In den Fängen des Tintenfischs

Venedig im Mai 2020 – die Stadt befindet sich auf dem behutsamen Weg heraus aus dem ersten, strengen Lockdown. Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo haben mit ihrem zweiten Band der Morello-Reihe „Der Tintenfischer“ bereits einen Krimi vorgelegt, der in der Corona-Zeit spielt.

Und so ermittelt die venezianische Polizei unter anderem gegen eine Bande von Corona-Kriminellen, die alte Leute ausraubt, indem sie sich an der Haustür als Mitarbeiter des roten Kreuzes ausgeben, um die Wohnung zu desinfizieren.
Ansonsten ist die Stadt wie ausgestorben – die Gassen und Kanäle sind leer – es herrscht strenge Ausgangssperre. Commissario Morello, der zu seiner eigenen Sicherheit in den Norden versetzte Sizilianer fremdelt immer noch ein wenig mit der Lagunenstadt, doch als plötzlich ein Flüchtling sich medienwirksam filmt, als er in Selbstmordabsicht von einer Brücke springt, um auf die Missstände aufmerksam zu machen, bleibt Morello und seiner Kollegin Anna Klotze nicht viel Zeit zu überlegen. Anna rettet ihn aus dem Kanal und der junge Nigerianer erzählt ihnen nach und nach die Geschichte seiner Flucht.

Er ist auf der Suche nach einer jungen Frau, in die er sich während seiner Flucht verliebt hat und die er aus den Augen verloren hat. Er vermutet sie in der Gewalt von Menschenhändlern, die sie zur Prostitution zwingen.
Schon bald führen die Ermittlungen Anna und Morello auf eine abenteuerliche Reise nach Sizilien, wo sie das Mädchen aufspüren wollen. Jedoch birgt jeder Besuch in der alten Heimat für den Commissario, der von der Mafia gesucht wird, große Gefahr.

Nach dem ersten Band „Der freie Hund“ ist „Der Tintenfischer“ der zweite Fall des sizilianischen Commissario’s Morello, welcher in Venedig ermittelt. Das Autorenduo Schorlau und Caiolo haben einen routinierten, spannenden Italien-Krimi geschrieben, der hochaktuell auch schon die Corona-Thematik behandelt. Die neue Bedrohung, für die sich gerade in der Stadt Venedig der Vergleich mit der Pest anbietet – in der Stadt in der sich im Karneval immer noch Menschen mit Masken als Pestärzte verkleiden und in der die Seuche unauslöschliche Spuren hinterlassen hat.
In diesem Krimi beschreiben die Autoren nun die Plagen der neuen Zeit.

Gespenstisch die Atmosphäre des ausgestorbenen Venedig – sofort hat man die Bilder aus dem letzten Jahr im Kopf: ein menschenleerer Markusplatz – bis zur Coronakrise unvorstellbar.

„Der Tintenfischer“ ist spannend und liest sich schnell. Schorlau und Caiolo greifen auf ein bewährtes Krimi-Kochrezept zurück: viel Lokalkolorit, ein kantiger, eigenwilliger Commissario, der gerne und viel kocht, italienische Musik hört und eine Prise Liebesknistern in einem spannenden Kriminalfall. Das alles geschieht auf stimmigem und intellektuell hohem Niveau und lässt sich süffig lesen. Lediglich einige wenige Szenen, in welchem Kollegin Anna fast als Reiseführerin agiert und Morello Venedigs Sehenswürdigkeiten erklärt, fand ich persönlich ein wenig zu konstruiert. Der Szenenwechsel von Venedig nach Sizilien jedoch bereichert und schafft Atmosphäre.

Der Roman greift ernste, brisante Themen auf: die Situation der Flüchtlinge, die Mafia, politische Verwicklungen – das ist für mich die große Stärke dieses Krimis. Die Autoren trauen sich, auch schwierige Inhalte anzupacken und zu vermitteln. Der Tintenfisch mit seinen Tentakeln, die sich überall hineinschlängeln, ist ein gelungenes Bild für die kriminellen und politischen Verstrickungen in Italien und ein gut gewählter Titel.

„Diese Stadt greift nach mir, denkt er. Wie ein Tintenfisch greift sie nach mir mit tausend Armen und zieht mich immer weiter hinein in die Lagune und in ihre Kanäle.“

(S.68)

Um so interessanter fand ich, dass die Autoren auch Venedig mit einem Oktopus vergleichen, der auf vielfältige Art und Weise den Commissario immer mehr verführt und in Beschlag nimmt. Ob er dort doch noch heimisch werden wird? Weitere Fälle werden es hoffentlich noch zeigen.

