Oliver Hilmes stößt mit „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ auf neues Terrain vor und doch bleibt er sich als Historiker und seiner akribischen Art zu recherchieren treu. Der Untertitel lautet „eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre“ und der Autor, der bislang vor allem durch erstklassige und sehr gut lesbare Biographien wie „Herrin des Hügels“, „Witwe im Wahn“ und „Ludwig II.“ auf sich aufmerksam machte, verpackt hier eine mysteriöse, wahre Begebenheit, auf welche er im Rahmen seiner Recherchen zu „Berlin 1936“ gestoßen war, in eine spannende Erzählung.
Im Juni 1932 verschwindet der Berliner Arzt Dr. Erich Mühe eines nachts spurlos. Sein heiß geliebtes Auto wird einsam am Ufer des Sacrower Sees (in der Nähe von Potsdam) gefunden und zunächst deutet alles darauf hin, dass er bei einem nächtlichen Badeunfall ums Leben gekommen ist. Eine Leiche wird jedoch nie gefunden. Die Polizei – in Gestalt von Kommissar Keller und seinem Assistenten Schneider – beginnt zu ermitteln und es häufen sich die Anzeichen, dass der Mediziner wohl nicht einfach nur beim Schwimmen ertrunken ist. In zahlreichen Befragungen – und Oliver Hilmes stützte sich hier auf die Protokolle der realen Ermittlungsakte – der Ehefrau, deren Gesangslehrers, des Hauspersonals und zahlreicher Personen aus dem Umfeld des Arztes ergeben sich bestürzende Erkenntnisse und der Fall nimmt mehr als nur eine überraschende Wendung.
„Das fängt ja gut an, denkt Keller. Der Gatte ist verschwunden und die Ehefrau spricht von Scherereien.“
(S.45)
Denn die Ehefrau scheint nicht all zu sehr zu trauern und kann es kaum erwarten, in den Besitz der hoch abgeschlossenen Lebensversicherung zu gelangen, um dann – wenn man den Gerüchten in der Nachbarschaft glauben schenken kann – ein neues Leben mit ihrem Gesangslehrer zu beginnen, der wohl auch ihr Liebhaber zu sein scheint. Doch der wohlsituierte Arzt, der finanziell auf ungewöhnlich großem Fuß lebte, hatte offenbar auch unstandesgemäßen Umgang mit kriminellen Kreisen. Die Ermittlungen, die sich über viele Jahre erstrecken, werden immer mysteriöser, so manche Spur läuft ins Leere und es eröffnen sich menschliche Abgründe, welche weder der Ermittler noch der Leser erwartet hätte.
Der Stil ist reduziert, fast nüchtern und knapp und ähnelt durch die Erzählform in der Gegenwart, fast einem polizeilichen Ermittlungsprotokoll. Und doch blitzt die eine oder andere süffisante Stelle auf und vor allem schmückt Oliver Hilmes seine Erzählung mit vielen, atmosphärischen Details, welche den Leser authentisch in das Berlin der 30er Jahre eintauchen lassen. Es ist ihm wichtig, dass man sich in diese Zeit und das Flair hineinversetzen kann. Da wird beschrieben, was es im Aschinger – einem Berliner Kultlokal – zu essen gab oder wieviel ein U-Bahnticket kostet. Zudem streift man mit den Personen durch die Straßen und die Ladenzeilen mit Tabakläden, Wäschereien oder Trikotagengeschäften. Das ist sehr stimmig und unwiderstehlich gut erzählt – man spürt die Lust des Autors an der Recherche und der Zeitgeschichte in jedem Absatz.
