Hinter der Fassade

Cleopatra und Frankenstein“ – gemeint sind nicht die von Shakespeare beschriebene ägyptische Königin und Mary Shelleys Monster, sondern es sind die verlängerten Spitznamen von Cleo und Frank – dem neuen, literarischen Paar aus Coco Mellors in UK bereits sehr erfolgreichen Debütroman, der nun auch in deutscher Übersetzung von Lisa Kögeböhn erschienen ist.

Das Buch beginnt rasant und mit hohem Tempo: Cleo und Frank treffen sich in einem Aufzug einer New Yorker Partylocation und verlieben sich sofort ineinander. Ein lebhafter Dialog bzw. ein verbaler Schlagabtausch auf Augenhöhe und schon ist es um die beiden geschehen – trotz eines erheblichen Alters- und Standesunterschieds. Cleo, Anfang Zwanzig und weitgehend mittellose Kunststudentin aus Großbritannien, deren Visum bald ausläuft, und Frank, der Über-Vierzigjährige, erfolgreiche Self-made-Man und Inhaber einer florierenden Werbeagentur: Gegensätze ziehen sich an und die Geschwindigkeit bleibt hoch. Schon im zweiten Kapitel wird geheiratet. Hochzeitsglocken, Champagner in Strömen, ein glückliches, schönes Traumpaar, das doch auch das nähere Umfeld, Bekannte, Freunde und Familie verwundert die Augen reiben lässt.

Die Grenze zwischen der vielbeschworenen „Liebe auf dem ersten Blick“ und der verhängnisvollen „amour fou“ verschwimmt schnell. Wer hoch fliegt, kann tief fallen.

„Bei Menschen ist das genauso, weißt du?“, sagt er schließlich.
„Wir zerbrechen. Und setzen uns wieder zusammen. Die Risse sind das Beste an uns. Du musst sie nicht verstecken.“

(S.453)

Persönlich bin ich durch Klappentext und Vorankündigung wohl ein wenig in die Erwartungsfalle getappt, denn ich hatte mir gewisse Aspekte des Romans anders oder noch stärker ausgeprägt vorgestellt, z.B. das Bohémienhafte oder New York als Schauplatz.

Vielmehr habe ich das Buch dann jedoch bald vielmehr als sehr eindringliche, intime und schmerzhafte Studie der Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit einer – mir weitgehend fremden – Gesellschaftsschicht gelesen. Der Blick hinter die Kulissen von Parties, Show, vermeintlichem Glanz und Glamour, der einem Tanz auf der Rasierklinge gleicht und die Beteiligten allzu schnell in Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie psychische Probleme abgleiten lässt. Und als Roman einer schicksalshaften, ungleichen Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen, die letztlich unter anderem auch an den Unterschieden zerbricht, da die Kraft des berühmten „Gegensätze ziehen sich an“ am Ende doch nicht ausreicht, um sie dauerhaft glücken zu lassen.

Das Buch ist facettenreich und ich bin überzeugt, dass jede Generation oder Altersgruppe der Leserschaft andere thematische Schwerpunkte oder emotionale Aspekte bei der Lektüre im Fokus haben wird, so dass es durchaus auch kontrovers diskutiert und mit völlig anderen Augen gelesen werden kann.

„Bist du Buddhist oder so?“
„Nein. Nur älter als du. Ich habe schon ein paar Lektionen gelernt.“
„Wie alt bist du denn?“
„Achtunddreißig.“
„Okay“, sagte Zoe nachdenklich. „Das ist wirklich alt.“

(S.393)

Coco Mellors, die selbst in London und New York aufgewachsen ist, hat mit „Cleopatra und Frankenstein“ einen Debütroman vorgelegt, dem aus Großbritannien als Beststeller ein Ruf wie Donnerhall vorausschallt. Und auch die Rechte für die Verfilmung als Serie sind schon verkauft – ein Stoff, der sicher für den Big Screen oder die Leinwand gemacht und geeignet ist.

