Europäische Nostalgie

Ilja Leonard Pfeijffer stand mit seinem Roman „Grand Hotel Europa“ monatelang an der Spitze der niederländischen Bestsellerliste. Ein umfangreiches, gewaltiges und vielschichtiges Buch, das sich mit Witz, Zynismus und Ironie literarisch geschickt mit dem aktuellen Zustand und den Perspektiven unseres Kontinents Europa befasst.

Zu Beginn des Romans bezieht der Autor ein Zimmer im „Grand Hotel Europa“ – ein bereits in die Jahre gekommenes, baufälliges Luxushotel mit einem etwas verblichenen Charme – und lernt dort den jungen Pagen Abdul kennen, der ihn gemeinsam mit dem rührigen Majordomus Montebello in Empfang nimmt. Bei einer gemeinsamen Zigarette kommen Pfeijffer und Abdul ins Gespräch und nach und nach erzählt der junge Flüchtling seine abenteuerliche Geschichte, die ihn an diesen Ort geführt hat.

Der niederländische Autor möchte sich im Hotel in Ruhe der Arbeit an seinem neuesten Romanprojekt widmen. Frisch getrennt von seiner großen Liebe Clio will er jetzt über seinen Liebeskummer hinwegkommen und in Abgeschiedenheit seinen Roman über den Tourismus in Europa und die Geschichte seiner zerbrochenen Beziehung schreiben. So entspinnt sich ein vielschichtiges Geflecht an Schauplätzen, Zeitebenen und Erzählsträngen. Rahmenhandlung bilden die Geschehnisse im Grand Hotel Europa, Abdul erzählt über seine Flucht und Pfeijffer schreibt über die Recherche zu seinem Romanprojekt über den Tourismus und die damit verbundenen Reisen sowie über seine und Clio’s Liebesgeschichte.

Nicht umsonst ist Clio die griechische Muse der Heldendichtung und Geschichtsschreibung, denn einer der großen Grundgedanken in diesem Roman ist, dass Europa sich viel zu sehr auf die Vergangenheit konzentriert und in Nostalgie schwelgt, statt sich auf die Zukunft zu fokussieren. Personifiziert wird dieser Kontrast durch Abdul, den Flüchtling, der seine Vergangenheit am liebsten komplett verdrängen und vergessen und nur noch in eine positive Zukunft nach vorne schauen möchte und dem Autor auf der anderen Seite, der selbst seine persönliche und die europäische Entwicklung des Tourismus rückwärts blickend in einem Roman gleichsam als „Geschichtsschreibung“ verarbeiten will.

„Ich bin froh, dass noch so viel Vergangenheit zu erzählen bleibt, denn ich habe keine Ahnung, welche Zukunft ich für mich erfinden soll, wenn ich meine Aufgabe erfüllt haben werde.“

(S.77)

Europa ist für Pfeijffer zu einem Freilichtmuseum und historischem Themenpark verkommen, dessen einzige Zukunft darin besteht, als Tourismusziel zu dienen. Er beschreibt zynisch und bissig in zahlreichen Episoden und Szenen die dramatischen Folgen und negativen Auswüchse dieser Entwicklung. Der Massentourismus mit all seinen Schattenseiten und Problemen, die er unweigerlich mit sich bringt, ist ein weiteres großes Schlüsselthema in diesem Roman.

Es ist aber auch ein Buch über Kunst und strotzt vor Querbezügen zu Malerei und bildender Kunst – so ist es ein beliebtes Spiel zwischen Clio und Ilja geworden, gemeinsam an unterschiedlichsten Orten in Europa nach einem verschwundenen Bild Caravaggios zu suchen. Er spannt aber beispielsweise auch den Bogen zur Gegenwartskunst von Damien Hirst, der sich unter anderem ebenfalls mit dem Thema der Vergänglichkeit auseinandersetzt.

Pfeijffer hat ein intelligentes und kluges Buch geschrieben, das überzeichnet und satirisch dem europäischen Leser den Spiegel vorhält. Er führt den Irrsinn und die Probleme des Kontinents vor Augen und beleuchtet die Lage Europas und die Zukunftsaussichten kritisch. Gleichzeitig beweist er mit seiner Romanerzählung genau die Stärken des alten Europas – er verwebt umfangreiches Wissen über Kunst und Geschichte in seine Erzählung.

Ein mächtiger Roman, der sehr vielseitig ist und sich trotz der Fülle an Themen sehr flüssig, unterhaltsam und mit Spannung lesen lässt. Auch wenn es Stellen im Buch gibt, die irritieren und vielleicht so manchem Leser auch etwas zu weit gehen, bietet es doch zahlreiche Denkanstöße, die einen im Anschluss länger beschäftigen und viel Stoff zum Nachdenken bieten.

Welche Chance hat dieses Europa, das gleichsam dem Grand Hotel im Buch aufgrund der Vergangenheitsfixierung wohl etwas in die Jahre gekommen ist? Wie kann eine glückliche und lebenswerte Zukunft aussehen?

„Ich will nicht wie das Hotel, in dem ich zu Gast bin, oder wie der Kontinent, nach dem es benannt wurde, zu dem Schluss kommen müssen, dass meine beste Zeit hinter mir liegt und mir in Zukunft nicht viel mehr bleiben wird, als mein Heil in der Vergangenheit zu suchen.“

(S. 52)

Weitere Besprechungen zum Buch gibt es unter anderem bei Letteratura, Buchpost und Buch-Haltung.

Buchinformation:
Ilja Leonard Pfeijffer, Grand Hotel Europa
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Piper
ISBN: 978-3-492-07011-9

© Piper Verlag

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Grand Hotel Europa“:

Für den Gaumen:
Vielleicht eine Tasse Kaffee, um im übertragenen Sinne wach und offen zu bleiben für Veränderung, um vor lauter Vergangenheit die Zukunft nicht außer Acht zu lassen.

Zum Weiterschauen:
Die Gemälde Caravaggios spielen im Buch eine zentrale Rolle. Es lohnt sich daher im Zusammenhang mit der Lektüre auch wieder ein paar Gemälde dieses Künstlers der Barockzeit anzusehen, der vor allem für sein „Chiaroscuro“, d.h. die Hell-Dunkel-Malerei bekannt ist.

Zum Weiterlesen:
Für alle die sich auf leichtfüßige, humorvolle und unterhaltsame Art und Weise mit dem Thema „Vergangenheit trifft Gegenwart“ und dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen beschäftigen möchten, kann ich Herbert Rosendorfers Klassiker aus dem Jahr 1983 „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ empfehlen.

Herbert Rosendorfer, Briefe in die chinesische Vergangenheit
dtv
ISBN: 978-3-423-10541-5

5 Kommentare zu „Europäische Nostalgie

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