Können erforderlich sind, um ein solches Instrument zum Klingen zu bringen? Der Orgelbau hat in Deutschland eine besondere Tradition – es gibt so große Namen wie Schnitger, Silbermann oder Walcker – und der Autor Martin Meyer hat sich so zu seinem fiktiven, historischen Roman „Die Orgelbauerin“ inspirieren lassen.
Weimar, 1919. Paula ist die Tochter eines Orgelbauers und bewegt sich von Kindesbeinen an zwischen Pfeifen und Werkzeugen, zwischen Werkstatt und Orgelemporen. Früh beginnt sie selbst Pfeifen zu schnitzen und nichts wünscht sie sich sehnlicher als selbst eines Tages Orgeln zu bauen. Sehr zum Missfallen ihres Vaters, denn Frauen sind in diesem Beruf nicht vorgesehen bzw. auch seitens der Handwerkskammer nicht zugelassen. Und auch wenn seine Tochter zweifelsohne wohl mehr Talent hätte als ihr Bruder Maximilian, der vollkommen traumatisiert von den Schlachtfeldern bei Verdun zurückgekehrt ist, bleibt der Vater unerbittlich.
Als sie sich dann auch noch nach einer unglücklichen Ehe von ihrem Mann scheiden lässt und bei einem ehemaligen Mitarbeiter ihres Vaters, der sich nach einem Zerfwürfnis in einem nahegelegen Ort selbstständig gemacht hat, inoffiziell im Orgelbau unterrichten lässt, kommt es zum endgültigen Bruch.
„Hans schätzte das Holz mehr als das Metall. Die Zwinge war das Einzige, womit er dem Holz Gewalt antat. Sein Raspeln, Feilen und Modellieren war Poesie – ein Tischler wie aus dem Lehrbuch.“
(S.26)
Es sind die Zeiten der Bauhaus-Bewegung, Paula lernt eine vollkommen neue Welt kennen und geht auf in den vielen unterschiedlichen, handwerklichen Tätigkeiten und Arbeitsschritten, die es braucht, um eine Orgel zu bauen, zu reparieren oder instandzuhalten.
„Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinanderher. Bald war das Tempelherrenhaus erreicht. Der Morgenzeit wegen stand es einsam da, das Bauhaus schlief noch. Die Sonne hatte schon Höhe, wärmte jedoch nicht, ein Frühling ohne Kraft.“
(S.122)
Neben der teils schweren handwerklichen Arbeit nimmt sie auch Unterricht im Orgelspiel. Dank ihrem Lehrmeister Hans und der Organistin Magdalena eröffnet sich ihr ein neuer Lebensweg und doch lässt sie der Gedanke an die Familie, ihren unglücklichen Bruder sowie die Eltern nicht los, die versuchen, das angeschlagene Familienunternehmen auch in schwierigen Zeiten über Wasser zu halten.
„Die Walcker-Orgel der Herderkirche war für Merkel ideal. Ein vorhandener Fingersatz erleichterte den Zugriff. Bald meisterte Paula dieses Werk und schwelgte in Merkels Harmonien. Der hatte sein Handwerk beherrscht. Sie probierte noch das eine und das andere weitere Stück aus und floh aus Raum und … Zeit.“
(S.126)
Auch wenn man im Nachwort erfährt, dass es Paula Bertram, die Orgelbauerin in dieser Geschichte, die sich ihren Weg durch die Männerdomäne in einem ganz besonderen Handwerk bahnt und durch den Park an der Ilm und die Gedankenwelt des Bauhauses streift, in Wahrheit nicht gegeben hat, liest man den Roman schnell und mit Interesse. Denn da eröffnet sich eine eigene Welt – die des Orgelbauhandwerks – in die wohl die meisten vorher noch nie solche Einblicke bekommen haben.
Ein Roman für Musikinteressierte, denn auch wenn manches vielleicht ein wenig konstruiert wirkt, spürt man die Faszination des fränkischen Autors Martin Meyer, der sich erst nach seinem Ausscheiden aus dem Justizdienst nun dem Schreiben widmet, für das Orgelspiel und den Orgelbau. Er hat viel reingepackt in seinen Roman: handwerkliche Hintergründe, Technik, Musik, den Kampf einer Frau, sich in einer Männerdomäne durchzusetzen. Die Zeit des Weimarer Bauhauses streift er ebenso, wie er ein Hauch von Liebesgeschichte durch die Seiten wehen lässt.
