„Einsteigen – Türen schließen – Vorsicht bei der Abfahrt!“
Josephine Tey (1896 – 1952) nimmt uns in „Der letzte Zug nach Schottland“ mit auf eine raffinierte Krimireise, die sich auch über siebzig Jahre nach Erscheinen herrlich kurzweilig und spannend liest und große Lust auf weitere Krimi-Wiederentdeckungen der im schottischen Inverness geborenen Autorin macht.
Der Kriminalroman, der im Todesjahr der Autorin 1952 erschien, heißt im Original „The Singing Sands“, der singende Sand, der im Buch in einem geheimnisvollen Gedicht auftaucht, das eine wesentliche Fährte für Inspector Alan Grants Ermittlungen darstellt. Eigentlich wollte der traumatisierte und von Angstströmungen geplagte Ermittler eine erholsame Auszeit vom Stress bei Scotland Yard im schönen Schottland nehmen, doch schon auf seiner Zugreise in die Highlands wird er unfreiwillig mit einer Leiche im benachbarten Zugabteil konfrontiert.
Und obwohl diese sich ganz klar außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs befindet, kann er nicht aus seiner Polizistenhaut und das Verbrechen lässt ihn nicht los, so dass er schließlich während seines Urlaubs privat zu ermitteln beginnt.
„Tiere, die reden,
(S.5)
Ströme im Stand,
Steine, die wandeln,
Der singende Sand …“
Denn was soll ihm das mysteriöse Gedicht sagen, das auf einer Zeitung im Zugabteil des Toten notiert wurde? Führt es ihn zum Mörder des Mannes?
Auf jeden Fall führt es ihn auf eine abgelegene und einsame Hebrideninsel, wo er auf so manch schrulligen Bewohner und dunkle Geheimnisse stößt.
„Endlose Meilen von reinem weißen Sand, davor die glitzernde See. Wenn man darauf trat, „sang“ der Sand, auch wenn er persönlich „quietschen“ für eine angemessenere Bezeichnung hielte. Andererseits wurde an jedem Tag, an dem ein gleichmäßiger Wind herrschte – und solche Tage waren auf den Inseln nicht gerade selten – , die feine, beinahe unsichtbare oberste Sandschicht die weiten Strände entlanggeweht, und dieser Sand „sang“ dann tatsächlich.“
(S.103)
Schnell wird klar, dass der Regenerationsurlaub vollkommen anders verlaufen wird, als zunächst geplant und doch erfährt er durch die freundliche Aufnahme im Haus alter Freunde und die ungeplante Konfrontation mit seinen Ängsten auf unverhoffte Weise Genesung und Heilung.
„Grant griff Mr Talliskers Worte von den unterschiedlichen Vorstellungen vom Paradies auf und erzählte ihnen, die Gälen seien das einzige Volk, das sich den Himmel als ein Land ewiger Jugend vorstellte; und das sei ein liebenswerter Zug.“
(S.106)
Josephine Tey hatte ein feines Auge und eine großartige Gabe, glaubwürdige Charaktere zu schaffen, sowie sich vor allem interessante und außergewöhnliche Schauplätze oder Themen für ihre Kriminalromane auszuwählen. Vom singenden Sand auf den schottischen Hebrideninseln hatte ich – ehrlich gestanden – vorher noch nie gehört, doch sie beschreibt die außergewöhnliche Landschaft und die Bewohner so plastisch und treffend, dass man sofort Lust auf eine Reise nach Schottland bekommt, um all das mit eigenen Augen zu sehen.
„Pater Heslops eigener Theorie zufolge waren die meisten, die auf die Inseln kamen, Menschen, die, ohne es zu wissen, vor dem Leben davonliefen und die auf den Inseln genau das fanden, was sich ihre Phantasie im Voraus ausgemalt hatte. In ihren Augen waren die Inseln tatsächlich schön.“
(S.124/125)
Ich habe es sehr genossen, mir den stürmischen Wind um die Nase wehen und mich in diesen heißen Julitagen literarisch nach Schottland entführen zu lassen. Denn Josephine Tey hat einen wirklich atmosphärisch-dichten Krimi geschaffen, der sich herrlich flüssig und süffig mit großer Spannung lesen lässt.
