Sunshine in Stuttgart

Es geschieht vermutlich eher selten, dass man eine Biografie über jemanden liest, den man nicht kennt, von dem man bisher nichts wusste. Doch wie viel Freude eine solche Lektüre machen kann und wie sehr einem der Mensch im Mittelpunkt des Buchs ans Herz wachsen kann, durfte ich bei Susanne Wiedmann’s „Cranko, Haydée – und ich, George Bailey“ erfahren. Ein herzerwärmendes, lichtdurchflutetes und hoffnungsfrohes, gewinnendes Buch, das in leuchtenden Farben das Leben eines besonderen Menschen erzählt.

1944 geboren und aufgewachsen ist George Bailey als Kind einer PoC-Familie in Denver in den Vereinigten Staaten von Amerika. Sein Großvater George Morrison war ein berühmter Musiker und Komponist (sein Flügel steht heute als Erbstück in Bailey’s Wohnung) – die Liebe zur Musik wurde ihm gleichsam in die Wiege gelegt.

Schon früh zieht es den kleinen George ans Klavier, doch auch für Mode kann er sich begeistern. Nach der High School beginnt er in New York am Fashion Institute of Technology zu studieren, verlässt dieses jedoch ohne Abschluss und geht zur Army. Durch Glück und die Beziehungen seines Großvaters entkommt er dem Einsatz im Vietnamkrieg. Stattdessen tourte George Bailey mit dem 7th Army Soldiers Choir als Pianist durch Europa – er kam als Soldat nach Deutschland und blieb.

Nach der Zeit bei der Army und kurzen Zwischenstopps in London und Paris, schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch und arbeitete in einer Heidelberger Jeans-Boutique. Ein Zettel mit einer Telefonnummer sollte 1972 sein Leben verändern: es war die Telefonnummer für ein Klaviervorspiel beim Stuttgarter Ballett. Manchmal sind es die kleinen Momente, die über ein ganzes Leben entscheiden.

John Cranko – der damalige Ballettdirektor entdeckte und engagierte ihn. Er erkannte das Potenzial in ihm und gab ihm den Spitznamen Sunshine, der all das zu beinhalten scheint, was Freunde und Weggefährten an George Bailey schätzen: seine Wärme, seine Ausstrahlung, seinen Optimismus, seine Energie und seine positive Lebenseinstellung.

Zunächst arbeitete er als Korrepetitor des jungen Stuttgarter Ballettensembles – der Noverre-Kompanie – und musste in der ersten Zeit hart arbeiten. Üben, üben, üben und viel lernen, hatte er doch keine klassische Klavierausbildung vorzuweisen wie die meisten seiner Kollegen.

„Ich habe so getan, als ob ich Ahnung hätte, aber ich hatte keine Ahnung. Das Leben ist eine Show. Wir sind alle Spieler auf einer großen Bühne. Da habe ich Korrepetitor gespielt. Zum Glück ist es gut gegangen, und irgendwann bin ich wirklich einer geworden.“

(S.86)

Doch schnell wurde er zum Liebling des Balletts, stieg auf zum Korrepetitor der Haupttruppe. Viele renommierte Künstlerpersönlichkeiten wie John Cranko, John Neumeier und Marcia Haydée arbeiteten am liebsten mit ihm. War er im Probensaal anwesend, herrschte gute Laune, eine herzliche Atmosphäre und die Künstlerinnen und Künstler liebten seine Musik, sein Gespür für das richtige Stück zur richtigen Zeit. Denn schnell entwickelte er das Verständnis für die Bedürfnisse einer Ballettkompanie und wie er die Tänzerinnen und Tänzer musikalisch tragen und am besten unterstützen konnte. So erklang auch immer mal wieder Bobby McFerrin’s „Don’t worry, be happy“ im Training und versüßte den anstrengenden und fordernden Probenalltag des Balletts.

Doch auch sein eigenes Bühnentalent wurde entdeckt und schon bald durfte er auch selbst kleine Nebenrollen in Inszenierungen übernehmen, später sogar selbst choreografieren. Ein reiches, buntes und erfülltes Künstlerleben, das Bailey stets mit seiner positiven Haltung und viel Freude an Kunst und Musik geliebt und genossen hat. Noch heute steht er gerne auf der Bühne – wenn es die Pandemie zulässt. Seine Weihnachtskonzerte waren legendär.

Die Biografie beleuchtet seine Familiengeschichte, seinen Werdegang, seine Lebensumstände und gibt trotz aller Sonne auch den Schattenseiten einen gewissen Raum: Szenen, in welchen er aufgrund seiner Hautfarbe oder sexuellen Orientierung Diskriminierung und Rassismus erleben musste.