„Ich verstehe sowieso nicht, warum so ein Gewese ums Glück gemacht wird“, sagte sie. „Glück ist wie das Hollywoodschild. Groß, unerreichbar, und wenn man es doch bis nach oben schafft, muss man früher oder später sowieso wieder runter.“

(S.223)

Hinter der Fassade, im Schatten von Glanz und Glamour, ist „Cleopatra und Frankenstein“ jedoch vor allem ein Buch über zwei Menschen, die sich anziehen und letztlich aneinander verbrennen wie Motten im Licht. Mellors schreibt über Zwei, die sich trotz stürmischer Liebe nicht gut tun und thematisiert im Roman psychische Erkrankung, Depression, Sucht, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit.

Die Autorin hat ein intensives, emotionales Debüt mit Wucht und einem dicken Pinselstrich – ähnlich dem expressiven Umschlagmotiv von Gill Button – verfasst, das wie die traurig anmutende Frau auf dem Cover, tief in menschliche Seelen blicken lässt und durch Mark und Bein geht. Es ist ein schonungsloses, entlarvendes und in meinen Augen jedoch tieftrauriges Buch – nichts für zartbesaitete oder labile Menschen, da für mich bei der Lektüre die düsteren Aspekte und tiefen Abgründe zweifelsohne überwogen. Ein Roman über bröckelnde Fassaden oder gleißendes Licht, das blendet, verglüht, verglimmt und schließlich zu langen, dunklen Schatten führt, die es wieder hinter sich zu lassen gilt.

„Wenn deine dunkelste Seite auf meine dunkelste Seite trifft, entsteht Licht.“

(S.57)

Weitere Besprechungen findet man unter anderem bei Bookster HRO und auf Buchperlenblog.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eichborn Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Coco Mellors, Cleopatra und Frankenstein
Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0144-0

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Coco Mellors „Cleopatra und Frankenstein“:

Für den Gaumen:
Auf der Hochzeitsfeier von Cleo und Frank gibt es ein üppiges Nachspeisenbuffet:

„Neben dem Turm aus Profiteroles standen Silberplatten voller Erdbeeren mit weißer Schokolade und rotgoldenen Rainier-Kirschen, Schüsseln mit Schlagsahne und warmer Dulce de Leche, rosa kandierte Mandeln und ein Kistchen mit Schokoladenzigarren.“

(S.48)

Zum Weiterschauen und Weiterklicken:
Auf einer gemeinsamen Reise nach Frankreich, besichtigt Cleo die Matisse-Kapelle in Vence, d.h. genau genommen die „Chapelle du Rosaire à Vence“ (auf der Website der Kirche erhält man einen ersten visuellen Eindruck):

„Von außen wirkte sie so schlicht wie ein Zuckerwürfel. Drinnen hatte man das Gefühl, ins Innere eines Edelsteins getreten zu sein. Buntglasfenster tupften farbige Lichtspritzer auf die weißen Wände. Für die Fenster hatte Matisse nur drei Farben verwendet: grün für die Pflanzen, gelb für die Sonne und blau für Himmel, Meer und die Madonna.“

(S.161)

Zum Weiterlesen:
Bei der Lektüre von „Cleopatra und Frankenstein“ fühlte ich mich immer wieder – vermutlich aufgrund des amerikanischen Settings, des Fokus auf einer zwischenmenschlichen Beziehung und der Dramatik – an eine Lektüre aus dem Frühjahr diesen Jahres erinnert: Gabrielle Zevins „Morgen, morgen und wieder morgen“, das allerdings in der Gamer-Szene und vor allem in Harvard und Los Angeles spielt.

Gabrielle Zevin, Morgen, morgen und wieder morgen
Aus dem amerikanischen Englisch von Sonia Bonné
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0129-7

4 Kommentare zu „Hinter der Fassade

    1. Hallo Alexander!
      Für mich persönlich waren diese beiden Bücher eher Ausflüge jenseits meiner gewohnten, persönlichen Komfortzone bzw. üblichen Leseinteressen (bzgl. Thema, Milieu, zeitgeschichtlichem Hintergrund, Schauplatz etc.) – vermutlich habe ich daher die Parallelen gezogen. In meinen Augen habe ich im direkten Vergleich Zevins Buch als etwas stärker empfunden. Bei beiden habe ich jedoch meine gewohnten, häufig eingeschlagenen Lesepfade verlassen, kehre jetzt aber auch wieder gerne zu Anderem zurück.
      Viele Grüße und auch Dir eine gute Woche! Barbara

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