„Alles, was an diesem Tage sang, waren der Wind und der Atlantik. Zusammen klang es wie ein wagnerianischer Tumult, der einen beinahe ebenso körperlich packte wie der Sturm und die Gischt. Die ganze Welt bestand aus einem einzigen wahnsinnigen Tosen aus Graugrün und Weiß und wildem Lärm.“
(S.127/128)
Tey, die wie ihre berühmte Zeitgenossin Agatha Christie auch Theaterstücke verfasste, schrieb kluge und innovative Kriminalromane, die mich auch heute so viele Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen, noch durch ihre Unkonventionalität beeindrucken und buchstäblich von den Beinen holen.
Die erfolgreiche schottische Krimiautorin Val McDermid hat ein sehr schönes, wertschätzendes Nachwort für die neue Ausgabe verfasst, das die Faszination und das Besondere an Teys Krimis auf wunderbare Weise zusammenfasst und klar macht, dass Josephine Tey auch heute noch als Wegbereiterin für viele weibliche Krimischriftstellerinnen zu sehen ist. Und ihrer treffenden Schlussbemerkung kann ich mich nur von ganzem Herzen anschließen:
„Sollte dies Ihre erste Begegnung mit Josephine Tey sein, dann garantiere ich Ihnen, es wird nicht Ihre letzte sein.“
(Val McDermid im Nachwort zu „Der letzte Zug nach Schottland“, S.327)
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Oktopus (Kampa) Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Josephine Tey, Der letzte Zug nach Schottland
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Oktopus
ISBN: 978-3-311-30032-8
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Josephine Teys „Der letzte Zug nach Schottland“:
Für den Gaumen (I):
Kulinarisch geht es natürlich wieder mal „very british“ zu – soll heißen, ohne Teatime geht da selbstverständlich gar nichts:
„Pat hatte inzwischen vier Scones und ein Stück Kuchen verschlungen, mit der Schnelligkeit eines Schäferhunds, der einen gestohlenen Leckerbissen schluckt.“
(S.59)
Im Juli gab es auf Ninas Blog „Wippsteerts“ ein schönes Rezept für Scones, das ich zu gerne einmal selbst ausprobieren möchte.
Für den Gaumen (II):
Mir bisher vollkommen unbekannt waren Sleeshacks:
„Sleeshacks bestanden aus Kartoffelpüree, das in Scheiben gebraten wurde, und sie trugen sehr dazu bei, die kalten Fleischreste vom Mittagessen genießbar zu machen (…)“
(S.129)
Zum Weiterklicken:
Wer sich für das Phänomen des singenden Sandes interessiert: Es gibt hierzu einen Artikel auf der Website der Zeitschrift Spektrum aus dem Jahr 1998, der sich wissenschaftlich damit befasst – jedoch damals auch noch nicht alle offene Fragen diesbezüglich klären konnte.
Zum Weiterlesen (I):
Ich finde es ja immer interessant, Bücher auch im Kontext zu ihrer zeitlichen Entstehung zu sehen und zu lesen (daher auch mein Zeitstrahl hier auf der Kulturbowle, der die vorgestellten Bücher nach Erscheinungsjahr auflistet). Josephine Teys „The Singing Sands“ erschien 1952 – ein gutes Jahr für Krimischriftstellerinnen, denn es ist auch das Jahr, in dem auch Agatha Christie u.a. zwei ihrer bis heute bekannten Werke veröffentlichte: „Mrs McGinty’s Dead“ (Vier Frauen und ein Mord) und „They Do It with Mirrors“ (Fata Morgana). Zudem ist 1952 auch das Jahr der Uraufführung von Agatha Christies Theaterstück „The mouse trap“ (Die Mausefalle), das am längsten ununterbrochen aufgeführte Theaterstück der Welt.
