Die beiden wunderbaren Haiku-Bände „der tulipan entblättert sich und amor schleicht ins land“ sowie „goldfüchse im schnee und ganz leise lacht ein faun“ des Autorinnenduos Janette Bürkle und Petra C. Erdmann aus dem Mirabilis Verlag boten mir eine sehr schöne Gelegenheit, mich einmal wieder der Lyrik-Lektüre zu widmen und ich wurde reich belohnt.
Wenn ich so auf meine Lektüre der letzten Jahre zurückblicke, fällt auf, dass die Lyrik in der Regel zu kurz kommt und ich nur sehr selten – viel zu selten – zu Gedichten greife. Warum ist das so? Und warum nicht öfter wieder Gedichte lesen? Warum nicht mehr Poesie wagen im Leben?
So mancher hat wohl leider bereits nach der Schulzeit und der letzten, verfassten Gedichtanalyse mit dem Thema Lyrik abgeschlossen. Gedichte haben bei vielen Menschen im Alltag keinen Platz. Liegt das am mangelnden Interesse? An der Schnelligkeit und Hektik des täglichen Lebens und dass man sich die Zeit, Ruhe und Muße, die man für das Lesen von Gedichten braucht, einfach nicht nimmt oder nehmen will? Warum greifen auch die meisten Vielleser nahezu ausschließlich zu Prosa, Romanen, Krimis und Thrillern?
Abschließende Antworten auf diese Fragen habe ich nicht, aber nach der Lektüre der herrlichen, melodiösen Haiku von Frau Bürkle und Frau Erdmann kann ich alle, die sich für eine schöne, intensive und ausdrucksstarke Sprache begeistern können, nur ermutigen, der Lyrik wieder häufiger eine Chance zu geben.
zitronenfalter
(Petra C. Erdmann – aus „der tulipan entblättert sich und amor schleicht ins land“)
sonnendurchflutet und fein
dein dasein ein spiel
Die kurze Definition eines Haiku, die dankenswerterweise einem der Bände vorangestellt ist, lautet: „Das Haiku ist eine traditionelle japanische Gedichtform und die kürzeste Form der Dichtkunst. Knapp und geschlossen, in der Regel mit aus drei Zeilen bestehender Silbenstruktur von 5-7-5, zeichnet es ein minimalistisch poetisches Bild bis ins kleinste Detail.“ (Zitat aus dem Vorwort zu „goldfüchse im schnee und ganz leise lacht ein faun“)
Der bereits 2015 erschienene erste Band „der tulipan entblättert sich und amor schleicht ins land“ – stilvoll ergänzt durch harmonische Illustrationen Florian L. Arnolds – fächert einen vollständigen Jahresverlauf von den ersten frostigen Nächten um Neujahr bis zum „Silvesterkater“ zum Jahresausklang auf. Die Autorinnen zaubern durch die literarisch ausdrucksstarken Miniaturen atmosphärische Bilder von Landschaften und Jahreszeiten voller Farben, Klänge und Emotionen. Es ist faszinierend, wie mit einigen wenigen – oft sehr positiv besetzten – Worten sofort Erinnerungen hochkommen. Beispiele? Zitronenfalter, Brandungswelle, Seidenduft, Mittagssonne… – wenn man sich diese Worte auf der Zunge zergehen lässt, bekommt man sofort gute Laune. Die Haiku setzen Gedanken in Gang und lassen den Leser träumen. Mit großer Sinnlichkeit, Leichtigkeit und wunderbaren Wortkreationen wie „sonnenstrahlknistern“, „eisknospenbukett“ oder „vorwitzchen“ erschaffen die Künstlerinnen einen schwebenden und sehr sinnlichen Lesegenuss.