Auch wenn sprachlich und in den Dialogen nicht immer nur Harmonie herrscht, gelingt es dem Buch, die Augen für die Besonderheit und die Komplexität einer Orgel zu öffnen. Die große Kunst und das Können, das erforderlich ist und sich hinter einem jeden Instrument verbirgt. Vielleicht bringt der Roman ja auch die Leserschaft – wie in meinem Fall – dazu, sich ein wenig mit den Orgeln in der Heimatstadt oder dem näheren Umfeld zu befassen. Wer waren die OrgelbauerInnen dahinter?
„2017 erklärte die zuständige Kommission der UNESCO den deutschen Orgelbau und auch die deutsche Orgelmusik zum Immateriellen Weltkulturerbe. Mit gemeint und geehrt sind auch die Orgelbau-Handwerker, welche die Königin der Instrumente in oft mühevoller Arbeit anfertigen.“
(aus dem Nachwort zum Roman, S. 304)
Auf jeden Fall werden einem bei der nächsten Gelegenheit, wenn die Orgel ertönt, auch Gedanken zum Instrument und den Menschen, die es gebaut haben, durch den Kopf gehen.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Gmeiner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Martin Meyer, Die Orgelbauerin
Gmeiner
ISBN: 978-3-8392-0687-4
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Die Orgelbauerin“:
Für den Gaumen:
Die Mutter versucht der Tochter trotz finanzieller und existenzieller Sorgen Normalität vorzugaukeln – dazu gehört traditionelles Weihnachtsgebäck:
„ „Schau mal.“ Mutter öffnete eine rostige Blechbüchse. „Ich habe Vanillekipferl gebacken.“ Paula verkniff sich die Frage nach den verwendeten Zutaten. Sie ahnte es auch so. Es war Vanille drin, aber keine Butter. Dafür viel Mutterliebe und wohl auch so manche vergossene Träne.“
(S.33/34)
Für eine Pause bzw. einen Konzertbesuch:
In vielen Städten werden regelmäßig kurze Orgelandachten bzw. -konzerte angeboten. Eine schöne Gelegenheit, eine kurze Pause vom Alltag zu nehmen, wohlklingende Musik zu hören und sich vielleicht nach der Lektüre des Buchs auch Gedanken über das Instrument und die Künstler des Orgelbaus zu machen.
Zum Weiterhören:
Paula, die Orgelunterricht nimmt und selbstverständlich auch selbst auf den Instrumenten spielen können muss, entdeckt auch immer wieder neue Werke im weiten Kosmos der Orgelmusik…
„ „Was waren das für Stücke? Habe ich noch nie gehört.“
„Von Bach. Sein „Pièce d’Orgue“, daraus zwei Teile, das Grave und das Très Vitement.“ „Bach à la Française“, sinnierte Paula. Ein Stück, das mit Bismarck auf Nimmerwiedersehen in den Notenschränken verschwunden sein dürfte.“(S.65)
Zum Weiterlesen:
Die Orgel und Johann Sebastian Bach sind zweifellos untrennbar miteinander verbunden. Wer auf literarische Weise mehr über den großen Komponisten und sein „wohltemperiertes Klavier“ erfahren möchte, kann Jens Johlers Bach-Roman „Die Stimmung der Welt“ lesen:
Jens Johler, Die Stimmung der Welt
Alexander Verlag
ISBN: 978-3-89581-364-1
Orgelmusik ist wirklich wunderbar! In meiner nahen Umgebung gibt es gleich zwei Orgelbauer. Einmal die berühmte Firma Sauer, die die Orgel im Berliner Dom gebaut hat und eine kleinere Firma Scheffler. Das macht mir gleich Lust auf ein wenig Orgelmusik, heute am Ewigkeitssonntag.
Herzliche Grüße, Bettina
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Oh schön, das freut mich, Bettina!
Herzliche Grüße und hab einen guten und wohlklingenden Sonntagabend! Barbara
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Danke, Du auch 😊
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Ganz neues Thema, kommt auf die Liste, danke…
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Das freut mich. Mich haben gerade die Aspekte des Orgelbaus besonders angesprochen, weil sie mir einen neuen Blick auf etwas geöffnet haben, mit dem ich mich bisher noch nie näher beschäftigt hatte. Herzliche Sonntagsgrüße!
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