Krimiperle neu entdeckt

Gute Krimis können große Lesefreude bereiten und wenn man einen richtig guten Kriminalroman einer bislang unbekannten Autorin für sich entdecken kann, dann ist das pures Lesevergnügen. So passiert ist mir dies mit Josephine Tey’s „Nur der Mond war Zeuge“ (Originaltitel: The Franchise Affair) aus dem Jahr 1948, der beweist, welche hohe Güte sich Krimiklassiker über viele Jahrzehnte bewahren können ohne etwas von ihrem Reiz einzubüßen.

Milford ist ein ruhiges Provinzstädtchen auf dem englischen Land. Robert Blair führt dort als Anwalt ein friedliches Leben ohne große Aufregungen, bis eines Tages kurz vor Feierabend sein Telefon läutet. Marion Sharpe, die vor kurzem mit ihrer Mutter ein einsam gelegenes Anwesen in der Nähe bezogen hat, bittet aufgeregt um seine Hilfe. Scotland Yard ist im Haus und beschuldigt sie eines unerhörten Verbrechens. Ein 15-jähriges, ihnen völlig unbekanntes Mädchen behauptet, die beiden Damen hätten sie entführt, in einer Dachkammer ihres Hauses gegen ihren Willen einen Monat lang festgehalten und körperlich misshandelt.
Ein Vorwurf, der leicht zu entkräften wäre, könnte das Mädchen nicht jedes Detail im Inneren des Hauses exakt beschreiben. Wie kann das sein?

Schnell steht Aussage gegen Aussage, die Presse bekommt von der Sache Wind, eine Hexenjagd auf die Sharpes beginnt und Robert Blair, der das Mandat zunächst am liebsten abgelehnt hätte, muss plötzlich in einem mysteriösen und undurchsichtigen Fall selbst ermitteln, um die Unschuld seiner Mandantinnen zu beweisen.

„Das ist das erste Mal, dass Sie bitter klingen.“
„Klang es bitter?“
„Der reine Angostura.“

(S.88)

Ich mag die Figurenzeichnung von Josephine Tey: der schnöselige, leicht überspannte Cousin Nevil mit seinem für die britische Provinz ungewohnten Kleidungsgeschmack, die patente, lebenstüchtige und gottesfürchtige Tante Lin, die voller Überzeugung die Probleme ihres Neffen durch Gebete in der Dorfkirche zu lösen versucht. Auch Mutter und Tochter Sharpe sind in ihrem zurückgezogenen, eigenbrötlerischen Frauenhaushalt sehr plastische Charaktere – ausgestattet mit einer ordentlichen Prise Zynismus im Falle der Mutter und einer attraktiven Ausstrahlung der Tochter, welcher die Männer reihenweise zu erliegen scheinen.

Und natürlich – last but not least – die Hauptfigur Robert Blair dessen gleichförmiges, geruhsames und unspektakuläres Anwaltsleben, das bislang geprägt war von unaufgeregten Schreibtischtätigkeiten und regelmäßigen Testamentsänderungen älterer Damen, plötzlich durch einen Anruf und den Hilferuf einer verzweifelten Frau völlig aus den Fugen gerät. Ein sehr menschlicher und sympathischer Held, den man dabei begleiten kann, wie er über sich hinauswächst, auf einmal völlig neue Seiten an sich selbst entdeckt und das Leben intensiver spürt als jemals zuvor.

Auf gewisse Weise very British – so lernt man zum Beispiel, dass Tweed nicht gleich Tweed ist oder welche Spuren die englische Geschichte in den Baustilen der Häuser hinterlassen hat – hat Josephine Tey einen subtilen, spannenden Krimi geschrieben, der vor allem Krimifans gefallen wird, die einen klugen Romanaufbau und eine überraschende Wendung einer blutrünstigen, effekthascherischen Handlung vorziehen.

Beim Lesen vergisst man nicht nur die Zeit um sich herum, denn der Krimi liest sich herrlich flüssig wirklich wie im Flug, sondern auch, dass der Roman aus dem Jahr 1948 schon weit über 70 Jahre auf dem Buckel hat. Ein klassischer, raffinierter Krimi, der auch heute noch begeistern kann. Eine zeitlose Krimiperle und für mich wirklich eine wunderbare Entdeckung, zumal ich die Autorin vorher noch nicht kannte. Mit mir hat sie nun eine weitere begeisterte Leserin mehr und ich freue mich schon auf weitere Krimis aus ihrer Feder.