ein stück vom himmel
(Janette Bürkle – aus „goldfüchse im schnee und ganz leise lacht ein faun“)
barfuß auf wolken gehen
bis der schleier fällt
Der zweite Band „goldfüchse im schnee und ganz leise lacht ein faun“, der erst vor kurzem im Dezember 2020 erschienen ist, schlägt erdigere, dunklere und wärmere Töne an. Wenn man den ersten Band als luftig-leichtes „Dur“ bezeichnen möchte, ergänzt der zweite mit einem wunderbar harmonischem, wärmendem „Moll“ das Duett, das man ohnehin am besten gemeinsam genießen sollte. Natürlich spielen auch hier wieder Naturbeobachtungen eine große Rolle, doch findet sich jetzt auch der eine oder andere Anklang an urbanes Leben (z.B. durch Worte wie Dächer, Gebälk, Holzjalousien oder Schlauchboot) in den kurzen Gedichten.
Den Bänden gemeinsam sind humoreske Anklänge, aber vor allem auch die intensive, expressive und gefühlvolle Sprache der beiden Autorinnen, denen es gelingt, in drei Zeilen ganze Welten, Bilder und Stimmungen von elementarer Schönheit zu erschaffen. Emotionale Gedichte, die inspirieren und anregen, die Gedanken fließen zu lassen, die Phantasie beflügeln und alle Sinne ansprechen.
Vielleicht ist die Kunst der Lyrik-Lektüre im Alltag, sich Zeit zu nehmen, zu genießen, nicht zu viel zu analysieren, sondern einfach den Zauber der Sprache auf sich wirken zu lassen. Für mich war es beglückend, während draußen leise der Schnee fiel, mit einer Tasse Tee neben mir, mich in diese kleinen literarischen Meisterwerke zu versenken, den Wechsel der Jahreszeiten literarisch zu durchlaufen und schon wieder ein wenig vom nächsten Sommer zu träumen.
Und so bleibt neben einem zufriedenen und glücklichen Lesegefühl auch der Wunsch, zukünftig mehr Gedichte zu lesen und wieder häufiger auch der Lyrik Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Mehr Poesie wagen!
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Mirabilis Verlag, der mir freundlicherweise die beiden Rezensionsexemplare zur Verfügung gestellt hat und bei Birgit Böllinger, die mich auf die Bücher aufmerksam gemacht hat . Auf meine Meinung und Rezension der Bücher hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf die Titel gibt es nähere Informationen zu den Autorinnen und Büchern auf der Seite des Verlags.
Buchinformationen:
Janette Bürkle, Petra C. Erdmann,
der tulipan entblättert sich und amor schleicht ins land
Mirabilis Verlag
ISBN: 978-3-9816674-2-4
Janette Bürkle, Petra C. Erdmann,
goldfüchse im schnee und ganz leise lacht ein faun
Mirabilis Verlag
ISBN: 978-3-947857-09-8
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Wozu inspirierten bzw. woran erinnerten mich die beiden Haiku-Bände:
Für den Gaumen:
Für die passende Stimmung und den vollkommenen Genuss sorgt bei mir ein japanischer grüner Tee. Sorgfältig zubereitet und bewusst genossen, können ein schöner Sencha oder gar ein Gyokuro, der für ca. 3 Wochen im Vollschatten aufgezogen wird und auch in Japan zu besonderen Anlässen getrunken wird, die Lektüre wunderbar abrunden.
Zum Weiterhören:
Musikalisch kam mir immer wieder die Instrumentalmusik des Herbert Pixner Projekts in den Sinn. Warum? Südtiroler Musik zu japanisch inspirierten Haiku? Für mich passt das zusammen. So wie die Haiku der Autorinnen Atmosphäre schaffen und Landschaften vor den Augen der Leser entstehen lassen, so versteht es Herbert Pixner mit seiner Musik, Bilder und Stimmungen beim Hörer hervorzurufen, die er selbst inspiriert durch Erfahrungen in der Natur in wunderbare Melodien verwandelt hat, wie zum Beispiel „Morgenrot“ oder „Antoni Schnee“. Lyrik und Musik helfen dabei, ein wenig zu träumen und die Gedanken fließen zu lassen.