Das Buch ist kein klassischer Kriminalroman, es ist vielmehr eine zeitgeschichtliche Erzählung, die sich an Protokollen von Zeugenbefragungen orientiert. Wer Hilmes’ „Berlin 1936“ mochte, das die Olympiade in Berlin zum Thema hatte, und ein Faible für Geschichte und vor allem auch Berlin und Umgebung oder die Zeit der Dreißiger Jahre hat, der wird es lieben. Wer einen typischen Krimi à la Gereon Rath von Volker Kutscher erwartet, der wird vielleicht verwundert oder eventuell sogar enttäuscht sein – denn „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ ist mehr Geschichtsbuch als Krimi.
Meinen Nerv hat der Historiker definitiv wieder einmal getroffen. Ich mag seine Art zu schreiben, die sich herrlich flüssig liest und die einen wirklich die Berliner Luft der Dreißiger atmen lässt. Der wahre Kriminalfall bietet einen spannenden Plot und die Kapitel, die jeweils einem Zeugen oder Betroffenen gewidmet sind, offenbaren auch viel über den Charakter und die jeweilige Persönlichkeit der Figuren. Man kann hier auch vieles zwischen den Zeilen lesen und sich stellenweise selbst wie ein ermittelnder Polizist fühlen.
Eine rätselhafte Begebenheit, die den Leser immer wieder aufs neue überrascht, ein versierter, gut sortierter und detailversessener Autor und eine Ära der deutschen Geschichte, die gerade – spätestens seit dem sensationellen Erfolg von Kutschers Romanen und der Serie „Babylon Berlin“ ohnehin groß in Mode ist – da hat das Buch alles, was es braucht, um zum Bestseller zu werden.
Leider ist das Vergnügen ein kurzes und nach schnell verschlungenen 235 Seiten auch schon wieder vorbei, aber für Geschichtsinteressierte, Freunde Berlins und Fans der Dreißiger Jahre gibt es von mir hier eine klare Leseempfehlung für diesen Bücherherbst.
Buchinformation:
Oliver Hilmes, Das Verschwinden des Dr. Mühe
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-60138-8

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Wozu inspirierte mich „Das Verschwinden des Dr. Mühe“:
Für den Gaumen:
Die deftige Hausmannskost, die in den 30er Jahren im Aschinger in Berlin serviert wurde, ist vermutlich nicht jedermanns Sache, aber eine Berliner Bratwurst oder Fisch mit Remouladensauce passen natürlich in jedem Fall zur damaligen Zeit und zur Lektüre dieser Kriminalgeschichte.
Für die Ohren:
Für die Musik dieser Epoche drängt sich natürlich Max Raabe und sein Palastorchester als Empfehlung gerade zu auf und ich bekomme beim Hören immer gute Laune. Seine Texte sind oft witzig, geistreich, herrlich zynisch-ironisch, intelligent und strotzen vor Lebensfreude. Ein klarer Beweis, dass die Stilrichtung der 20er und 30er auch in der heutigen Zeit noch bestens funktioniert und gute Musik zeitlos sein kann.
Zum Weiterlesen:
Wie man meiner Rezension schon angemerkt hat, bin ich seit längerem ein Fan von Oliver Hilmes und seinen Büchern. Neben den Biographien „Herrin des Hügels“ und „Witwe im Wahn“ hat mich vor allem auch sein Werk über die Olympiade 1936 in Berlin begeistert. Da wird deutsche Zeitgeschichte lebendig und so farbenfroh und detailprächtig erzählt, dass man sie mit großem Vergnügen und Spannung liest.
Oliver Hilmes, Berlin 1936
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-10196-3
Ich habe es auch verschlungen, genau wie Berlin 1936. Die anderen beiden habe ich leider noch nicht gelesen.
Herzliche Grüße aus dem Sauerland von
Andrea (die gerade Deinen schönen Blog entdeckt hat)
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Hallo Andrea! Willkommen bei der Kulturbowle. Ja, ich bin von Oliver Hilmes‘ Büchern immer fasziniert, denn er verpackt Zeitgeschichte in eine sehr flüssige und angenehm lesbare Sprache. Viele Grüße aus Niederbayern ins Sauerland! Barbara
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