Ein Krimi ohne Leiche, dafür mit einer großen Portion Charme und Esprit, mit pointiertem Witz und feinem, britischen Humor, der für gepflegte und kurzweilige Unterhaltung sorgt. Da kann man jeden Fernsehkrimi getrost links liegen lassen und lieber zu diesem Buch greifen.

Die in Schottland geborene Josephine Tey (Pseudonym für Elizabeth MacKintosh; 1896 – 1952) verstarb bereits im Alter von nur 55 Jahren. Ihren Fans hat sie acht Kriminalromane hinterlassen. Und obwohl sie – ähnlich wie Agatha Christie – auch fürs Theater schrieb (hier unter dem Namen Gordon Daviot), sind es auch bei ihr die Krimis, für die sie der Nachwelt besonders im Gedächtnis geblieben ist.

Mit Freude habe ich dem Klappentext entnommen, dass der wohl bekannteste Krimi von Josephine Tey „Alibi für einen König“ (Originaltitel: „The Daughter of Time“) beim Kampa Verlag auch in Vorbereitung ist. Dieser wurde von der englischen „Crime Writer’s Association“ zum besten Kriminalroman aller Zeiten gewählt – das ist doch noch ein weiterer guter Grund dafür, diesen bei Erscheinen ebenfalls zu lesen.

Mit Josephine Tey’s „Nur der Mond war Zeuge“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 22 für 2022erfüllt – Punkt Nummer 18) auf der Liste: Ich möchte ein Buch, einer für mich neuen Autorin lesen. Eine wunderbare Neuentdeckung für mich und es wird sicherlich nicht das letzte Buch von Josephine Tey gewesen sein, das ich gelesen habe.

Eine weitere Besprechung gibt es bei Andreas Kueck’s Leselust.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kampa Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Josephine Tey, Nur der Mond war Zeuge
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Kampa
ISBN: 978 3 311 30025 0

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Josephine Tey’s „Nur der Mond war Zeuge“:

Für den Gaumen:
Mutter und Tochter Sharpe haben eine besondere Vorliebe für guten Sherry.
Der Amontillado – benannt nach der spanischen Region Montilla in Andalusien, den sie ihren Gästen servieren, scheint wahrlich exquisit zu sein.

„Wir sind zwar sparsam, aber wir sparen nicht am Wein“ (S.62)

(S.62)

Dagegen wirkt der Butterkuchen, für den Robert seinem Hausmädchen „bis ans Ende der Welt folgen“ (S.70) würde, geradezu einfach und bodenständig.

Zum Weiterschauen:
Alfred Hitchcock verfilmte bereits 1937 einen Stoff von Josephine Tey. Sein Film „Jung und unschuldig“ („Young and innocent“) basiert auf Tey’s Kriminalroman „A Shilling for Candles“ (auf deutsch als „Klippen des Todes“ erschienen). Gesehen habe ich diesen Hitchcock noch nicht, aber ich werde mal die Augen danach offen halten.

Zum Weiterlesen:
Wer Gefallen an Krimiwiederentdeckungen aus Großbritannien hat, dem kann ich auch Susan Hill’s „Schattenrisse“ empfehlen, den ich letztes Jahr hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe. Der Auftakt der Serie mit Inspector Serrailler ist ebenso lesenswert und macht einmal mehr klar, wie viele erstklassige Krimiautorinnen die britische Insel zu bieten hat.

Susan Hill, Schattenrisse
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle
Kampa
ISBN: 978 3 311 12018 6

7 Kommentare zu „Krimiperle neu entdeckt

    1. 🙂 Ja, ein richtig schöner, klassischer Krimi aus Großbritannien – und der Beweis, dass sogar ein Krimi ohne Leiche (es passiert tatsächlich kein Mord!) spannend sein kann. Mir hat er sehr gut gefallen. Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende!

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  1. Ich kenne tatsächlich Josephine Teys ‚The Daughter of Time‘ und fand das Buch sehr kurzweilig, von daher würde ich es definitiv weiterempfehlen und freue mich, dass scheinbar auch andere Teile der Reihe gut lesbar sind. Nur für meine Buch-Wunschliste ist das gar nicht gut *lol*

    Gefällt 1 Person

    1. Schön, wenn ich eine Anregung für die Buch-Wunschliste geben konnte. Für mich ist der nächste Band auch schon sicher auf meiner Wunschliste gelandet, aber um so schöner zu lesen, dass er auch aus Deiner Sicht lesenswert ist. Herzliche Grüße!

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