Ein großer Fokus liegt aber auch auf dem künstlerischen Schaffen, erfolgreichen Inszenierungen, in welchen er entweder in der Vorbereitung oder teils sogar selbst als Darsteller auf der Bühne mitwirkte. Man bekommt Einblicke in den Probenalltag, blickt hinter die Kulissen des Ballettbetriebs und liest interessiert, wie über so manche Ballettlegende aus dem Nähkästchen geplaudert wird.

So wie George Bailey einen großen Anspruch auf ein gepflegtes Äußeres und gute Kleidung legt, so viel Liebe legt der Kröner Verlag auch stets in die Aufmachung seiner Bücher: die gebundene Halbleinenausgabe mit Lesebändchen ist edel gestaltet und ein Blickfang im Bücherregal.

Susanne Wiedmann, die als Kulturjournalistin für den Südwestfunk arbeitete und nun Redakteurin beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen ist, lässt in ihrer Biografie neben George Bailey selbst, der zudem auf seine persönlichen Tagebücher zurückgreifen konnte, auch viele WeggefährtInnen und KünstlerfreundInnen zu Wort kommen, die deutlich machen, wie beliebt er bei seinen Kolleginnen und Kollegen war. Die Tänzerinnen und Tänzer waren seine Kinder und seine Familie. Die glückliche Beziehung zu seinem Partner und heutigen Ehemann musste Bailey lange Zeit geheim halten und im Verborgenen leben, da sie unter anderem negative Konsequenzen für die berufliche Karriere seines Gatten fürchteten. Selbst vor seiner geliebten Mutter hat er seine Liebe bis zu ihrem 80. Geburtstag geheim gehalten.

Der Blick hinter die Kulissen des Ballettbetriebs, das Berufsbild des Korrepetitors mit seinen vielfältigen Aufgaben – das ist faszinierend zu lesen und ich habe viel Neues erfahren. Ich bin keine Ballettexpertin, viele der Namen sagten mir ehrlich gesagt vor der Lektüre nichts und dennoch hat mich diese Biografie wirklich berührt und sehr für sich eingenommen.
Ballettfans werden an dieser Biografie natürlich ebenso ihre Freude haben, wie Menschen, die sich für inspirierende und bewegende Lebensgeschichten begeistern.

Ein lebensbejahendes Buch voller Sonne und Herzenswärme – das liebenswerte Lebensportrait einer wunderbaren Künstlerpersönlichkeit und eines außergewöhnlichen Menschen. So hat man am Ende der Lektüre Sonne im Herzen – auch wenn es draußen grau und verregnet ist – und das Gefühl, einen besonderen Menschen kennengelernt zu haben.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kröner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Susanne Wiedmann, Cranko, Haydée – und ich, George Bailey
Kröner
ISBN: 978-3-520-75801-9

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Susanne Wiedmann’s „Cranko, Haydée – und ich, George Bailey“:

Für den Gaumen:
George Bailey sorgte sich auch stets um das leibliche Wohl der ChoreographInnen, Tänzer und Tänzerinnen und verwöhnte sie mit Nervennahrung und Stärkung in Form von Süßigkeiten oder Petits fours.

Zum Weiterhören (I) oder Weiterschauen:
George Bailey erhielt als Botschafter von Neapel eine aktive Rolle in der Stuttgarter Inszenierung von Tschaikowski’s Ballett „Schwanensee“ – ein Part auf der Bühne, den er 25 Jahre lang verkörperte und mit seiner besonderen Aura ausfüllte.

Zum Weiterhören (II):
Bei seinen legendären Stuttgarter „George’s Christmas Parties“ – leider konnte ich keine Aufnahme von George Bailey im Netz finden – spielte er gemeinsam mit Musikerfreunden auch Negro Spirituals und Gospels, zum Beispiel „This Little Light of Mine“, „Wade in the water“ oder den Evergreen „Ol’Man River“ aus dem Musical Show Boat.

6 Kommentare zu „Sunshine in Stuttgart

  1. Danke, liebe Barbara! Mit dieser Buchempfehlung hast du genau meinen Nerv getroffen, mich an meine Ballettzeit und an unseren Korrepetitor erinnert, jetzt grübele ich die ganze Zeit nach seinem Namen. Er und die Dame vom Fundus, sie spielten beide nicht die Hauptrolle, waren aber die guten Seelen des Kindertanzensembles. Das Buch kommt ins Körbchen! Einen schönen Abend wünscht dir Anke

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    1. Liebe Anke! Schön, das freut mich sehr. Ich bin mir sicher, Du wirst es lieben. Mir ist George Bailey – ohne dass ich ihn vorher kannte und ohne Ballettvorgeschichte – während der Lektüre sehr ans Herz gewachsen. Dir auch einen schönen Abend und morgen einen guten Start in die Woche! Liebe Grüße, Barbara

      Gefällt 1 Person

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