Zum Weiterlesen:
Beide Autorinnen sind Mitglieder in der Deutschen Haikugesellschaft e.V.. Die Homepage der Gesellschaft bietet neben Erläuterungen und Definitionen auch zahlreiche Informationen rund um das Thema japanischer Dichtkunst im deutschsprachigen Raum. Zudem gibt die Gesellschaft vierteljährlich die Zeitschrift „Sommergras“ heraus. Alle, die mehr über Haiku erfahren wollen, haben hier eine gute Anlaufstelle.
Darüber hinaus bietet auch der Blog Schriftwechsel der Autorin Janette Bürkle Szalys eine Möglichkeit, einen ersten Eindruck ihrer Haikukunst zu bekommen.
Also, wenn es jetzt ums Wagen des Wagnisses geht,
hier das Coming-out einer Reimliebhaberin:
Ich möchte ein Gedicht mit mir herumtragen können.
Um es mit mir herumzutragen, muss ich es auswendig lernen.
Das Auswendiglernen geht mit gereimten Gedichten viel besser.
Gereimte Gedichte darf man heute höchstens noch als Songtext mögen.
Was folgt daraus?
Dass ich unter der Dusche singe.
Reime vertragen es, nass zu werden.
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Singen unter Dusche kann auch poetisch sein und danke, dass Du das Wagnis hier mit uns geteilt hast. 🙂 Reime sind etwas Wunderbares.
Was jedoch das Auswendiglernen betrifft: Bei den drei Zeilen eines Haiku hätte man vermutlich sogar ohne Reim die Chance es sich zu merken – und so schön, dass man sie sich gerne merken möchte, sind sie ebenfalls. 🙂 Herzliche Grüße!
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Klingt sehr inspirierend! Ich stelle es mir allerdings anstrengend vor, sich hinzusetzen und viele Haiku hintereinanderweg zu konsumieren. Vielleicht, wie du beschreibst, mit einem guten Tee, und nach jedem Vers den Blick in die Natur schweifen lassen. 😊 Jeden Tag ein Haiku auf dem Kalenderblatt wäre eine nette Alternative zu den üblichen „Sprüche“-bzw. Zitate-Kalendern.
Ich wünsche dir noch ein entspanntes Wochenende! Ciao Anke
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Das mit dem Kalender ist eine schöne Idee und ich gebe Dir recht: Natürlich sollte man sich bei der Lektüre Zeit lassen. Das Schöne ist ja, dass man die Bücher auch immer wieder aufs Neue zur Hand nehmen und reinstöbern kann. Das Wunderbare an Gedichten ist, dass sie durch mehrfaches Lesen eher gewinnen und keinesfalls ihren Zauber verlieren. Herzliche Grüße! Barbara
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Liebe Barbara,
danke für Deine Vorstellung der beiden Haiku-Autorinnen. Ja, Gedichte braucht der Mensch, Poesie und gerne auch Haikus. In Nürnberg hat uns Fitzgerald Kusz die Haikus beigebracht – auf fränkisch. Hier zwei Beispiele von seiner eigenen Seite:
http://www.kusz.de/home.php
lebkoung
deä vollmond ibä
nämberch is aa blouß
ä lebkoung
ziel
deä wech is es ziel
du redsd di leichd:
iich find inn wech ned
Danke, Wünsche und Grüße
Bernd
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Hallo Bernd! Ja, man ertappt sich beim Haiku-Lesen auch selbst, wie man beginnt im Kopf vielleicht selbst ein paar der Dreizeiler zu formen. Das kann durchaus ansteckend sein. Mit der fränkischen Variante, die Du freundlicherweise mit uns geteilt hast, haben jetzt sicherlich ein paar Leser, die des fränkischen Dialekts nicht so mächtig sind, ein bisschen was zu rätseln. 🙂 Ich komme aber mit der „Übersetzung“ gerade noch zurecht. 🙂 Viele Grüße, Barbara
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Die fränkischen Haikus sind genial … beim ersten über Nürnberg tat ich mir zwar auch erst schwer, aber nach langem Grübeln habe ich ihn verstand. Der zweite Haiku ist einfach klasse!
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