Agatha Christie, Vier Frauen und ein Mord
Aus dem Englischen von George S. Martin
Atlantik
ISBN: 978-3-455-00563-9
Agatha Christie, Fata Morgana
Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein
Atlantik
ISBN: 978-3-455-65055-6
Zum Weiterlesen (II):
Je mehr ich von Josephine Tey lese, um so mehr wird klar, dass ich mittlerweile wirklich zu einer begeisterten Anhängerin der Autorin geworden bin: Schon „Nur der Mond war Zeuge“ und „Alibi für einen König“, die ich beide hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe, haben mich nachhaltig fasziniert.
Zudem überrascht mich die Autorin mit der Vielseitigkeit ihrer Themen und Settings immer wieder aufs Neue – somit hoffe ich sehr, dass Kampa/Oktopus diese schöne Reihe der Wiederentdeckungen ihrer Werke weiter fortsetzt.
Josephine Tey, Nur der Mond war Zeuge
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Kampa
ISBN: 978 3 311 30025 0
Josephine Tey, Alibi für einen König
Aus dem Englischen von Maria Wolff
Oktopus bei Kampa
SBN: 978-3-311-30035-9
Ich freue mich über deine Lesebesprechungen immer. Dieses Mal gab es den singenden Sand! Wie toll. Diese Reise auf die Inseln scheint sehr viel Spaß gemacht zu haben. Ich bin ja eigentlich kein Krimileser, außer früher mal Dick Francis oder so (?), den ich auch mochte (Pferdewetten, ich erinnere mich kaum). Ich merke mir mal den singenden Sand vor, auch mochte ich das Gedicht. Ich mag solche kleinen bescheidenen Reime. Sie rühren mich! Viele Grüße und einen schönen Sonntag!
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Danke, Alexander. Ich lese zwischendurch gerne auch mal Krimis, bevorzugt auch klassische Kriminalromane (Thriller sind dagegen nicht so meins) und habe mittlerweile großen Gefallen an der Wiederentdeckung älterer Krimiperlen (vom Verlag auch als Vintage-Krimi bezeichnet) gefunden. Josephine Tey ist da für mich wirklich etwas Besonderes – und irgendwie habe ich auch wieder Lust bekommen, wieder mal einen Agatha Christie-Krimi zur Hand zu nehmen… als spannend-entspannende Unterhaltung mag ich das ab und zu auch sehr gerne. Herzliche Sonntagsgrüße aus dem verregnet-sonnigen (also bestes Lesewetter) Süden! Barbara
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Ja, stimmt. Agatha Christie – die wollte ich auch endlich mal auszugsweise lesen! Ich habe nur Gutes gehört! Hier regnet es auch, aber das Lesen macht Spaß!
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Bei uns wechseln sich Sonne und Regenschauer heute immer wieder ab… also perfekt, um mit gutem Gewissen und gutem Buch auf der Couch zu sitzen, zu lesen und das Wetterspektakel draußen an sich vorbeiziehen zu lassen. Und Agatha Christie ist definitv mal einen Lektüre-Ausflug wert!
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Tolle Rezi! Und weckt Erinnerungen an die Jacobite Steam Train und 14 Zecken an nur einem Tag beim Strolchen durch die Hügelwiesen von Glenfinnan beim Hochkraxeln auf den Viadukt. Danke!
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Oh je, da war der Ausblick auf den „Harry Potter“-Zug ja teuer erkauft…
Ich hoffe aber doch, dass die positiven Erinnerungen überwiegen.
Die Lektüre von Josephine Teys Krimi ist übrigens garantiert zeckenfrei…
Herzliche Grüße und einen schönen Sonntagabend!
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Das sollte ich mir wohl unbedingt als Reiselektüre für die Schottland-Tour im September einpacken – da werden wir auch viel Zug fahren 🙂 Liebe Grüße, Sabine
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Ja, das könnte dann wirklich gut passen und liest sich auch wirklich süffig und schnell.
Ich bin schon gespannt, was Du dann noch alles einpackst – so bezüglich „Scotland by the Book“… – ich mag diese Serie von Dir sehr… und bin ein klein wenig neidisch 😉 – Schottland im September klingt großartig und vielversprechend… da wünsche ich jetzt schon mal gute Reise und viel Vergnügen, auch wenn jetzt wohl erst noch ein wenig Vorfreude angesagt ist. Liebe Grüße zurück, Barbara
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