Seit der Lektüre weiß ich, wie man einen Tintenfisch fängt – eine Fähigkeit, die der Sizilianer Morello von seinem Vater gelernt hat. Zudem bietet das Buch zahlreiche kulinarische, literarische und musikalische Inspirationen, die ich immer gerne aufnehme. Vielleicht – aber das tat dem Lesegenuss keinen Abbruch – fehlte mir persönlich der ultimative, würzige Pfiff zum ganz großen Wurf bzw. zum Abrunden des Geschmacks. Aber wer Pasta und Italien liebt, ist bei diesem Roman auf jeden Fall gut aufgehoben: die Zutaten stimmen, schmecken und machen Spaß und ich werde die Reihe sicherlich weiter verfolgen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim KiWi-Bloggerportal und dem Verlag Kiepenheuer&Witsch, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo, Der Tintenfischer
Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-00101-3

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Der Tintenfischer“:

Für den Gaumen:
In diesem Krimi wird viel gekocht und geschlemmt – gerne Pasta – und am Ende des Buches finden sich als Zugabe sogar die Lieblingsrezepte des Commissario zum selbst Nachkochen. Eines dieser Rezepte sind die berühmten Pasta alla Norma (mit Auberginen) und wer nicht so lange warten kann bis er den Krimi in Händen hält, findet hierzu auch ein schönes und gut beschriebenes Rezept auf dem vielseitigen Blog Arcimboldi’s World.

Zum Weiterhören:
Aktuell begegnet mir in der Literatur immer öfter der italienische Cantautore (Liederdichter) Fabrizio de André (1940-1999) – war es in einem Sardinien-Krimi vor kurzem der Song „Geordie“, so wird in „Der Tintenfischer“ sein Lied „Preghiera in Gennaio“ erwähnt.

Zum Weiterlesen (I):
Ich finde es immer spannend, wenn Romanfiguren selbst zu Büchern greifen. Schorlau und Caiolo lassen ihren Commissario Morello – der selbst leidenschaftlich gegen die Mafia kämpft – Leonardo Sciascia’s Mafiaroman „Der Tag der Eule“ lesen. Kein Wunder, dass dieser jetzt auch auf meine (immer länger werdende) Leseliste gewandert ist – zumal ich diesen Klassiker der sizilianischen Kriminalliteratur bisher noch nicht kenne:

Leonardo Sciascia, Der Tag der Eule
Aus dem Italienischen von Arianna Giachi
Wagenbach
ISBN: 978-3-8031-2619-1

Zum Weiterlesen (II) oder vorher lesen:
Im letzten Frühjahr war der erste Teil der Krimi-Reihe „Der freie Hund“ eines der Bücher, die mich im ersten Lockdown ablenken konnten und gedanklich nach Italien entführten. Wer also erfahren möchte, wie es den sizilianischen Commissario nach Venedig verschlagen hat und wie er sich nach anfänglichem Widerwillen dieser Stadt doch annähert, der sollte vor der Lektüre des Tintenfischers zum ersten Fall der Reihe greifen, in welchem unter anderem der Overtourism und die großen Kreuzfahrtschiffe in der Lagunenstadt thematisiert werden.

Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo, Der freie Hund
Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-00147-1

5 Kommentare zu „In den Fängen des Tintenfischs

  1. Liebe Barbara – das ist ja schön, dass Du mein Rezept verlinkst, ist natürlich nicht von mir, sondern ein wirklicher Klassiker, aber einfach lecker. Ich liebe Auberginen. Sowohl in der italienischen Küche, aber auch in einem schönen Curry… – Sag: Woher nimmst Du die Zeit für die vielen Bücher? Ich beneide Dich! 🙂 und sende Dir einen herzlichen – heute schon sommerlichen – Gruss aus Zürich. A.

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    1. Lieber Adrian, sehr gerne. 🙂 Ich schätze Deinen Blog für seine Vielfalt und die gelungene Mischung aus den Dingen, die ich auch liebe: Bücher, Kultur und gutes Essen. Daher teile ich das gerne. Die Zeit zum Lesen? Vielleicht ist ein Geheimnis, dass ich sehr wenig und wenn überhaupt nur sehr gezielt fernsehe. Zudem waren und sind in der letzten Zeit durch die Pandemie die kulturellen Möglichkeiten und andere Alternativen, die Zeit zu verbringen, auch sehr eingeschränkt gewesen. Der strahlende Sommer der letzten Tage hat zwar heute in Landshut eine kleine Pause eingelegt, aber ich sende dennoch herzliche Grüße in die Schweiz! Barbara

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    1. … und dazu Gershwin’s Musik… herrlich. 🙂 Wir können etwas sommerliche Leichtigkeit jetzt alle dringend gebrauchen. Und da darf es dann auch mal eine entspannende Krimilektüre sein – zumindest ist das bei mir so. Ebenfalls herzliche Sommergrüße aus „sunny Niederbayern“ 😉 ! Barbara

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